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3. ETAPPE. LATACUNGA – RIOBAMBA, 97 KILOMETER, 1.744 HÖHENMETER

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Am nächsten Morgen verlassen wir Latacunga als Großpeloton. Pedalieren die ersten 30 Kilometer gemeinsam. Als der Verkehr ausdünnt, prescht eine Gruppe davon. Ich gehe mit, lasse aber bald abreißen, weil mir das Tempo zu hoch ist. Wieder gleicht das Profil einer Wellenlandschaft. Das Leben entlang der Straße wird ländlicher. Kleine Dörfer, die an afrikanische Hüttensiedlungen erinnern. Eingeschossige Einfachhäuser mit Wellblechdächern. Bunte Lebensmittelläden, die alles zur Versorgung der Einwohner bereitstellen. Und open-air-Werkstätten, in denen auf ölverseuchtem Grund an schwerem Gerät geschraubt wird. Überall liegen Plastiktüten und PET-Flaschen herum. Umweltschutz ist jenseits unserer Wohlstandswelt Luxuspolitik. Hier herrscht eine völlig andere Wegwerfkultur. Während vieles von dem, was man bei uns als unbrauchbar aussortiert, liebevollen Reparaturen unterzogen wird, geht man mit Verpackungs- und Plastikmüll lax um. Auch Bauschutt wird nicht entsorgt, sondern einfach irgendwo abgekippt.


Die beiden rollenden Headquarter von „The Andes Trail”


Nichts für Vegetarier

Auf der Hälfte des Anstiegs stoppe ich in einem kleinen Örtchen. Ein schweigsamer Bursche verkauft Cola. Ich hocke mich auf einen Steinhaufen und sauge die Bilder auf. Rechts dreht ein Schwein seine Runden. Aufgespießt. Über offenem Feuer brutzelt seine Haut. Ein Bild, an das ich mich erst noch gewöhnen muss. Lateinamerika und seine öffentlichen Garküchen. Für mich zumeist unerreichbar. Als Vegetarier bin ich hier Exot. Als eine kleine Gruppe Mitradler vorbeipedaliert, schließe ich mich an. Steil weist die Straße durch die grüne Landschaft gen Himmel. Rhythmus finden und kurbeln. Nach 25 Kilometern lädt ein kurzer flacher Sockel zum Durchatmen ein. Weitere 500 Höhenmeter später ist die Luft unangenehm kühl und die Landschaft einlullend unspektakulär. Saftige grüne Weiden. Wie in den Alpen. Nur dass da auf 3.600 Metern nicht mehr viel Grün zu finden ist.

Im Hotel herrscht Tohuwabohu. Überall stapeln sich Koffer und Taschen. Wie Störche staken wir durch das Gepäckmeer. Der Eingangsraum ist viel zu klein, um die Ausrüstung von 40 Weltenbummlern aufzunehmen. Dabei ist unser Gepäck schon vorsortiert, wird immer nur ein Teil abgeladen. Drei Sorten gibt es: Campinggepäck, Vorratsgepäck und Tagesgepäck. Nur Letzteres staut sich nun in dem kleinen Vorraum. Mühsam ziehe ich meine Utensilien heraus. Duschen, umziehen.

Inzwischen sind alle Fahrer eingetroffen, ist die Lobby gefüllt mit Radlern, die vor ihren Smartphones oder Laptops hocken. Das WLAN-Netz des Hotels ist völlig überfordert. Meine Gedanken gehen zurück an die Afrikadurchquerung. Damals haben wir jede Nacht irgendwo entlang der Piste gezeltet. In Südamerika sind wir zunächst meistens in einfachen Hotels untergebracht. Erst wenn wir das Hochland in Nordargentinien verlassen, wird überwiegend gecampt. Dadurch verliert das Abenteuer an Herausforderung. Wo wir uns in Afrikas Abgeschiedenheit in uns selbst verlieren konnten, klammern wir uns hier an die unendlichen und doch so vertrauten Weiten des Internets. Abenteuerreise 3.0?

Aufgeregte Gedanken ergreifen mich. Reisen als unmittelbare Konfrontation mit der Gegenwart. Die Vergangenheit kommt als mehr oder weniger sperriges Paket mit. Ich werde niemanden mit früheren Texten oder Taten beeindrucken können. Sitze ich auf dem Fahrrad, 11.000 unglaubliche Kilometer bis Patagonien vor der Nase, zählt nur noch der Augenblick. Zählt nur das, was in jedem Moment an Herausforderung bewältigt werden will. Werden muss. Als Dauerkonfrontation mit der Gegenwart. Und die Zukunft ist nur ein vages Konzept. Sicherheit zum Beispiel ist für uns nur schwer zu bekommen. Um das auszuhalten, braucht es Vertrauen. Vertrauen in sich, Vertrauen in den Lauf der Dinge, Vertrauen in seine Mitmenschen. Und die Bereitschaft zu Risiko und Opfer. Denn oft genug wird das Vertrauen gebrochen oder gar missbraucht. Und da hilft dann kein Jammern oder ein Anruf bei der Vollkaskoversicherung. Da hilft nur akzeptieren und arrangieren. Eigentlich müsste man Warnschilder auf Abenteuer wie The Andes Trail oder Tour d’Afrique kleben: „Diese Reise kann Sie das Leben spüren lassen und zu schwerwiegenden Veränderungen in der Selbstwahrnehmung führen!“

Natürlich braucht es Mut, um einen solchen Trip anzugehen. Wobei ich lieber von „Hunger“ spreche. Hunger nach Neuem, nach Ausbruch, nach unbekannten Wegen, nach fremden Sprachen, nach anderen Lebensentwürfen. Ein Hunger nach dem, was „jenseits der Komfortzone“ liegt. Die watteweichen Annehmlichkeiten hinter sich lassen, um sich den Herausforderungen eines Alltags zu stellen, der sich fremd anfühlt und in dem ganz andere Fragen gestellt werden. Zum Beispiel eine Speisekarte vor der Nase zu haben, deren Offerten seltsam namenlos wirken und die zugleich reizvoll erscheinen. Um dann mutig die alles entscheidende Frage in den Raum zu werfen, ob die Lokalität auch auf einen Vegetarier vorbereitet ist.

Was ich mir in den kommenden Monaten von mir selbst erhoffe, sind Leichtigkeit und Offenheit. Das sind, ich weiß es noch aus Afrika, zwei höchst anspruchsvolle Wünsche. Denn die Psyche zickt gerne mal, wenn sie nicht das bekommt, was sie gewohnt ist. Wenn sie an Grenzen stößt, die sich als unüberwindlich erweisen und zwingen, Umwege zu gehen oder gar gänzlich neue Wege zu erschließen. Dann zetert sie und verlangt eingeschnappt nach den gewohnten Drogen. Ein kühles Bier, ein Tütchen Gummibärchen, eine gemütliche und angenehm klimatisierte Lokalität, einen netten Menschen. Und man selbst steht plötzlich da und ist erfüllt von einem beißend schlechten Gewissen, weil man sich etwas zumutet, das tatsächlich nichts anderes als eine Zumutung ist.

Ich komme mit einem Pärchen ins Gespräch. Laura und Toto aus Regensburg sind ebenfalls mit Fahrrädern unterwegs. Allerdings mit Gepäck und auch schon etwas länger. „Wir waren erst in Asien, jetzt sind wir gerade in Südamerika angekommen“, erzählt Toto. „Hier ist das Leben echt total anders. Das Wetter ist viel kälter, und die Menschen sind so zurückhaltend“, ergänzt Laura. Die beiden hängen in Riobamba fest, weil Lauras Luftmatratze leckt und sie auf Ersatz aus den USA warten. „Jeden Tag hören wir, dass es morgen so weit ist. So geht das nun schon seit Wochen“, grinst Toto augenverdrehend.

Nach dem Abendessen verschwinde ich früh im Bett. Der Körper ist groggy, der Geist müde. Dreieinhalbtausend gefahrene Höhenmeter lähmen die Beine. Die dünne Höhenluft nagt am Energievorrat, und die ungefilterten Abgase der Lastwagen sorgen für einen hartnäckigen Husten.

Jenseits der Komfortzone

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