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Schrödingers Paradoxon der Ordnung

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Im Jahre 1944 erschien „What is Life?“ von Erwin Schrödinger. Als Mitbegründer der modernen Quantentheorie Mitte der 1920er zählt Schrödinger zu den Physikern ersten Ranges. So ist es nicht allzu verwunderlich, dass seine Vorträge, und das hierauf basierende Buch, über die rätselhaften Prinzipien der biologische Ordnung, die molekulare Natur und die Funktionsweise der Gene auf große Resonanz stießen.17 Aber wieso hält ein theoretischer Physiker eine Vorlesungsreihe über grundlegende Fragen der Biologie und publiziert seine spekulativen Ideen anschließend auch noch? Das lässt auf ein tiefes Interesse schließen, ein intellektuelles Bedürfnis des „Homo universalis“ Schrödinger, das ihn drängte, die im Vorwort geäußerten Bedenken, sich über eine fachfremde Thematik zu äußern, beiseite zu schieben. Tatsächlich war der 1887 in Wien geborene Physiker seit seiner Jugend mit grundlegenden Theorien der Biologie, einschließlich Darwins Evolutionstheorie, vertraut. Dies verdankte er jedoch nicht dem Gymnasialunterricht, sondern seinem Vater. Rudolf Schrödinger war ausgebildeter Chemiker – und leidenschaftlicher Botaniker; seine Kenntnisse in der Botanik gingen weit über den Amateurstatus hinaus. Erwin Schrödinger wurde so nach eigenem Bekunden bereits in jungen Jahren ein begeisterter Anhänger des Darwinismus, und blieb dies sein Leben lang.18 Zusätzlichen Ansporn, sich intensiver mit biologischen Themen zu befassen, bot eine Abhandlung über die Natur der Gene und der Genmutationen, verfasst von dem Genetiker Nicolaj W. Timoféeff-Ressovsky (1900 - 1981) und den Physikern Max Delbrück (1906 - 1981) und Karl G. Zimmer (1911 - 1988). Ein Exemplar dieser Arbeit gelangte auf Umwegen in Schrödingers Hände.19

Einem der drei Autoren, dem fast 20 Jahre jüngeren theoretischen Physiker Max Delbrück, war Schrödinger gegen Ende seiner Berliner Zeit – als Nachfolger von Max Planck (1858 - 1947) auf dem Lehrstuhl für theoretische Physik – im Jahre 1933 in Berlin wiederholt begegnet. Und als Schrödinger 1943 in Dublin die wegweisende „Drei-Männer-Arbeit“, die wegen ihres grünen Umschlags auch als „grünes Pamphlet“ bezeichnet wurde, in die Hände bekam, war Max Delbrück längst zur Biologie gewechselt.20

Die „Drei-Männer-Arbeit“ beflügelte Schrödinger, er ließ seine anderen Projekte vorübergehend ruhen und widmete sich intensiv der mysteriösen Stabilität der Gene und deren erbliche Veränderungen. Da er bereits zuvor begonnen hatte, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, kam er schnell voran.

Uns interessiert hier in erster Linie Erwin Schrödingers Paradoxon der molekularen Ordnung, das er in den geordneten Abläufen der Organismen zu erkennen glaubte. In seinem kurzen, zum Klassiker avancierten, Buch betonte Schrödinger einleitend, dass es ihm um einen einzigen Gedanken gehe – „eine kleine Erklärung zu einer großen und bedeutsamen Frage“:

Wie lassen sich die Vorgänge in Raum und Zeit, welche innerhalb der räumlichen Begrenzung eines lebenden Organismus vor sich gehen, durch die Physik und die Chemie erklären?21

Schrödinger wusste, dass Chromosomen die materiellen Träger der Vererbung sind, und er entwickelte die geniale Idee eines Codes, den er in der Chromosomenstruktur verwirklicht sah. Doch ignorierte er die damals längst bekannten Biokatalysatoren, die Enzyme, die er als wesentliche Protagonisten der „Exekutive“ in der Entwicklung der Organismen hätte in Betracht ziehen können. So kam er zu der frappierenden Auffassung, dass die Chromosomen nicht nur die Träger eines vollständigen Codes (genauer: zweier Sätze desselben) sind, sondern:

Die Chromosomenstrukturen (…) sind zugleich Gesetzbuch und ausübende Gewalt, Plan des Architekten und Handwerker des Baumeisters.22

Ein gravierender Irrtum. Doch dieser führte zu einem interessanten Fragenkomplex und stimulierenden Ideen zur Ordnung des Zellgeschehens.

Die irrigen Vorstellungen über die Funktion der Chromosomen stellten Schrödinger vor ein Dilemma: Die Chromosomenstruktur, das heißt die von ihm postulierte „hochorganisierte Atomgruppe“, die „das leitende Prinzip in jeder Zelle“ verkörpere, ist nur in einem Exemplar oder – in diploiden Zellen – zwei Exemplaren vorhanden.

Was bedeutete diese Tatsache für die in den Organismen verwirklichten molekularen Ordnungsprinzipien? Erwin Schrödinger war nicht nur Quantenphysiker, sondern aufgrund zahlreicher eigener Untersuchungen auch ein ausgewiesener Experte der statistischen Physik. Wie sollte er die beiden Beobachtungstatsachen zusammenführen, dass die in „mustergültiger Ordnung“ ablaufenden Vorgänge durch eine „einzigartige Atomverbindung“ verursacht werden, die nur in einer Kopie oder doppelt vorhanden ist? Die bekannten statistischen Gesetze der Physik beruhen, wie er anschaulich auseinandersetzt, auf dem Zusammenwirken einer ungeheuer großen Zahl von Atomen oder Molekülen. Einzelne Atome oder Moleküle zeigen nur ein regelloses (chaotisches) Verhalten, erst durch das Zusammenwirken einer großen Anzahl von Atomen oder Molekülen treten Gesetzmäßigkeiten in Erscheinung.23 Er musste daher einen neuen „Mechanismus“ postulieren, den er mit Ordnung aus Ordnung umschrieb. Schrödinger fasste seine Überlegungen zur geordneten Entfaltung der befruchteten Eizelle zum vollentwickelten Organismus wie folgt zusammen:

Offenbar gibt es zwei verschiedene >>Mechanismen<< zur Erzeugung geordneter Vorgänge, den >>statistischen Mechanismus<<, der Ordnung aus Unordnung erzeugt, und den neuen Mechanismus, der <<Ordnung aus Ordnung<< schafft.24

Der neue Mechanismus sei eine besondere Art Uhrwerk, dessen Zahnräder feinste Meisterstücke darstellen, vollendet nach den Leitprinzipien der Quantenmechanik. Die Ähnlichkeit zwischen Uhrwerk und Organismus beruhe darauf,

daß der Organismus ebenfalls in einem festen Körper verankert ist – dem aperiodischen Kristall, der die Erbsubstanz bildet und der Unordnung aus Wärmebewegung weitgehend entzogen ist.25

Bei diesen spekulativen Vorstellungen wurden Chemie und Biochemie, speziell die zellulären Makromoleküle, völlig ignoriert, doch sie befeuerten das Interesse an der Natur der Gene.

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