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Das mechanistische Modell des Lebens

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Wir kommen nun zu der Frage, was denn lebende Organismen von Maschinen unterscheidet. Es war Immanuel Kant (1924 - 1804), der 1790 in seinem Werk „Kritik der Urteilskraft“ eine scharfsinnige Analyse vornahm. Kant führte aus, dass ein Naturprodukt (Lebewesen) „als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“ anzusehen sei, in dem „die Teile desselben sich dadurch zur Einheit des Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.9

In heutiger Fassung: Es sind komplexe Formen der zirkulären Kausalität und die autonome Selbstorganisation, welche die selbstreproduktiven Zellen und mehrzelligen Organismen von Maschinen unterscheiden.10

Dem Maschinenbild der Lebewesen erteilt Kant eine Absage, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt:

In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der anderen, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung der anderen; ein Teil ist zwar um des anderen willen, aber nicht durch denselben da (…) Daher bringt auch so wenig, wie ein Rad in der Uhr das andere, noch weniger eine Uhr andere Uhren hervor, so daß sie andere Materie dazu benutzte (sie organisierte); (…) oder bessert sich etwa selbst aus, wenn sie in Unordnung geraten ist: welches alles wir dagegen von der organisierten Natur erwarten können. – Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine (…)11

Kants erhellende Ausführungen zum Maschinenbild lebender Organismen sind von der Mehrzahl der Biologen mehr als ein Jahrhundert lang ignoriert worden. Rudolf Virchow (1821 - 1902) verkündete Mitte des 19. Jahrhunderts, im Einklang mit der vorherrschenden antivitalistischen Position, die mechanistische Auffassung des Lebens mit den Worten:

Leben ist nur eine besondere Art der Mechanik, und zwar die allerkomplizierteste Form derselben (…)12

Anderthalb Jahrhunderte später beobachtete der Physiker Paul Davies:

In völligem Gegensatz zum Vitalismus steht die mechanistische Theorie des Lebens. Ihr zufolge sind lebende Organismen komplexe Maschinen, die nach den bekannten Gesetzen der Physik funktionieren (…) Die mechanistische Theorie des Lebens macht vom Maschinenjargon freizügig Gebrauch. Lebende Zellen werden als <<Fabriken<< bezeichnet, die letztlich von DNA-Molekülen >>gesteuert<< werden; diese organisieren die <<Montage<< von molekularen >>Grundeinheiten<< zu größeren Strukturen nach einem >>Programm<<, das verschlüsselt in der molekularen Apparatur steckt.13

Daviesʼ Beobachtung könnte, mit Ausnahme der umstrittenen Steuerung des Zellgeschehens durch ein „Programm“, auch als aktuelle Bestandsaufnahme problemlos durchgehen.

Mechanistische Erklärungen der Lebensvorgänge lassen sich bis zu René Descartes (1596 - 1650) zurückverfolgen. Im 18. und 19. Jahrhundert bildete die mechanistische Auffassung der Lebensprozesse ein Gegengewicht zur Annahme einer Lebenskraft (lat. vis vitalis). Vitalistische Ansichten vertraten im 19. Jahrhundert herausragende Wissenschaftler wie der Physiologe Johannes P. Müller (1801 - 1858), der Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur (1822 - 1895) und später der Entwicklungsphysiologe und Philosoph Hans A. Drisch (1867 - 1941). Eine antivitalistische, mechanistische Gegenposition vertraten Justus von Liebig (1803 - 1873), Hermann von Helmholtz (1821 - 1894) und der mit diesem befreundete Physiologe Emil H. du Bois-Reymond (1818 - 1896) sowie Jacques Loeb (1859 - 1924); Letzterer vertrat eine extrem mechanistische Auffassung des Lebens.14

Damit drängt sich die Frage auf, was denn unter Maschine, und vor allem unter Mechanismus, zu verstehen ist. Beide Begriffe – oder vielmehr Metaphern – beherrschen seit den triumphalen Erfolgen der Molekularbiologie in den 1950er und 1960er Jahren bis in die Gegenwart die biochemischen und zellbiologischen Erklärungsmuster. Für den Begriff Mechanismus finden sich in Nachschlagewerken vielerlei Bedeutungen, von denen uns vor allem zwei interessieren. Einerseits bezeichnet Mechanismus die Anordnung verbundener Teile in einer Maschine; diese Bedeutung veranschaulicht den engen, wechselseitigen Zusammenhang der Begriffe Maschine und Mechanismus.15 „Mechanismus“ hat außerdem die Bedeutung einer Folge von aufeinanderfolgenden Schritten in einer (bio-)chemischen Reaktion – geläufig als „Reaktionsmechanismus“ oder verallgemeinert als „molekularer Mechanismus“.

Überdies sprechen biologische Fachtexte von Mechanismen der Vererbung, der Befruchtung, der Meiose, Mitose und sogar von Mechanismen der Evolution.

Maschinen können äußerst kompliziert sein, sind sie auch komplex? Und ist das Adjektiv kompliziert, das Rudolf Virchow in der Steigerung „allerkomplizierteste Form“ verwendet, geeignet, die vernetzten molekularen Prozesse einer Zelle zu beschreiben? Betrachten wir eine modular aufgebaute mechanische Maschine, etwa ein Uhrwerk. Ein Uhrwerk kann in seine Teile zerlegt und wieder zusammengesetzt werden: Uhren sind „nur“ sehr kompliziert – nach einem detaillierten Konstruktionsplan aufgebaut; ihre Funktionsweise kann durch das Studium der einzelnen Teile verstanden werden.

Komplexe Systeme sind hingegen durch emergente Eigenschaften charakterisiert. Unter Emergenz versteht man Eigenschaften des Gesamtsystems, welche nicht aus den Eigenschaften der Teilsysteme ableitbar sind, wie die Eigenschaft „lebend“ der integrierten Zelle aus den Eigenschaften der isolierten Organellen (Zellkern, Mitochondrien usw.) und des Zytoplasmas. Hinzu kommt, dass schon die genannten Teilsysteme der Zelle, supramolekulare Strukturen und aus mehreren Komponenten bestehende Makromoleküle eine hochkomplexe Ordnung und emergente Eigenschaften aufweisen. Es ist offensichtlich: Emergenz stellt eine neuzeitliche Variante des aristotelischen „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ dar. Lebend ist sicherlich diejenige emergente Eigenschaft, welche nach wie vor das faszinierendste Rätsel der Biologie darstellt.16 Dies führt uns weiter zu der Frage nach der Entstehung und dem Wesen der Ordnung lebender Systeme.

Zufall im Leben der Zelle

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