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Das stochastische Paradigma
ОглавлениеLeben ist ein Wunderwerk der Natur, faszinierend und rätselhaft wie kaum ein anderes Naturphänomen.
Wie Gegenpole zu dem geordneten Erscheinungsbild lebender Organismen, den Generation für Generation wiederkehrenden arttypischen Merkmalen und Eigenschaften, erscheinen dagegen „Zufall“ und Chaos: Sinnbilder für Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Unordnung.2 Es ist eine verwirrende Vorstellung, dass unsichere Ereignisse mit der eindrucksvollen Organisation der Organismen, ihren staunenswerten Lebenszyklen, ihrer Anpassungs- und Überlebensfähigkeit in einer sich ständig verändernden Umwelt, im Einklang stehen. Dennoch ist dies der Fall: Mit der Evolutionstheorie von Charles Robert Darwin (1809 - 1882) und Alfred Russel Wallace (1823 - 1913), den Untersuchungen von Gregor Johann Mendel (1822 - 1884) zu den Gesetzmäßigkeiten der Vererbung von qualitativen Merkmalen und von Francis Galton (1822 - 1911) zur statistischen Analyse und Modellierung der Variabilität in biologischen Populationen fanden Zufall und Wahrscheinlichkeit Eingang in die klassische Biologie. Als grundlegend für die genetische Variation in höheren, geschlechtlich fortpflanzenden Organismen erwies sich die zufällige Vereinigung der Geschlechtszellen (Eizellen und Spermien) bei der Befruchtung, die bereits Mendel vorwegnahm. Die dem „Zufall“ überlassene Aufteilung der elterlichen Chromosomen während der Reduktionsteilung der Meiose, die der Bildung der reifen Geschlechtszellen mit einfachem Chromosomensatz vorangeht, und der Nachweis von ungerichteten, bleibenden Veränderungen (Mutationen) der Erbsubstanz (DNA oder RNA) sind weitere hervorstechende biologische Rollen zufälliger Ereignisse.3
Darüber hinaus wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Fülle experimenteller Belege dafür gefunden, dass fundamentale molekulare Zellprozesse stochastischer Natur sind, etwa die Verdopplung und Rekombination der DNA oder die als Genexpression bezeichneten Prozesse, die zur Proteinbiosynthese hinführen.4 Wir können daher von einem Aufstieg des stochastischen Paradigmas in der Biologie sprechen.
Doch verfügen wir über geeignete Bezeichnungen und Begriffe, um Lebensvorgänge auf der Zell-, Zellverbands- und Organismenebene angemessen zu beschreiben? Können insbesondere Maschinen, mit ihren Zahnrädern, Achsen, Hebeln und Bolzen, auch weiterhin bestehen? Benötigen wir mechanische und andere bildhafte Analogien? Tatsächlich sind Metaphern in der Wissenschaftssprache allgegenwärtig. Ohne Analogien und begriffliche Metaphern kommen wir offenbar nicht aus.5