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Irrfahrt und Diffusion in der Zelle

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Es sind sowohl neue theoretische Ansätze als auch experimentelle Methoden, welche die Naturwissenschaften vorantreiben. Im Falle der Diffusionserscheinungen und deren Analyse ging die Theorie voran. Kongeniale biophysikalische und molekulargenetische Methodenentwicklungen ermöglichen es seit Mitte der 1990er Jahre, effektive Diffusionskoeffizienten auch in prokaryotischen Zellen wie E. coli und in eukaryotischen Zellen sowie deren Organellen experimentell zu bestimmen.6

Für die Beschreibung von diffusionsabhängigen molekularen Interaktionen und Transportphänomenen in der lebenden Zelle und ihren Kompartimenten brachten namentlich zwei methodische Entwicklungen den Durchbruch: die gentechnische Isolierung des Gens eines grün fluoreszierenden Proteins (GFP) und die Entwicklung leistungsfähiger Fluoreszenzmikroskope. GFP erwies sich als ein äußerst nützliches „molekulares Werkzeug“ zum Studium der Genexpression, der Lokalisierung und der Interaktionen von Proteinen in einzelnen Zellen. Sogar einzelne makromolekulare Komplexe, die sprichwörtlichen Nadeln im Heuhaufen, konnten nun in lebenden Zellen lokalisiert und zeitlich „verfolgt“ werden. Den entscheidenden Anstoß lieferte eine 1994 erschienene Arbeit, in der gezeigt wurde, dass GFP auch bei der rekombinanten Expression, als fusioniertes Protein, in verschiedenen Zelltypen, unter anderem in E. coli, intensive, direkt sichtbare Fluoreszenz zeigt.7 Das aus 238 Aminosäureresten bestehende GFP stammt ursprünglich aus einer lumineszierenden pazifischen Qualle, Aequorea victoria. Hier bezieht das GFP die Anregungsenergie strahlungsfrei aus der weniger effizienten Chemilumineszenz-Reaktion des Photoproteins Aequorin und emittiert diese Energie längerwellig als grüne Fluoreszenzstrahlung mit hoher Quantenausbeute von ungefähr 70 %.

GFP ist ein kompaktes, außerordentlich stabiles Protein, aber nicht sonderlich leuchtstark. Durch Mutationen des gfp-Gens wurden Varianten erhalten, die eine vielfach höhere Fluoreszenzintensität und ein verringertes Photobleichen zeigen, und damit ein verbessertes Signal-Rausch-Verhältnis.8

Die Fusion von Proteinen mit GFP, EGFP oder anderen GFP-Varianten eröffnete neue Möglichkeiten für die Untersuchung intrazellulärer Prozesse. Eines der beeindruckendsten Beispiele ist die Aufklärung der Dynamik des Min-Systems, bestehend aus den Proteinen MinC, MinD und MinE, welches die korrekte Positionierung des Z-Rings in der Mitte eines teilungsfähigen E. coli-Bakteriums bewirkt. Die Bildung des Z-Rings aus dem bakteriellen „Zytoskelettprotein“ FtsZ geht der Zellwandbildung zeitlich voran; die Konstriktion des Z-Rings leitet die Zellteilung ein. Das Fehlen des Min-Systems führt zu einem großen Prozentsatz von asymmetrischen Zellteilungen in der Nähe der Pole, wodurch Tochterzellen mit zwei Chromosomen und „Minizellen“ ohne Chromosom entstehen.9

MinC, der Gegenspieler (Antagonist) von FtsZ, unterbindet die Polymerisation von FtsZ – die Bildung von FtsZ-Filamenten – abseits der Zellmitte. Die fluoreszenzmikroskopischen Untersuchungen des Min-Systems in lebenden Zellen lieferten mit Hilfe von GFP ein überraschendes Ergebnis: Die GFP-fusionierten Proteine MinC und MinD zeigten zeitlich oszillierende Konzentrationsmuster in den beiden Zellhälften. Im Zeitmittel ergeben sich hieraus Konzentrationsgefälle von MinC und MinD, mit höheren Konzentrationen an den Zellpolen und einem Minimum in der Zellmitte. Die komplexen Oszillationsmuster sind anschauliche Beispiele für intrazelluläre Selbstorganisation. Sie wurden sowohl durch etablierte Modelle der Musterbildung – Reaktions-Diffusions-Modelle , deren Anfänge bis zu einer theoretischen Arbeit von Alan Turing (1912 - 1954) aus dem Jahr 1952 zurückreichen, nachgebildet, als auch durch stochastische Diffusionsmodelle.10

Weiterhin konnte die Dynamik und Bildung des Z-Ringes aus FtsZ in einzelnen E. coli-Zellen in Echtzeit verfolgt werden. Dazu wurde FtsZ ebenfalls mit GFP fusioniert. So wurden scharfe Fluoreszenzbilder der FtsZ-Strukturen erhalten.11

Gefälle (Gradienten) von sogenannten Morphogenen spielen eine essentielle Rolle in der frühen Embryonalentwicklung der schwarzbäuchigen Taufliege (Drosophila melanogaster). Diese Morphogene sind Transkriptionsfaktoren, also Proteine, die abhängig von ihrer lokalen Konzentration eine Aktivierung oder Reprimierung nachgeschalteter zygotischer Entwicklungsgene bewirken. Nach dem bahnbrechenden experimentellen Nachweis eines Morphogengradienten – des Konzentrationsgefälles des Transkriptionsfaktors Bicoid vom Vorderpol in Richtung Mitte des frühen Embryos der Taufliege – wurde es eines der vorrangigen Ziele, die Bedeutung solcher Gradienten für die Entstehung embryonaler Entwicklungsmuster zu verstehen.12 Das grün fluoreszierende Protein ermöglichte auch hier, die Entstehung und Dynamik von Morphogengradienten in vivo im molekularen Detail zu untersuchen. Ein wichtiger Aspekt bestand darin, herauszufinden, wie reproduzierbar sich der Bicoid-Gradient bildet. Mit Hilfe von Bicoid-EGFP konnte diese Fragestellung in Angriff genommen werden: Der Bicoid-Gradient entsteht innerhalb von zwei Stunden nach der Befruchtung der Eizelle; in dieser Zeit durchläuft der Embryo 13 schnelle mitotische Zyklen ohne Zellwandbildung. Bemerkenswert: Die Variabilität des Gradienten ist vergleichsweise gering, der exponentiell abnehmende Proteingradient (vom Vorder- zum Hinterpol des Embryos) wird mit einer Genauigkeit von etwa 10 % von Embryo zu Embryo reproduziert. Dieser Genauigkeitsgrad zeigte sich auch für die maximalen Bicoid-Konzentrationen nach den aufeinanderfolgenden Kernteilungen, obwohl sich die Zahl der Kerne jeweils verdoppelte und sich das Kernvolumen während der frühen Embryogenese generell vergrößert. Eine ähnliche Genauigkeit der Embryo-zu-Embryo-Reproduzierbarkeit (8 %) wurde nachfolgend für die Zahl der bicoid-mRNA-Moleküle festgestellt. Eine Reproduzierbarkeit von 8 bis 10 % erscheint auf den ersten Blick nicht sonderlich beeindruckend; doch es war eine Überraschung. Erklärbar wird dieser Genauigkeitsgrad durch die große Zahl der bicoid-mRNA-Moleküle von knapp einer Million und die etwa hundertfach höhere Anzahl der Bicoid-Proteinmoleküle in zwei Stunden jungen Embryos, welche die stochastische Variabilität der Genexpression durch das statistisch-physikalisches Prinzip der zeitlichen und räumlichen Mittelung begrenzen und ausgleichen.13

In diesem Fall, wie im vorhergehend behandelten Min-System, interessieren natürlich die den geschilderten Mustern zugrunde liegenden dynamischen Prozesse. An dieser Stelle wollen wir uns nur die Rolle der Diffusion für die Bildung und Erhaltung des Bicoid-Gradienten näher ansehen. Neuere Untersuchungen bestätigten frühere Befunde, dass sich die bicoid-mRNA vorwiegend (> 90 %) und stabil innerhalb von 20 % des anterioren (vorderen) Embryovolumens lokalisiert, und dass dort das Bicoid-Protein synthetisiert wird. Somit ist es erforderlich, dass sich das Bicoid-Protein vom Syntheseort aus verteilen muss, damit sich der Gradient innerhalb des Embryos ausbilden kann; dies geschieht höchstwahrscheinlich durch einfache Diffusion.14

Nicht nur die Dynamik und Lokalisation von Proteinen, sondern auch die von mRNA-Molekülen, konnte durch die Verwendung von GFP-Varianten untersucht werden. Von besonderer Bedeutung: Wie finden einzelne exportfähige mRNA-Komplexe – Boten-Ribonukleoprotein (mRNP)-Komplexe – eine der Kernporen in der Kernmembran? Die Antwort ermöglichte wiederum der Einsatz von fluoreszierenden „Sonden“. Eindrucksvolle Ergebnisse erbrachte die Bindung einer mRNA (ß-Actin-mRNA) an multiple Moleküle einer gelb fluoreszierenden GFP-Variante (YFP). Die hierdurch erzielte Fluoreszenzverstärkung ermöglichte es, das Diffusionsverhalten einzelner mRNPs in Zellkernen lebender Zellen zu untersuchen. Diese Experimente demonstrierten in Übereinstimmung mit früheren Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen, dass mRNP-Komplexe sich mehrheitlich durch „einfache“ Diffusion, ohne Richtungsbevorzugung (isotrop), im Kernplasma bewegen. Diese Komplexe finden also eine der Kernporen, durch welche sie ins Zytoplasma gelangen, durch eine Brown’sche Irrfahrt (Abbildung 4).15

Die bakterielle Zytokinese und die frühe embryonale Entwicklung von Drosphila verdeutlichen, dass in der „Mittelwelt“ mesoskopischer Größenordnung Diffusionsprozesse wesentliche Zellfunktionen erfüllen. Hierzu zählen auch intrazelluläre Transportfunktionen – wie im Falle der mRNPs in eukaryotischen Zellkernen.


ABBILDUNG 4: Zweidimensionale Irrfahrt (Monte-Carlo-Simulation). Die Schrittlängen und –richtungen wurden nach dem Zufallsprinzip bestimmt.

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