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Rezeptoren und Signalübertragung
ОглавлениеMolekulare „Schalter“ wie der Lac-Repressor-Operator-Komplex können als molekulare Signalwandler angesehen werden, argumentierte Max Delbrück im Jahre 1972. Allolactose, die durch ß-Galactosidase aus Lactose gebildet wird, ist hierbei das chemische „Signal“. Durch die Bindung eines Allolactosemoleküls an den Repressor wird dessen Bindung an die Operatorsequenz soweit herabgesetzt, dass der Promotor für die RNA-Polymerase zugänglich wird, die nun die gemeinsame mRNA für die drei Enzyme (ß-Galactosidase, Permease und Transacetylase) synthetisiert. Wenn der Allolactosespiegel unter einen Schwellenwert absinkt, gewinnt die konkurrierende Bindung des Repressors wieder die Oberhand, sodass die mRNA-Synthese blockiert wird.
Die Regulation durch Operons bewirkt, dass die Bakterienzelle nicht alle Proteine ständig vorhalten muss, sondern bestimmte Proteine nur synthetisiert werden, wenn sie durch entsprechende Stimuli aus der sich ständig verändernden Umwelt induziert werden. Den Alles-oder-nichts-Mechanismus der Induktion des Lactosesystems beschrieben zuerst Nowick und Weiner im Jahre 1957. Isoliert vom übrigen Zellgeschehen betrachtet, ist diese Form der Regulation ein einfacher Regelkreis, wie er in der Kybernetik seit den 1940er Jahren behandelt wird.29
Die Begriffe „Signal“ und „Signalwandlung“ lenken auf den Begriff der Information, der aus der Biologie nicht mehr wegzudenken ist. Signale transportieren Informationen. Vorbereitet durch die Kybernetik, und besonders durch die Shannon’sche Informationstheorie, hielt der Informationsbegriff mit der Molekularbiologie Einzug in biologische Denkmuster. Erinnert sei an das von Francis Crick formulierte „zentrale Dogma der Molekularbiologie“ und das zuvor skizzierte Lac-Operon-Modell. Zumeist handelt es sich, wie in den beiden genannten Fällen, um semantische Information, welche die Bedeutung der Nachricht des Signals betrifft.
Indessen sind nur der syntaktische Informationsbegriff (durch die Shannon’sche Theorie) und der algorithmische Informationsbegriff formal definiert. Information bedeutet in Shannons Theorie die mittlere Anzahl der Ja-nein-Entscheidungen, die erforderlich sind, „um eine bestimmte Zuordnung innerhalb einer gegebenen Anzahl von Alternativen treffen zu können“.30 Warren Weaver hatte bereits im Jahre 1949 gewarnt:
Das Wort Information wird in dieser Theorie [Shannons Kommunikationstheorie] in einem speziellen Sinn gebraucht, die nicht mit seinem gewöhnlichen Gebrauch durcheinander gebracht werden darf. Insbesondere darf Information nicht mit Bedeutung verwechselt werden (…) Der Begriff der [syntaktischen] Information ist nicht auf eine einzelne Botschaft anwendbar (…)31
Aus dieser Klarstellung ergibt sich folgerichtig, dass die Wörter Information und Signal im biologischen Kontext oft im metaphorischen Sinne gebraucht werden, es sei denn, dass explizit auf die Shannon’sche Information Bezug genommen wird.
Bevor wir uns erneut konkreten zellulären Signalübertragungen zuwenden, erscheint es sinnvoll, noch auf einen weiteren, für das Verständnis interzellulärer Signalübertragungen unentbehrlichen, Schlüsselbegriff einzugehen – den Begriff Rezeptor.
Dieser Begriff hat eine mehr als hundert Jahre zurückreichende Geschichte: Paul Ehrlich (1854 - 1915) führte den Begriff des Rezeptors bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Er ging davon aus, dass „Medikamente nicht wirken, wenn sie nicht gebunden sind“. Dazu postulierte er bestimmte chemische Strukturen auf der Zelloberfläche, die für die selektive Bindung von Substanzen verantwortlich sind.
Frühe Unterstützung – und Korrekturen – erhielten Ehrlichs Vorstellungen durch die Experimente des Physiologen John N. Langley (1852 - 1925). Langley entwickelte als Erster, und unabhängig von Paul Ehrlich, die Vorstellung spezifischer Rezeptoren für pflanzliche Gifte und Hormone. Der Pharmakologe Alfred J. Clark (1885 - 1941) schuf nachfolgend eine umfassende Theorie auf der Grundlage des Rezeptorkonzepts. Indes blieben Rezeptoren bis in die 1960er Jahre umstritten, sie galten lediglich als hypothetische Strukturen.
Heutzutage wird der Rezeptorbegriff weiter gefasst. In der Zellbiologie bezeichnet der Terminus Rezeptor an Zellmembranen gebundene oder frei bewegliche molekulare Strukturen oder (Makro-)Moleküle, die als Signalüberträger fungieren.32
Bleiben wir vorerst bei Bakterien. Bakterien reagieren auf Umweltreize wie Temperatur, Licht, Sauerstoff oder Nährstoffe mit Bewegungsänderungen. Das mit Hilfe von Flagellen bewegliche Bakterium E. coli reagiert beispielsweise auf Aminosäuren oder Zuckermoleküle in seiner Umgebung. Schon in den 1880er Jahren hatte der Botaniker und Pflanzenphysiologe Wilhelm F. Pfeffer (1845 - 1920) die Chemotaxis demonstriert, indem er gelöste Testsubstanzen in einer einseitig verschlossenen Kapillare in Kontakt mit Wassertropfen brachte, welche mobile Bakterien enthielten. Unter dem Mikroskop beobachtete Pfeffer, wie sich die Bakterien zur Kapillare bewegten und sogar in diese eindrangen (positive Chemotaxis). In anderen Fällen entfernten sich die Bakterien (negative Chemotaxis) Er stellte auch schon die Reaktion auf sehr stark verdünnte Lösungen chemotaktischer Substanzen fest. Bei diesen Beobachtungen blieb es 70 Jahre lang.
In den 1960ern begann Julius Adler ausgehend von der Methode Pfeffers, den Mechanismus der Chemotaxis in E. coli zu untersuchen. Adler erkannte, dass die chemischen Stimuli durch „Systeme“ vermittelt werden, die er Chemorezeptoren nannte. Schließlich fand Adlers Arbeitsgruppe heraus, dass die Signalinformation von den Chemorezeptoren auf eine intrazelluläre Signalübertragungskaskade weitergeleitet wird und zu entsprechende Bewegungen der Flagellen des Bakteriums führt.33
Mittlerweile ist die bakterielle Chemotaxis eines der am besten aufgeklärten molekularen Signalübertragungssysteme. Das E. coli-Bakterium verfügt über fünf Typen von Chemorezeptoren, darunter einen Rezeptor, der die Aminosäure L-Asparaginsäure beziehungsweise deren Salzform L-Aspartat spezifisch bindet. Beeindruckend ist die außerordentliche chemotaktische Empfindlichkeit, die bereits Wilhelm Pfeffer feststellte. Diese kann heute mit präzisen Zahlen untermauert werden: Für die Aspartatrezeptoren einer Zelle genügen drei Moleküle L-Aspartat als Stimulus. Die hohe Empfindlichkeit wird durch die Kooperation von tausenden Rezeptoren erzielt, die in Clustern von jeweils 10 bis 20 Rezeptoren organisiert sind.34
Mit einem speziellen „Tracking“-Mikroskop gelang es Howard Berg und Douglas Brown in den 1970er Jahren die Schwimmbewegungen einzelner E. coli-Bakterien zu verfolgen. Bakterien bewegen sich in einer homogenen Umgebung bis zu mehreren Sekunden lang in eine Richtung, danach tritt durch eine kurzdauernde (~0,1 Sekunden) Taumelbewegung eine Neuorientierung ein. Die eingeschlagene Bewegungsrichtung nach einer Taumelbewegung erfolgt „zufällig“. Wenn dagegen in der Umgebung ein Konzentrationsgefälle eines Nährstoffs, beispielsweise L-Aspartat, existiert, wird durch Reduzierung der Taumelbewegungen und längere Vorwärtsbewegung eine effektive Navigation in Richtung der ansteigenden Konzentration erreicht. Mathematisch lässt sich die Schwimmbewegung durch ein Irrfahrt-Modell mit Richtungsbevorzugung beschreiben.35
Entscheidend für das Schwimmverhalten ist die Drehrichtung der Flagellen. Für den Vorschub in Richtung einer ansteigenden Nährstoffkonzentration rotieren die Flagellen gleichsinnig im Gegenuhrzeigersinn (von der Flagellumspitze zum Bakterienkörper gesehen) und bilden dabei ein Bündel. Die Taumelbewegung kommt durch Umkehr der Drehrichtung einer oder mehrerer Flagellen zustande, wobei sich das Flagellenbündel teilweise auflöst. Dass durch den Wechsel von aktiver Vorwärtsbewegung und Taumeln eine zielgerichtete Bewegung, das heisst Chemotaxis, erreicht wird, ist umso bemerkenswerter, da das Bakterium selbst wegen seiner Winzigkeit der Brown’schen Bewegung unterliegt.
Bei der Aufklärung der intrazellulären Prozesse der Signalübertragung von den Rezeptoren zu den molekularen „Schaltern“ der Flagellenmotoren gab es ebenfalls beeindruckende Fortschritte. Als zytoplasmatischer Signalüberträger dient ein kleines Protein, CheY, das in der vergleichsweise hohen Konzentration von annähernd 8.000 Kopien pro E. coli-Zelle vorkommt. CheY tritt signalabhängig in zwei Formen auf: phosphoryliert (CheY-P) oder ohne übertragene Phosphatgruppe. Das phosphorylierte CheY-P ist sehr kurzlebig (Halbwertszeit im Zentelsekundenbereich). Doch es gelangt durch Diffusion sehr schnell an den Schalterkomplex der Flagellenmotoren, der aus einem Ring von 30 kooperativ umschaltenden Untereinheiten besteht. Durch die Bindung von CheY-P wird die Wahrscheinlichkeit für die Drehung des „Motors“ im Uhrzeigersinn erhöht – und eine Taumelbewegung ausgelöst. Die Bindung von L-Aspartat an den Rezeptorkomplex wirkt dem entgegen: Sie führt zur Unterbindung der Taumelbewegungen, indem die Phosphatgruppen übertragende Proteinkinase gehemmt wird und die Konzentration von CheY-P durch die Abspaltung der Phosphatgruppe durch eine Proteinphosphatase sinkt.
Die komplexe Organisation und Dynamik machen dieses chemotaktische Signalübertragungssystem zu einem paradigmatischen molekularen Interaktionsnetzwerk. Besonders faszinierend sind neben der chemotaktischen Empfindlichkeit auf Nährstoffe die ultrasensitive Reaktion des „Schalters“ auf CheY-P und die Funktionsweise der rotierenden „Motoren“, welche die Flagellen antreiben. Diese „Motoren“ schalten stochastisch zwischen dem Gegenuhrzeigersinn und dem Uhrzeigersinn um.36
Den Proteinen, speziell den Enzymen – und hier vor allem den besonders faszinierenden „molekularen Motoren“ –, werden wir uns als Nächstes zuwenden.