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Diffusionsabhängige Wechselwirkungen

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Für die Aufrechterhaltung intrazellulärer und interzellulärer Lebensprozesse sind molekulare Interaktionen unabdingbar. Biochemische Reaktionspartner werden lokal durch Brown’sche Bewegung zusammengeführt; diese Mikrokollisionen gehen der spezifischen Bindung (Assoziation) von (Makro-)Molekülen an molekularen Zielorten wie den Rezeptoren voraus.

Bevor die Reaktionspartner in spezifische Wechselwirkung treten können, ist oft deren Transport erforderlich, und zwar über Entfernungen, welche die molekularen Dimensionen deutlich überschreiten. Diffusion, obwohl eine vergleichsweise langsame Form des Stofftransports, spielt auch hier eine essentielle Rolle, besonders in den Zellkompartimenten. Dies hat eine Vielzahl von Untersuchungen belegt. Wenden wir uns deshalb nun den Zeitaspekten von Diffusionsprozessen zu. Im „Standardmodell“, das Albert Einstein und Marian von Smoluchowski behandelten, wird die räumliche Ausbreitung während einer bestimmten Zeitspanne betrachtet – oder mit anderen Worten: die Entfernungen, welche die diffundierenden Teilchen oder (Makro-)Moleküle in einem vorgegebenen Zeitintervall zurücklegen. Wesentliche Charakteristika dieses theoretischen Modells sind hierbei, dass sich die ausdehnungslos angenommenen Teilchen anfänglich in einem Punkt konzentrieren und dass deren Anzahl sowie das Volumen (bei der ein- oder zweidimensionalen Diffusion entsprechend die Gerade beziehungsweise Ebene) „unendlich groß“ sind. Ferner sollen die Teilchen/​(Makro-)Moleküle unabhängig voneinander diffundieren. Praktisch werden diese Annahmen von verdünnten Suspensionen und Lösungen näherungsweise erfüllt, wobei Reflektionen oder Absorptionen an den Gefäßwänden als vernachlässigbar angesehen werden. Auf die Diffusion in (annähernd) idealen Lösungen oder Gasen bezieht sich das oben erwähnte mittlere Verschiebungsquadrat.

Alternativ können wir uns dafür interessieren, wieviel Zeit ein Teilchen oder (Makro-)Molekül (im Mittel) benötigt, um einen bestimmten Zielort in einem räumlich begrenzten Gebiet – in einem endlichen Volumen, einer umgrenzten Fläche oder einer linearen Strecke –, erstmals zu erreichen. Diese komplementäre Fragestellung wird von der Erstpassagezeit-Methode behandelt.16 Sie bietet sich an, wenn, wie in den durch Membranen begrenzten Zellorganellen, auf Zellmembranen oder DNA-Molekülen, die Volumina, Flächen oder Entfernungen endlich sind und einzelne oder wenige diffundierende (Makro-)Moleküle sowie einzelne Zielorte der spezifischen Interaktionen betrachtet werden.

Das führt uns zurück zum Zellgeschehen. Ein charakteristisches Merkmal der Expression proteincodierender Gene in eukaryotischen Zellen ist die räumliche Trennung der Gen-Transkription, die im Zellkern erfolgt, und der Proteinsynthese, die im Zytoplasma stattfindet. Diese Trennung erfordert die Translokation der exportfähigen mRNP-Komplexe aus dem Zellkern in das Zytoplasma. Zunächst einmal müssen die mRNPs die Kernmembran erreichen und dort an einen der 2.000 bis 3.000 Kernporenkomplexe andocken, die den Transport ins Zytoplasma übernehmen. In der Regel kommen mRNAs und die aus diesen hervorgehenden mRNPs nicht in Scharen vor. Im Gegenteil: In Humanzellen sind rund 95 % der Transkripte in höchstens fünf Kopien vorhanden; in Hefezellen wurde Ähnliches gefunden – 80 % der mRNAs sind höchstens doppelt vorhanden.17

Das Vorliegen einzelner mRNPs lässt ein stochastisches Zeitmuster des Aufspürens der Kernporen und der Bindung an dieselben durch Brown’sche Irrfahrt erwarten. In herkömmlichen Modellen, die auf grundlegende Arbeiten von Marian von Smoluchowski zurückgehen, ergeben sich deterministische Gesetzmäßigkeiten molekularer Interaktionen durch die Überlagerung der Brown’schen Bewegungen einer sehr großen (unendlichen) Zahl von Teilchen oder (Mako-)Molekülen in makroskopischen (unbegrenzten) Volumina oder Flächen.

In endlichen, kleinen Volumina, auf begrenzten Flächen oder Strecken können diffusionsabhängige Interaktionen einzelner Reaktanten unter bestimmten Bedingungen trotzdem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfolgen. Ein vereinfachtes Modell soll uns helfen, die wesentlichen Prinzipien zu erkennen. Dazu betrachten wir einen kugelförmigen Zellkern, in dem ein einzelner mRNP-Komplex an einer beliebigen Position innerhalb des Kerns eine unbehinderte Irrfahrt beginnt. Uns interessiert nun erstens die Erstpassagezeit, das ist die Zeit, die der mRNP-Komplex benötigt, bis er das erste Mal die Kernmembran erreicht, und weiterhin die Wahrscheinlichkeit, dass dies innerhalb eines gewissen Zeitfensters geschieht. Erwartungsgemäß variieren die Erstpassagezeiten, aber es gibt keine „wahrscheinlichste“ Erstpassagezeit. Lange Zeiten bis zum Erreichen der Kernmembran, die beispielsweise das 5-fache der durchschnittlichen Passagezeit überschreiten, sind unwahrscheinlich – für Zellkerne mit einem Radius von 8 µm und einem effektiven Diffusionskoeffizienten von 0,04 µm2/s (beides gemessene Werte in humanen Osteosarkomzellen). Andererseits ergibt sich nur eine Wahrscheinlichkeit von 0,67 dafür, dass ein mRNP-Komplex für das Erreichen der Kernmembran nicht länger als die durchschnittliche Erstpassagezeit benötigt – das ist weit entfernt von einem sicheren Ereignis. Das Bild ändert sich, wenn, wie bei Hefe-Zellkernen, der Radius nur 0,8 µm, ungefähr 1/​10 des Osteosarkom-Zellkernradius, beträgt: Bei Annahme desselben niedrigen Wertes für den Diffusionskoeffizienten von 0,04 µm2/s können einzelne mRNPs jetzt eine Kernpore in weniger als 100 Sekunden mit praktischer Sicherheit lokalisieren.18

Diese Modellrechnungen veranschaulichen, dass die Verringerung des Volumens ein wirksames Mittel sein kann, um die Effizienz des Aufspürens von spezifischen Zielorten oder generell von diffusionskontrollierten Interaktionen zu erhöhen, insbesondere wenn die Zahl der interagierenden (Makro-)Moleküle und Rezeptoren sehr klein ist. Unser spezieller Fall weist auf ein generelles Prinzip hin: Die für die Zellorganisation charakteristische strukturelle und funktionelle Kompartimentierung erhöht die Wahrscheinlichkeit für makromolekulare Interaktionen; unter bestimmten zellulären Bedingungen können Interaktionen von wenigen mobilen Makromolekülen und einzelnen „Zielen“ (engl. targets) mit großer Effizienz erfolgen. Ein solcher exemplarischer Fall wird uns bei der Regulation des Lactose-Operons in E. coli begegnen.

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