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Brown’sche Molekularbewegung
ОглавлениеDer stochastischen Behandlung biochemischer Reaktionen zeitlich weit voraus ging die theoretische Beschreibung und experimentelle Bestätigung einer der bedeutendsten molekularen Fluktuationserscheinungen – der Brown’schen Molekularbewegung.
Die Wärmebewegungen der Atome und Moleküle sind ein fundamentales physikalisches Phänomen. In Wasser suspendierte Partikel oder gelöste Moleküle erfahren in jeder Sekunde die unvorstellbar große Anzahl von 1021 Stößen durch die sie umgebenden Flüssigkeitsmoleküle. Sichtbaren Ausdruck finden diese Kollisionen in den andauernden, unregelmäßigen Bewegungen, welche die suspendierten Partikel ausführen. Die erratischen Partikelbewegungen werden nach dem Botaniker Robert Brown (1773 - 1858) als Brown’sche Bewegung bezeichnet.2 Auch die (Makro-)Moleküle und makromolekularen Komplexe der Zelle unterliegen diesem Schwankungsphänomen. Dies mag paradox erscheinen, stehen doch die Wärmebewegung und die aus ihr resultierende Brown’sche Molekularbewegung für Unordnung – Chaos und Zufall – schlechthin. Doch wir werden sehen, dass keine Zelle, kein Organismus ohne Brown’sche Bewegung existieren könnte, zumindest keine der derzeit bekannten, terrestrischen Lebensformen.
Die Brown’sche Bewegung war noch lange Zeit nach ihrer sorgfältigen Untersuchung in den Jahren 1827 bis 1829 durch Robert Brown ein Kuriosum. Und Brown war nach eigenem Bekunden keineswegs der Erste, der die eigenartigen Zitterbewegungen beschrieb.3 Robert Brown war leidenschaftlicher Botaniker, der bedeutendste seiner Zeit. Sein Lebenswerk wurde aber nachfolgend durch Charles Darwin überschattet. Wie die mehrere Jahrzehnte jüngeren Naturforscher Charles Darwin und Gregor Mendel, war Brown Autodidakt; er hatte weder einen regulären Universitätsabschluss noch später eine Lehrfunktion an einer Universität.
Im Jahre 1827 beobachtete Brown Pollen der Atlasblume (Clarkia pulchella) unter dem Mikroskop. Hierbei fielen ihm innerhalb der Pollen Partikel von „ungewöhnlich großen Abmessungen“ auf. Als er die Form dieser in Wasser suspendierten Partikel untersuchte, bemerkte er, dass diese sich permanent bewegten. Bei weiteren Untersuchungen stellte sich dann heraus, dass nicht nur die Pollenpartikel oder „Moleküle“ – wie er sie nun auch nannte – anderer Pflanzen, sondern auch „Moleküle“ anorganischen Ursprungs wie Mineralien die imposanten Bewegungen vollführten. Selbst in ölumschlossenen Wassertropfen, die oft nur eine Partikel enthielten, war deren ununterbrochene Bewegung zu beobachten.
Nach einer anfänglichen Begeisterung für Browns Beobachtungen flaute das Interesse in den nächsten 30 Jahren indessen fast völlig ab. Erst nach Browns Tod, in den 1860ern, wurden Argumente vorgebracht, die Brown’sche Bewegung auf die Wärmebewegung der Flüssigkeitsmoleküle zurückzuführen. Trotzdem sich nun auch Physiker in die Diskussion einschalteten, dauerte es noch bis 1905, ehe die erste experimentell überprüfbare Theorie der Brown’schen Molekularbewegung von Albert Einstein (1879 - 1955) vorgelegt wurde. Nur ein Jahr später erschien in den Annalen der Physik von Marian von Smoluchowski (1872 - 1917) ebenfalls ein Artikel zur Theorie der Brown’schen Molekularbewegung.4
Wie bereits erwähnt, ist die Diffusion ein Fluktuationsphänomen. Die Ausgangs- oder „Startposition“ ist die wahrscheinlichste, mittlere Lage. Schwankungen um den Mittelwert, beobachtbar als Verschiebungen von der „Startposition“, werden durch ein Streuungsmaß – die Varianz – beschrieben. Wenn wir uns eine eindimensionale Diffusion entlang der x-Achse vorstellen, ergibt sich die Streuung oder Varianz als die mittlere quadratische Verschiebung von der Startposition. Die Beziehung des mittleren Verschiebungsquadrats zur Zeit leitete als Erster Einstein, in seiner Arbeit von 1905, ab. Entsprechend der Einstein’schen Gleichung ist die mittlere Verschiebung von der Startposition proportional zur Quadratwurzel aus der verflossenen Zeit. Mit Hilfe dieser Beziehung kann der Diffusionskoeffizient, der die diffusive Beweglichkeit charakterisiert, experimentell bestimmt werden. Theodor H. Svedberg (1884 - 1971) und nachfolgend, ab 1908, die Arbeitsgruppe um Jean-Baptiste Perrin (1870 - 1942) haben zunehmend präzisere Messungen vorgenommen; diese ermöglichten die Bestimmung der Anzahl der Moleküle in einem Mol, die Avogadro-Konstante, zu 6,4·1023; der gegenwärtig akzeptierte Wert beträgt circa 6,022·1023 mol-1·4.
Albert Einstein und Marian von Smoluchowski erkannten auch den Zusammenhang zwischen der Brown’schen Molekularbewegung und der makroskopischen Diffusion: Letztere ist die Überlagerung (Superposition) der unabhängigen Brown’schen Bewegungen einer großen Zahl von Teilchen. Das war eine fruchtbare theoretische Einsicht, die eine Brücke zur mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie und zur statistischen Physik schlug. Die Diffusion einzelner Teilchen oder (Makro-)Moleküle kann mit einer formal ähnlichen Differenzialgleichung beschrieben werden wie die makroskopische Diffusion; hierbei tritt an die Stelle der Konzentration die Wahrscheinlichkeit beziehungsweise Wahrscheinlichkeitsdichte. Überdies sind Verallgemeinerungen wie der Einfluss von Kraftfeldern oder die Einbeziehung von Konvektion (Strömung) leicht möglich.
Schließlich war es nun prinzipiell möglich, bei längerer Verfolgung aus den von einem diffundierenden Teilchen oder (Makro-)Molekül während gleicher Zeitintervalle zurückgelegten Teilstrecken, die mittlere quadratische Verschiebung – und aus dieser den Diffusionskoeffizienten – zu bestimmen, sofern ausreichend empfindliche und genaue Nachweismethoden vorhanden sind.5