Читать книгу Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen - Hans von Trotha - Страница 12

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Wien. Es wird in Wien gewesen sein. Vielleicht war es aber auch im Gebirge, wo der Fürst eine Jagd und eine Villa genannte Sommerresidenz unterhielt. Die Vorstellung, dass das Gespräch hier stattgefunden hat, ist natürlich viel schöner. Hier mischt sich die Gegend schamlos in die Stimmung, an klaren ruhigen Sommersonntagen zum Beispiel oder während der Gewitter, wenn es im Felstal nur so kracht und donnert und die von allen Seiten eingesperrten Blitze die steinernen Wände, den dunklen Wald, die satten Wiesen und den tiefen See in unwirklichen Farben grell aufleuchten lassen.

An so einem Tag scheint aber die Sonne. Und so könnte man sich vorstellen, wie die Haustür der Villa hastig aufgestoßen wird und eine düstere Gestalt eilig den Weg Richtung Totes Gebirge einschlägt. Seine Wut, wenn man es so nennen will, es war ja ein komplexer Zustand, konnte dann von den kahlen Bergwänden oberhalb der nahen Baumgrenze zurückprallen. Oder es war schon später, vielleicht einer der großen Abende, an denen die Alpen glühten, und die Weiße Wand leuchtete orange. Sie nannten diesen Berg hier auch den Elefanten, weil er einen großen runden Rücken machte, dessen rechter Abhang wie ein Halbkreis ausgeschnitten war, sodass man, wenn man wollte, den Ansatz eines sich hebenden Rüssels darin erkennen konnte. Aus der Ferne wirkte das zerklüftete graue Gestein wie altehrwürdig gerunzelte Elefantenhaut. Ein Krater markierte das Auge. Das vor allem machte den Berg den Menschen zum Tier und zähmte die ewige Steinwucht ein wenig. Die Weiße Wand im Toten Gebirge stand mächtig und mahnend am Ende des Tals, das Ende der Welt. Da tat ein bisschen Zähmung ganz gut.

Auf dem Rückweg, wenn es wieder besser war, im Wasser spiegelnde lieblich bewaldete Hügel auf der anderen Seeseite seiner Befindlichkeit eher entsprechen, ein kleiner Berg, der aussah, als sei er noch nicht ganz erwachsen, als habe er noch eine Geschichte vor sich. Genau gegenüber stand die Villa des Fürsten.

Wenn das Gespräch hier stattfand, dann bestimmt im Arbeitszimmer im Erdgeschoss, holzvertäfelt, mit Fenstern an zwei Seiten, aufs andere Seeufer hinaus an der Längsfront und an der Schmalseite über das Wasser hinweg auf das Tote Gebirge mit dem alles überragenden Elefanten. Aug in Aug mit dem mächtigen Felstier saß der Fürst an seinem Schreibtisch, wenn er auf dem Land war.

Zum fürstlichen Anwesen gehörten neben der Villa mehrere kleinere Häuser. Hier wurden Gäste und Personal untergebracht, und ans älteste und schönste von ihnen, ein kleiner Stöcklhof mit weißem Verputz und zur Wetterseite hin einer der für die Gegend typischen Holzverschalungen, war die Küche angebaut worden, ganze siebzig Meter von der Villa entfernt. Das hatte sich nicht anders einrichten lassen, außerdem bannte es die Feuergefahr für das Haupthaus und nicht zuletzt die Lärm- und Geruchsbelästigung, die in den Sommermonaten und dann noch einmal in der Jagdsaison von einer umtriebigen Küche ausgingen, die bis zu dreißig Personen zu versorgen hatte. Die einzelnen Gänge mussten im Laufschritt, eine silberne Haube hielt die Wärme auf jedem Teller, zur Villa hinübergetragen werden. Es war ein Schauspiel, wenn auf das Kommando des obersten Kochs hin sechs, acht oder gar zehn Burschen in grünen Wämsern über weißen Hemden mit jeweils zwei überwölbten Tellern die Straße hinaufrannten, ein eiliger Pulk silberner Kuppeln, der sich in der Auffahrt zu einer Schlange formierte, um dann wie eine Ameisenstraße in der Villa zu verschwinden. So kam es, dass beim Fürsten immer ein wenig atemlos serviert wurde. Wer es erlebt hatte, übertrieb gern. Und diejenigen, denen dieses Vergnügen versagt blieb, stellten es sich, wie das so ist, noch exaltierter vor.

Der Fürst war ein Gigant der Monarchie. Sein Name stand, wo er stand, wie in Fels gemeißelt. Und er hatte seine Persönlichkeit auf die Bedeutung seines Namens hin entwickelt. Dabei hielt er sein Gegenüber stets mit suggestivem Charme in Schach. Solange es Männer wie den Fürsten gab, war die Monarchie nicht in Gefahr. Umgekehrt konnte, solange es die Monarchie gab, den alten Familien nicht viel passieren. Es war ein stabiles Gleichgewicht, zusammengehalten von einem knorrigen Geflecht aus Traditionen, das sich, über Jahrhunderte gewuchert, seit Jahrzehnten um die würdig erstarrende Erscheinung des Kaisers rankte. Den Kaiser, diesen Kaiser, schien es immer schon gegeben zu haben und folglich immer zu geben. Das war die Verabredung. Und wer fragt nach der Zukunft, wenn sich die Gegenwart schon anfühlt wie Vergangenheit?

Der Kaiser liebte seine Völker, und er liebte seine Ruhe. Deswegen liebte er den Frieden. Er war das letzte Staatsoberhaupt, das weitgehend schriftlich regierte, mit seiner Signatur unter zahllosen Anweisungen und Dekreten, die nach Konsultation von Beratern ausgefertigt wurden. So kam der Anwesenheit bei Hofe eine besondere Bedeutung zu. Und der Hof war da, wo der Kaiser war. Im Sommer war das Ischl. Von dort war es nicht weit zum Landsitz des Fürsten Kinsky.

Im Hochsommer pilgerten vor allem Verwandte und Gäste der Fürstin sowie Freunde der Töchter und Söhne des Hauses an den See. Während der Jagdsaison lud der Fürst. Er liebte die Pirsch. Zur Jagd gehörte das Warten auf dem Hochsitz, aber auch die gemeinsame Suppe im Wald, die Soiree danach. Das war Eintauchen in die Natur, nicht enden wollendes Schweigen, dann das ausgelassene Feiern. Der Schuss war die Katharsis, die Lösung der so lang gehaltenen Spannung, die Soiree das Pendant, grelles Lachen nach der Einsamkeit in Erwartung der Kreatur, die es auszulöschen galt. Das war grausam, aber kultivierte Grausamkeit, Zivilisation, nichts Rohes. Wie der Krieg. Der war ja auch kein wildes Hauen und Stechen, sondern Technik und Kultur. So manch einer warnte, die Technik überwöge im Krieg immer mehr die Kultur, und der nächste große Krieg würde eine Katastrophe für die ganze Zivilisation werden. Es sei schon doll, hörte man den Fürsten sagen, was sich die Pazifisten immer so ausdachten, weil sie den Krieg halt nicht mochten. Und er lachte sein verächtlich amüsiertes Lachen, kaum hörbar, dabei punktgenau vernichtend. Aber wer dachte hier schon an Krieg. Auch wenn es immer eine Beklemmung auslöste, die sich niemand eingestand, wenn die Schüsse der Jäger und die zwischen den Felswänden hin- und hergeworfenen Echos vom Tal Besitz ergriffen, jedes Mal ein wenig länger als erwartet.

Die Berge schienen das Tal vor allem zu schützen, was die Idylle hätte beschädigen können. In rhythmischer Regelmäßigkeit brachte sich die Welt in Form von Telegrammen in Erinnerung. Sofern sie die Villa des Fürsten als Adresse hatten, wurden diese von Amtsleiter Plochl persönlich besorgt. Das hatte Gründe. Da war zum einen die Neugier. Was, wenn nicht die Urenergie der Neugier trieb einen zum Dienst in der Telegrafie, einem Dienst, in dem man die Zwiesprache zwischen Mensch und Mensch besorgen durfte. War das nicht der eigentliche humane Dienst, neben dem des Priesters und dem des Arztes vielleicht? Außerdem konnten Botschaften eintreffen, die höchster Geheimhaltung unterlagen. Und schließlich waren diese Telegramme eine Herausforderung für den Telegrafisten, da in ihnen durchweg die Spitznamen derer verwendet wurden, deren akutes Schicksal sie in Abbreviatur verhandelten. Warum konnten sich diese Karys, Maritschys, Krickis, Witzis, Bellis, Mappls und Babys nicht bei ihren Vornamen rufen wie andere Christenmenschen auch? Es war oft ein Vabanquespiel, aus Gehörtem, Gewusstem und Gefühltem etwas zusammenzusetzen, wenn wieder ein Name auf eine der aus feinsten Punkten zusammengesetzten Linien einzutragen war.

Was den Trägerinnen und Trägern dieser Namen widerfuhr, war stets dasselbe. Wurde nicht eine Ankunft avisiert, so wurde sich verlobt oder gestorben. Bin überglückliche Braut von Soundso, hieß es dann oder Soundso declarirte und sehr glückliche Braut von Soundso. Brief unterwegs. Oder auch nur Mit Soundso verlobt. Zu den Annoncen aus der Welt der Liebe oder doch zumindest der Ehe gesellten sich die Depeschen aus dem Reich des Todes. Mama heute friedlich entschlafen. Oder Unser armes Lotterl gestern abend einem Anfall ihrer Krankheit erlegen. Da ging der Postmeister Plochl dann immer ein bisschen langsamer den Berg zur Villa hinauf.

Die Villa also soll Schauplatz des Gesprächs gewesen sein. Der Kaiser war längst für die Saison nach Ischl übergesiedelt. Es waren ruhige, beschauliche Tage. Außer dem Fürsten und der Fürstin werden ein paar Nichten und Neffen im Haus gewesen sein, die das Schwimmen, Segeln, Tennisspielen genossen und ausgelassene Abende reihum bei den am See ansässigen befreundeten und meist auch verwandten Adelsfamilien verbrachten. Zu den ungeschriebenen Gesetzen an den Ufern des Sees gehörte, dass, was immer hier bis zum Ende des Sommers auch vorgefallen sein mochte, in Wien als nicht geschehen galt.

Und Marie war da, die Jüngste. Sie hatte in diesem Sommer geheiratet. Der neue Name hatte nicht ganz den erhabenen Klang ihres bisherigen, war aber auch einer der respektablen der Monarchie. Marie Kinsky, genannt Maritschy – mit Ypsilon, das wusste der Telegrafist –, hatte vor wenigen Wochen, am 1. Juli dieses Jahres 1897, den böhmischen Grafen Ottokar Czernin von und zu Chudenitz geehelicht, Kary, auch mit einem Ypsilon, es gab auch einen mit i.

Marie war nach kurzen Flitterwochen an den See gekommen. Ihr frisch angetrauter Gatte hatte in Wien Angelegenheiten zu erledigen. Er hatte immer wahnsinnig viele Angelegenheiten zu erledigen. Den jungen Grafen also muss man sich zunächst auf der Zugfahrt von Wien nach Ischl vorstellen und von da weiter in die Berge bis zu dem der Villa nächstgelegenen Ort mit Bahnanschluss, wo Marie ihn mit dem Wagen abholen würde. Von dort war es nicht weit, immer den Fluss entlang, seiner Quelle entgegen.

Marie Kinsky war eine der besten Partien der Monarchie gewesen. Schön, reich, noch keine zwanzig, feinster Herkunft, intelligent, bescheiden und von einnehmendem Wesen. Jetzt war sie seine Frau. Er liebte sie tatsächlich, fühlte sich bei ihr auch körperlich überraschend geborgen. Und sie schien ihn ebenfalls zu lieben, auf ihre zurückhaltende Weise, die er nie wirklich ergründen sollte. Dazu war er zu impulsiv und zu schnell, zu grob vielleicht auch, zu eitel und zu sehr mit sich beschäftigt, am Ende auf jeden Fall zu ungeduldig. Das waren die Czernins immer schon gewesen.

Zugfahrten mochte er nicht. Sie dauerten zu lang. Immer wieder stand er auf, lief hin und her, soweit es die Bauweise der Ersten Klasse zuließ, ein nur notdürftig gezähmtes Tier in einem zu kleinen Käfig. Er rauchte viel und inhalierte tief. Wie der Süchtige süchtig ist und von seinem Gehirn wieder und wieder zum Gegenstand seiner Sucht zurückgetrieben wird, so ist der Ungeduldige ungeduldig, am meisten mit sich selbst.

Marie stand, wie verabredet, am Bahnsteig. Sie trug das Dirndl der Region, grünes Mieder, rosa Rock, veilchenfarbene Schürze. Es war das erste Mal, dass er sie als seine Frau wiedersah. Er war überrascht von ihrer Schönheit. Der Himmel war die ganze Zeit über tiefblau gewesen. Jetzt kündigten kleine Wolken ein aufziehendes Unwetter an. Das junge Paar, das sich da auf dem Perron umarmte, nahm davon keine Notiz. Er gab ihr einen Kuss auf die Lippen, wobei er seinen Hut mit der rechten Hand als Sichtschutz gegen ungebetenes Publikum vor die sich berührenden Münder hielt. Marie hakte sich unter. So gingen sie zum Bahnhofsgebäude hinüber, an dessen Straßenseite der Kinsky’sche Einspänner wartete. Ein livrierter Gepäckträger brachte den Koffer hinterher. Czernin selbst trug lediglich eine elegante Tasche aus edlem rotbraunem Leder unterm Arm. Es war eine besonders schöne Aktentasche, glatt und fein, in einem ungewöhnlichen, leicht länglichen Format. Marie hatte sie ihm zur Hochzeit geschenkt. Der Sattler hatte sich besondere Mühe gegeben mit all den offensichtlichen und auch einigen weniger offensichtlichen Fächern. Zu ihrer großen Freude hatte er die Tasche sofort adoptiert. Selbst wenn sie leer gewesen wäre, hätte sie ihm gut gestanden. Und man sah deutlicher, als ihm lieb sein konnte, wie wichtig ihm das war.

Czernin begrüßte Werner kurz, den Kutscher, einen jungen Burschen, der sich um den Fuhrpark, die Pferde und die Boote der Kinskys kümmerte. Czernin mochte ihn. Er war gradheraus, nicht unterwürfig, und kutschierte immer ein bisschen verwegen.

»Papa freut sich auf dich«, sagte Marie, als der Wagen mit einem Ruck anfuhr. »Er meint, er habe dir etwas Wichtiges zu sagen.« Nach einer kurzen Pause, in der er sie ratlos angesehen hatte, fügte sie hinzu: »Etwas, was dich freuen wird.«

Im Verhältnis zwischen ihrem Vater und ihrem Gatten musste Marie gelegentlich mäßigend auf beide einwirken, auf den bisweilen vulkanisch grummelnden Giganten ebenso wie auf den hochfahrenden, nervösen jungen Mann, dessen Stimmungseinbrüche schon begannen, legendär zu werden.

»Was mag das sein?«, fragte er. »Hat er irgendetwas gesagt?«

Sein Leben lang sollte er sich nach diesen wenigen Kilometern sehnen. Das kurze Stück bewegter Freiheit gewährte ihm eine Spur der Erfahrung von Ruhe. Er schloss die Augen, als sie den Ort am Friedhof vorbei verließen. Dann ging es flussaufwärts durch feuchten Mischwald, bis unvermittelt das Tal vor ihnen lag, darin der See. Mit diesem Blick öffneten sich die Herzen, selbst das von Czernin, jedes Mal weit.

Die Wellen stießen hektisch aneinander, trugen sogar kleine Schaumkronen. Wind strich böig durchs Tal. Wolken hängten sich vor einen weißlichen Himmel. Die Sonne, bereits schwächer geworden in der vorgerückten Nachmittagsstunde, bekam etwas Gleißendes. Czernin überlegte, was der Alte von ihm wollen könnte. Er hatte sich vorgenommen, mit dem Fürsten über seine Zukunft zu sprechen. Er hatte seinem Schwiegervater gegenüber schon einmal angedeutet, dass er in den diplomatischen Dienst gehen wollte. Davon abbringen lassen würde er sich nicht. Es war nicht Art der Czernins, sich von etwas abbringen zu lassen. Und er brachte mit, was man für die Diplomatie benötigte, sah man von Geduld und Selbstbeherrschung einmal ab, aber das waren in seinen Augen allenfalls diplomatische Tugenden zweiter Klasse.

»Na, mein Lieber, wie war die Fahrt?« Der Fürst empfing den Schwiegersohn in seinem Arbeitszimmer, das er halb ironisch seine Kanzlei nannte. Ich geh in die Kanzlei, mich ein bisschen konzentrieren, brummelte er gern nach dem Mittagessen oder auch, wenn ihm unangenehmer Besuch erwartet wurde, ein leicht zu durchschauender Euphemismus für den Mittagsschlaf. Wenn die kahlen Wände des Toten Gebirges bei Alpenglühen blutorange leuchteten oder wenn Gewitter durchs Tal fegten, dann schien das allein für den Blick aus diesem Zimmer aufgeführt zu werden. Für diese Schauspiele ihm zu Ehren und bisweilen für den Mittagsschlaf hatte der Fürst einen schweren Lederfauteuil mitten im Zimmer deponiert. Auf ihm nahm Czernin Platz. Draußen zogen sich Wolken zu dunklen Ansammlungen zusammen.

»Ach weißt du« erwiderte Czernin, »du kennst das ja. Im Zug mit all diesen Leuten, die jetzt so nach Ischl fahren. Und dann ist sie teilweise schon sehr lahm, diese Eisenbahn. So viel Stahl und Dampf, und dann kommt man doch nicht recht vom Fleck. Aber es geht einem ja immer blendend, wenn man hier ankommt, nicht wahr?«

Das fand der Fürst natürlich auch. Diese Ungeduld, dachte er, ich hätte sie wahrscheinlich auch, wenn ich sie nötig hätte. Oder vielleicht auch nicht. Er lächelte, während er das abwog, sein berüchtigtes Lächeln, gütig und dabei alles zermalmend. Die Wand, die dieser Mann war, bestand aus einem Material, das, über Jahrhunderte gewachsen, zahllose Inhaltsstoffe optimal amalgamiert hatte. Die Aussichtslosigkeit eines Angriffs auf des Fürsten Sicht der Dinge wurde offenbar, wenn er gänzlich abwegige Positionen vertrat, was des Öfteren vorkam, und das selbst erkannte, was schon seltener war. Dann konterte er ein auf der Sachebene nicht zu widerlegendes Argument mit einem rasch in den gepflegten weißen Bart gestoßenen »Aber, aber, aber«. Damit war die Diskussion für den Fürsten und mithin für die Welt beendet.

»Du willst sicher gleich mit Marie schwimmen gehen. Solltet ihr auch, bevor es losgeht. Ich glaube nämlich, da kommt noch etwas. Apropos schlechtes Wetter. Ich wollte dir erzählen, dass ich gestern ein kleines Donnerwetter hab machen müssen.« Ein Lächeln umspielte die Augen des Fürsten angesichts der gelungenen Überleitung. Czernin sah aus dem Fenster und erkannte nun auch, dass sich da etwas zusammenbraute. Dabei entging ihm, dass der Fürst seiner Bemerkung ein leises, von einem fast albernen Kichern begleitetes »wegen dir« hinzufügte.

»Ich hab den Goluchowski gesehen.«

Bei dem Goluchowski handelte es sich um Agenor Graf Goluchowski von Goluchovo, Minister des Kaiserlichen und Königlichen Hauses und des Äußeren. Goluchowski hatte dem Fürsten wenig entgegenzusetzen. Das war spätestens klar geworden, als Maries Bruder Karl in den diplomatischen Dienst aufgenommen wurde, ohne die Diplomatenprüfung absolviert zu haben, ein Präzedenzfall, der ohne ein Aber, aber, aber undenkbar gewesen wäre. Viel mehr wird aber auch nicht nötig gewesen sein.

»Und ich hab ihm gesagt, dass du ein großartiger Diplomat sein wirst und sicher mal Botschafter. Wirst du doch. Willst du doch?«

Jetzt war es an Czernins Miene, sich zu verfinstern – und das schneller, als es selbst der Himmel hier im Tal vermochte. Der Satz des Fürsten traf seine chronisch blank liegenden Nerven wie ein Schlag. Ein Impuls wurde freigesetzt, der durch den Körper raste, aufwärts, in den Kopf. Die Hände waren schweißnass, die Wangen rot.

»Schön, hat er gemeint, wenn der Herr Schwiegersohn uns unterstützen möchte. Undsoweiter. Wie der halt so daherredet. Und dann hab ich gefragt, wo er dich denn hinschicken will. Paris? London? Rom? Sind doch alles schöne Städte, nicht wahr?«

Nein, dieses Gespräch nahm keine gute Wendung, weder jenes, das hier stattfand, noch das, von dem es berichtete.

»Na ja, und dann hat er gesagt: Erst mal kommt ja die Diplomatenprüfung, und dann gibt’s ein paar Formalitäten und so weiter. Hat er gemeint.«

Da musste der Fürst lachen. Czernins Mund zuckte unter dem Schnurrbart.

»Nein, hab ich da gesagt, der Kary macht keine Prüfung. Das wäre also wirklich, ich bitte dich, das wäre ja sonderbar. Oder so etwas. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe.«

Im Grafen Czernin war die Hölle los. Schädeldruck, Schwindel, flackernde Pupillen. Er atmete beängstigend unregelmäßig. Das brachte einen wie den Fürsten nicht aus der Ruhe, schon deshalb nicht, weil er es nicht bemerkte.

»Na, und dann hab ich gesagt, dass der Karl das ja auch nicht gemacht hat und er ihn ja auch nach England geschickt hat, ohne den ganzen depperten Quatsch. Und da hat er gemeint, dass das eine ja der Sohn und das andere der Schwiegersohn – jedenfalls wollte er nicht.«

Wieder musste der Fürst lachen. Czernins Mund blieb waagerecht unter dem akkurat gestutzten Bart.

»Und da hab ich aber richtig und ordentlich, also nicht bloß sozusagen, sondern tatsächlich hier mit der Hand«, der Fürst hob die geballte Faust, »auf den Tisch gehauen«, er schlug theatralisch auf die Schreibtischplatte, »und hab gesagt: ›Was ist das denn für eine elende Protektionswirtschaft? Den einen nimmt man und den anderen nimmt man nicht!‹«

Pause. Draußen jetzt Dunkelheit, im Raum Stille, Czernin erstarrt. Der Fürst hielt es für einen angemessenen Nachhall seiner Pointe. Es war vernichtend. Er war gebrandmarkt, zum Günstling degradiert. Wie konnte er anderen, wie sich selbst je wieder in die Augen sehen. Vor allen, vor der Geschichte war er blamiert. Ewig würden sie sich das erzählen. Die Historiker würden darauf herumreiten. Die Druckverhältnisse in seinem Inneren gerieten in Aufruhr. Der Fürst lachte jetzt herzlich.

»Das Gesicht hättest du sehen sollen! Aber eingesehen hat er’s.«

Dieser Teil der Rede des Fürsten war womöglich länger, aber Czernin hörte nichts mehr, weil das Blut von innen gegen seine Ohren presste, er halb blind war und halb taub vor Wut und Erregung. Wie hier raus? Zwei schwitzende Hände krallten sich in weiches Leder. Der Fürst, die Ruhe selbst, steckte sich gelassen eine Zigarette zwischen die Lippen, woraufhin er, ein Bein lässig in der Luft, das silberne Etui in gönnerischer Geste dem anderen entgegenstreckte. »Magst eine, Herr Diplomat?«, fragte er jovial lächelnd in völliger Verkennung der Lage. »Wie wird man dich denn da jetzt nennen müssen?«

Da sprang Czernin auf. Ein rasselndes Geräusch entfuhr seinem Brustkasten. Zusammen mit der ruckartigen Bewegung gewährte das dem druckgeschundenen Körper Spielraum, den er nutzte, um, Halbsätze der Entschuldigung hervorstoßend, zu fliehen. Der Graf verschwand schneller, als der Fürst anfangen konnte, sich zu wundem. Letzterer sog genüsslich an seiner Zigarette, dachte kurz etwas wie Was ist denn mit dem los?, sah durchs Fenster, dass sich der Himmel weiter verdüsterte, mitten im Sommer, und war ziemlich zufrieden mit sich.

Wie ein Veitstänzer wirbelte der Graf Czernin auf dem staubigen Weg, eilte Richtung Totes Gebirge, zu aufgeregt sogar, um rauchen zu wollen. Da riss der Himmel auf. Hinter den Wolken zeigten sich die Felswände glühend in Orange. Er war ganz Wut, Erregung bis in die Haarspitzen, die Landschaft ein Spiegel seines Anfalls.

Als er stehen blieb, atmete er fast schon wieder regelmäßig. Der Druck wich. Die Muskeln erschlafften. Jetzt zog er das Zigarettenetui aus dem Jackett. Der erste Zug half, wie er langsam in den ganzen Körper strahlte. Czernin versuchte, sich davon zu überzeugen, dass nichts Schlimmes geschehen war. Dass er die idiotische Prüfung sowieso nicht hatte machen wollen. Dass es sehr freundlich war vom Fürsten. Doch immer wieder kroch der grantige Ärger hoch. In Zuckungen kehrte der Anfall zurück, wie Schluchzer eines bereits getrösteten Kindes, dessen erschütterter Leib sich der erlittenen Not in Schüben erinnert.

Auf dem Rückweg war es vorbei. Die Wolken zogen sich zurück. Der Himmel gönnte dem Tal doch noch einen schönen Sommerabend. Der Graf Czernin blickte über den See. Er sah, wie sich der kleine bewaldete Berg am anderen Ufer im glatten Wasser spiegelte. Der schaut ja aus, als habe er noch eine Zukunft, dachte der Graf Czernin. Und er lächelte fast bei dem poetischen Gedanken.

Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen

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