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9. ETAPPE. OÑA – LOJA, 110 KILOMETER, 2.471 HÖHENMETER

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Am nächsten Morgen hat die Durchfallwelle das halbe Team lahmgelegt. Lediglich 29 der 40 Teilnehmer klettern auf ihre Räder. Einige, die fahren, leiden ebenfalls unter Durchfall. So wie James, der Gesamtführende. Er will sich seine Rennzeit nicht verderben. Denn klettert er auf den Truck, bekommt er 12 Stunden Strafzeit aufgebrummt. Und verliert seine Poleposition. Schlimmer noch: Er verlöre den „EFI“. EFI steht für „every fabulous inch“. Also „jeder berühmte Millimeter“. Nur wer vom Start in Quito bis zum Ziel in Ushuaia jeden Millimeter auf dem Rad bewältigt, erhält am Ende den „EFI-Status“. Auf den vorangegangenen Touren war die Quote stets verschwindend gering. Zwar kann man sich für den EFI nichts kaufen, er ist aber dennoch Motivator für viele der Teilnehmer. Auch ich gehöre dazu. Denn angetreten bin ich mit drei Vorhaben: erstens überhaupt bis nach Ushuaia zu kommen. Zweitens möglichst die gesamte Strecke zu radeln, also den EFI-Status zu erhalten. Und drittens das Ganze auch noch ohne Durchfall zu überstehen. Ein ambitionierter Plan, wie sich herausstellen wird.

Während die Durchfallpatienten mit leidenden Gesichtern auf die Trucks klettern und ihre Räder auf die Dächer der beiden Begleitfahrzeuge geladen werden, hocken wir grinsend über dem Tagesprofil. Es sieht aus wie eine wildgewordene Börsenkurve. Viermal schnellt das Profil steil nach oben und steil wieder runter. Fast 2.500 Höhenmeter warten auf den 110 Kilometern auf uns. Schon nach wenigen Metern stehen wir im ersten Anstieg. Sieben bis acht Prozent für zwölf Kilometer. Ohne Pause, ohne Gnade.

Ich bin noch längst nicht warm und suche nach meinem Rhythmus. Steige immer mal wieder aus dem Sattel. Und hadere mit meiner technischen Ausrüstung. An meinem Crosser arbeitet eine Shimano 105 mit Dreifachblatt 50/39/30 und 11/28-Kassette. Was mich in Europa bequem jeden Berg erklimmen lässt, stößt in den harschen Anden an seine Grenzen. Mit der Übersetzung bin ich im Fahrerfeld alleine. Alle anderen fahren deutlich bergtauglichere Mountainbikekombinationen. Und kurbeln mit lässiger Gemütlichkeit, wo ich schon im kleinsten Gang arbeite und für jede Kurbelumdrehung viel Kraft aufbringen muss. Längst habe ich eingesehen, dass ich bei der Bestückung meines Rades einen fatalen Fehler begangen habe. Und die schroffen Anstiege der Anden fahrlässig unterschätzte. Dabei kommen die richtigen Giganten erst noch.


Immerhin: Die Kraft ist da, und so klettere ich durch eine vulkanische Säulenlandschaft hinauf zum ersten Pass. Der versteckt sich hinter einer Vielzahl von Kurven. Immer wieder glaube ich, am Gipfel angekommen zu sein. Doch es ist nur eine weitere Kurve, die bewältigt werden will. Irgendwann bin ich tatsächlich oben, streife die Windjacke über und stürze mich talwärts. In der Talsohle treffe ich einen einheimischen Radler aus Cuenca. Er ist auf dem Weg zu seiner kranken Mutter in Loja. Geld für den Bus hat er nicht. Also bleibt ihm nur das Fahrrad. Gemeinsam gehen wir in den zweiten Anstieg des Tages. Auf der scharfen Rampe ziehe ich jedoch schnell davon und erreiche Saraguró. Ein Marktort voller Alltagstohuwabohu. Lastwagen und Pick-ups streiten mit Eselkarren um die schmale Fahrbahn. Hunde flitzen durch die Gassen. Landbewohner treiben Kühe und Schafe vor sich her. Aufgeregte Kinder begrüßen mich mit „Gringo, Gringo“-Gelächter und laden ein zu einem zuckrigen Getränk, das sie mir für eine Handvoll Münzen überlassen. Vor mir sind bereits einige Mitradler durchgefahren, und die schlauen Burschen haben spitzbekommen, dass noch mehr von uns kommen. Und sie ein Geschäft machen können. Dankbar proste ich Ihnen zu.

Kaum habe ich das Marktgewusel hinter mir, stehe ich vor dem nächsten Menschenauflauf. Im örtlichen Stadion wird Fußball gespielt. Zwei Mädchenmannschaften. Erstaunlich für eine männlich dominierte Gesellschaft wie die Ecuadors. Ich hocke mich auf die Tribüne und schaue zu, wie die jungen Damen das Spielgerät geschickt über das Feld schicken. Irgendwann ruft die Pflicht wieder zur Arbeit. Drei dicke Anstiege warten noch auf mich. Beim Lunchstopp hinter dem zweiten Gipfel des Tages empfängt mich Freddy Mercury. „Is this real life? Or is this just fantasy?“, fragt er über die Bordlautsprecher. Zweimal bin ich von 2.100 auf über 3.000 Meter geklettert. Habe angesichts von Steigungsraten bis zu zehn Prozent zumeist in einstelligen Tempobereichen gekurbelt. „Is this real life? Or is this just fantasy?“ Eine berechtigte Frage.

Am Himmel erneut Regenwolken. Überall erzählen frische Erdrutsche von heftigen Niederschlägen. Gestern haben wir im Hotel über El Niño diskutiert. Das Wetterphänomen ist in diesem Jahr besonders ausgeprägt. Abgeschwächte Passatwinde sorgen für einen geringeren Auftrieb kühlen Wassers vor den Küsten Perus, wodurch es zu einer Verschiebung der Windzonen kommt und Warmwasserschichten statt nach Asien nach Südamerika getragen werden. Was in den Anden zu erhöhten Niederschlägen führt. Zweimal noch erwischen mich Regenschauer. Dann hat die Kletterei nach 90 Kilometern endlich ein Ende. Den Rest der Tagesetappe gleite ich sanft nach Loja hinunter, das sich im Tal ausdehnt und an den Hängen hochkrabbelt.

Wie in einer Sanduhr trudeln die anderen Fahrer nach und nach ein. Die letzte Gruppe erreicht erst kurz vor Sonnenuntergang das Ziel. Alle sind auf dieser Wahnsinnsetappe an ihre Grenzen gegangen. Und haben sämtliche Kraftreserven aus ihren Körpern gequetscht. Fast 4.300 Höhenmeter in zwei Tagen liegen hinter uns. Der Ruhetag ist bitter nötig. Nicht nur für unsere Durchfallpatienten.

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