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4. ETAPPE. RIOBAMBA – ALAUSI, 95 KILOMETER, 2.161 HÖHENMETER

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Beim Frühstück ist es hektischer als sonst. Es ist der erste Renntag. In den ersten drei Tagen haben die Veranstalter auf eine Zeitnahme verzichtet, um allen Teilnehmern eine Akklimatisierung zu ermöglichen und sie im dichten Verkehr auf der PanAmericana nicht unnötig zu gefährden. Nun sind wir eingefahren, ist der Verkehr halbwegs ausgedünnt. Zeitnahme und Rennen sollen der Südamerikadurchquerung zusätzlichen Thrill verleihen. Nicht alle Teilnehmer sind jedoch ernsthafte Rennfahrer, denn wie wichtig man das Rennen nimmt, bleibt jedem selbst überlassen. Schätzungsweise die Hälfte ist interessiert. Der Rest winkt müde ab. „Ist mir völlig egal, ich will die Landschaft sehen und Menschen kennenlernen“, sagen sie. Denn wer auf Zeit fährt, verpasst vieles. Verpasst Südamerika.

Unter den „Racern“ ist mit Michelle aus Australien lediglich eine Frau. Die anderen zwölf weiblichen Teilnehmer haben keinerlei Ambitionen – obwohl es neben Gesamtklassement und Männerwertung auch eine Frauenwertung gibt. Ich habe zwar ein Auge auf das Rennen und auf meine Zeit, setze den Fokus aber klar auf Land und Leute. Gibt es entlang der Strecke interessante Dinge zu entdecken, will ich stoppen und schauen. Meine Rennzeit läuft dann weiter. Egal. Ich bin nicht nach Südamerika gekommen, um ein Radrennen zu gewinnen.

Ambitionen auf den Gesamtsieg haben einige. James aus den USA zum Beispiel. Ein ehemaliger Ultra-Marathonläufer, der wegen Kniebeschwerden aufs Fahrrad umgestiegen ist. Und gerne mal Extremrennen von bis zu 2.700 Meilen fährt. Mein längstes Radrennen hingegen war bislang über 141 Kilometer gegangen. Auch mein Zimmergenosse Alfred schielt mit mehr als nur einem Auge auf die Podiumsplätze. Er ist ehemaliger Oberligafußballer des SSV Ulm 1846 und hat zeit seines Lebens Leistungssport betrieben. Nun ist er 64, doch sein Körper ist muskelgestählt und sein Blick klar. Auch er hat sich professionell auf die Südamerikatour vorbereitet. Seine Erzählungen von wilden Alpenüberquerungen auf dem Mountainbike lassen mich mit meiner Handvoll spaßorientierter Vorbereitungstouren erblassen. Ebenfalls blass sieht mein Billigcrosser im Vergleich zu seinem exquisiten Edel-Fully aus, das die beste Maschine im gesamten Fahrerfeld darstellt.

Neben James und Alfred gehören ein paar Niederländer zu den ambitionierten Rennfahrern. Der kahlgeschorene Riese Joost, der mit seinen zwei Metern auf einem 26er Mountainbike eher skurril aussieht, aber bärenstark Tempo machen kann. Oder Rien. Sein 29er Crossrad ist ein „Leftie“. Die Federgabel hat nur ein Rohr. Vor allem am Berg bewies der verschmitzt lächelnde Holländer bereits enormes Standvermögen. Dazu Patrick, mit 26 Jahren Jüngster im Fahrerlager, und Diederich, ein echtes Klettertalent. Unter ihnen, soweit ist schon nach den ersten Tagen klar, wird der Gesamtsieger zu finden sein.

Die Sonne schickt wärmende Strahlen in den kühlen Morgen, als wir uns zum ersten Renntag aufstellen. Wilbert gibt den Startschuss. Zunächst verhält sich das Feld sehr ruhig. Im geschlossenen Peloton schaufeln wir uns durch den dichten Verkehr.

Im Hintergrund thront der Chimborazo. Mit 6.268 Metern ist der inaktive Vulkan nicht nur Ecuadors höchster Gipfel, sondern jener Punkt auf der Weltkugel, der am weitesten vom Erdzentrum entfernt ist. Sogar weiter als der Mount Everest, obwohl der vom Meeresspiegel aus betrachtet höher ist.


Platz ist auf dem kleinsten Pickup – für eine Kapelle

Unmittelbar hinter der Ortsgrenze beginnt der erste Anstieg. 600 Höhenmeter auf 20 Kilometern, unterbrochen von ein paar Gefälleabschnitten. Als die Spitzengruppe wegzieht, gehe ich mit. Der Anstieg ist mäßig, das Tempo passabel. Hinter der Abzweigung nach Guayaquil, Ecuadors größter Stadt, dünnt der Verkehr aus. Der erste Gipfel des Tages ist schnell erreicht, und wir schießen mit fast 90 km/h wieder bergab. Die breite und gut ausgebaute Straße erlaubt das irre Tempo. Die Kurven sind gut einzusehen, der Verkehr dünn. In der Talsohle wartet der Lunchtruck. Mit glühenden Gesichtern hocken wir uns hin und schwärmen vom Geschwindigkeitsrausch.

Die zweite Hälfte steht im Zeichen des Bergkurbelns. Die Gruppe fällt schnell auseinander, und bald bin ich alleine unterwegs. Bis auf 3.400 Meter geht es hinauf. Durch eine erstaunlich grüne und einsame Landschaft. Vor den vereinzelten Häusern wachen Hunde, die meine Passage aufgeregt kommentieren. Autos und Lastwagen sind sie gewohnt, da regt sich nichts mehr. Radfahrer hingegen wecken den Jagdinstinkt. Nach dem Gipfel fällt die Straße steil ab ins 700 Meter tiefer gelegene Alausi. Eine Talfahrt als Adrenalinquelle. Bei einem Gefälle von bis zu zehn Prozent und weiten Kurven bin ich ständig in den hohen 70ern unterwegs. Viel schneller als die Lastwagen, die motorbremsend hinabzockeln. An ihnen vorbeizuschießen ist ein Nerventhriller. Eigentlich ist die Verkehrshierarchie doch festgemeißelt! Überholt man als Radfahrer keine motorisierten Fahrzeuge! Ein sperriger Gedanke im Kopf, der sich mit latenter Furcht vereint und mit der Lust auf Grenzerfahrung streitet. Und so geht der Blick stets etwas bange in Richtung Führerkabine, wenn ich zum Überholen ansetze. Und die Hoffnung gen Himmel, dass nicht plötzlich ein Schlagloch auf der Straße auftaucht.

Als ich Alausi erreiche, sind erst vier Fahrer da. Am ersten Tag Platz fünf, das ist mehr, als ich erträumt hätte. Aber auch ein wenig meinem mit flinken Slicks bestückten Cross-Rennrad zu verdanken. Das ist auf Asphalt deutlich flotter als die schwerfälligen Mountainbikes, mit denen die meisten anderen unterwegs sind. Ich mache mir eine mentale Notiz, damit die Rennambitionen nicht mit mir durchgehen.

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