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Es passiert Seltsames

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Zu Hause angekommen, setzte sich Phil an den Wohnzimmertisch, schaltete das Radio ein und machte sich an seine Hausaufgaben. Der grün gekachelte Kohleofen summte. Das Zimmer war überheizt.

Phil konnte sich nicht recht konzentrieren. Seine Gedanken liefen zwischen der Exotischen und Julia hin und her. Phil stützte den Kopf in die Hände und ärgerte sich über die lasche Radiomusik. Englischen Pop gab es nur einmal in der Woche, Donnerstagabend um halb acht, in der „Internationalen Hitparade“.

Unten an der Haustür drehte sich ein Schlüssel im Schloss, die Tür schlug auf und klappte dann wieder zu. Die Schritte liefen vorsichtig die Holztreppe hinauf, aber es knarrte dennoch. Dann vernahm Phil, dass über ihm, im Obergeschoß jemand auf und ab ging.

Um die Haushaltskasse etwas aufzufüllen, war seit kurzem sein Zimmer vermietet worden. Er hatte dafür ein kleines Zimmer, direkt hinter dem Bad, das frühere Bügelzimmer, bezogen. Ein großer Tisch passte in dieses Zimmer nicht hinein, so dass er seitdem seine Schulaufgaben im Wohnzimmer erledigte.

Die Großmutter hatte an die Bahnpost vermietet. Die hatten preiswerte Unterkünfte für Postbetriebsassistenten gesucht, deren Aufgabe darin bestand, mit dem Zug umherzureisen und währenddessen Postsendungen zu sortieren. Zwischen zwei Schichten wurden Schlafpausen eingelegt. Die Ansprüche der Bahnpostler an den Zimmerkomfort waren bescheiden: es gab prinzipiell Doppelzimmer und statt fließenden. Wassers reichte eine Porzellanwaschschüssel mit einem 5 Liter Krug. Zum Verrichten der Notdurft konnte die Familientoilette mitbenutzt werden.

Die Herren waren im Allgemeinen nett und unauffällig, was sich die Großmutter, der das Haus gehörte, auch ausbedungen hatte.

In letzter Zeit waren die Postler, die in wechselnder Besetzung erschienen, um ihren Erholungsschlaf zu absolvieren, bei der Großmutter in Verdacht geraten, böswilligen Unfug zu treiben: es war aufgefallen, dass die Holzbrille des neuen Wasserspülklosetts am Innenrand durch längliche Einkerbungen verunstaltet worden war. Aber damit nicht genug: die Beschädigungen nahmen von Woche zu Woche zu und beeinträchtigten allmählich den Sitzkomfort. Neulich hatte sich Großmutter einen Holzsplitter in ihren edelsten Körperteil gespießt und im Kreise der kleinen Familie angekündigt, dass sie die Nase voll habe und den Postler überführen werde, der sich diese eines erwachsenen Menschen unwürdigen und kindischen Scherze herausnehme.

So strich Oma Sanny gelegentlich mit zugehaltener Nase an der WC-Tür vorbei verweilte kurz, legte ein gespitztes Ohr an, entfernte sich wieder, erschien noch einmal, um zu horchen und den Übeltäter, der offenbar sein Taschenmesser an unpassender Stelle ausprobierte, zu stellen.

Die Recherchen blieben erfolglos. Ein Postler hatte sogar die Dreistigkeit, sich zu beschweren und bezichtigte die Großmutter befremdlicher Neigungen, da sie sich in voyeuristischer Manier wiederholt dem Örtchen unziemlich genähert habe. Dieses Verhalten sei niemanden zuzumuten, da er – der Postler – sich gehemmt fühle und nicht in der Lage 'die Entleerungen in der notwendigen Weise vornehmen zu können, wenn ständig jemand mit dem Ohr an der Tür liege. Geräuschentwicklungen seien bei diesem Geschäft unvermeidlich und der nahezu zwangsläufige Versuch, sich aus Scham einzuschränken und das eine oder andere zurückzuhalten, absolut unbekömmlich. Im Übrigen solle sie sich doch als bereits betagte Dame der Würde ihres Alters bewusst werden und solchen Schweinkram unterlassen.

Er gehe davon aus, dass weitere Aktivitäten dieser Art unterblieben, wolle die Großmutter nicht riskieren, dass der Mietvertrag – und damit der einträgliche Nebenverdienst – aufgekündigt werde!

„Der soll sich nicht so anstellen“, meckerte die Großmutter. Aber die Vorhaltungen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt und eine Weile mied Oma Sanny das WC-Umfeld, wenn Postassistenten ihre Sitzungen hielten.

Die Verunstaltung der WC-Brille nahm jedoch ihren Fortgang.

Jetzt waren es die Postler, die initiativ wurden eine neue Brille müsse her! Einer der Postler hätten die splittrigen Riefen und Rinnen bereits Löcher in die Unterhose gerissen.

„Das ist ja die Höhe“, empörte sich die Großmutter. „Erst die Sachen kaputtmachen und dann den Vermieter zur Kasse bitten! Das haben die sich so gedacht! Ich werde die Sache mit Herr Koszwick besprechen!“

Herr Koszwick war Großmutters Favorit und galt als besonders umgänglich und präsentabel, da ihn nur widrigste Umstände – die Kriegswirren – v-o einer außerordentlichen beruflichen Karriere abgehalten hatten.

Herr Koszwick hatte im Krieg die Reifeprüfung abgelegt, in der Nachkriegszeit mehrfach auf das falsche Pferd gesetzt, wie er sich etwas nebulös ausdrückte, und sich schließlich als gebranntes Kind, für die Sicherheit des Beamtentums entschieden. Er hatte, unter vorübergehender Zurückstellung höherer Ambitionen, sich mit der „unteren Laufbahn“ beschieden.

Wobei die jetzt ausgeübte Tätigkeit weit unterhalb seiner wahren Möglichkeiten läge und ihn nicht im Mindesten fordere. So sei er gerade dabei, sozusagen als Einstieg in eine zweite Karriere bei der Post, sich auf die Inspektorenprüfung vorzubereiten. Die Durchfallquote bei dieser Prüfung sei enorm hoch, aber er zweifele nicht im Mindesten daran, dass er sie bestehen werde. So er aber die Position eines Postinspektors erreicht habe, werde er sich hiermit keineswegs zufrieden geben, sondern in kürzester Zeit zum Amtmann – „mindestens“ – empor gearbeitet haben: „Das Wissen ist da und weshalb sollten sich nicht auch einmal die fähigen und fleißigen unter uns durchsetzen?“

Herr Koszwick machte diese Ausführungen auf dem Treppenabsatz, zwischen Erdgeschoß und Postschlafzimmer, und beeindruckte die Großmutter nachhaltig.

Herr Koszwick vergaß auch nicht, hinzuzufügen dass er, der derzeit weit unter seinen intellektuellen Möglichkeiten agieren müsse, sich ständig auf der Suche nach anregenden Gesprächen befinde, um das tröge Einerlei des Postleralltags aushalten zu können. Da komme ihm ein Gedankenaustausch mit einer so gebildeten Frau -die Großmutter riss die Augen auf und zupfte ihren Rock zurecht- sehr zu passe.

Das hatte noch niemand zu ihr, der Witwe eines Oberlokomotivführers, gesagt, aber Herr Koszwick war auch ein besonders guter Menschenkenner.

Herr Koszwick erläuterte, er lehne es ab, seine Zeit mit primitivdenkenden Menschen, die nicht über ihren Horizont hinaus denken könnten, zu plaudern, dies sei pure Zeitverschwendung.

„Ich frage Sie, liebe, verehrte gnädige Frau, wie viel Zeit steht uns in unserem knapp bemessenen menschlichen Dasein zur Verfügung?

Wir wissen es nicht! Daher habe ich es mir zum Prinzip gemacht, auch meine Freizeit nicht zu vertun, sondern der Weiterentwicklung von Geist und Persönlichkeit unterzuordnen!“

Über die Schlafstatt hinaus, die ihm hier aufs Reinlichste geboten werde, strebe er danach, sich wenigstens außerhalb der Dienstzeit als geistiges Wesen fühlen zu dürfen. Die stupide Tätigkeit des Briefesortierens, die man ihm zugedacht habe, sei eine Beleidigung seines Intellekts.

„Und zu dem Intelligenzstand meiner Kollegen“, Herr Koszwick verzog die Mundwinkel, „möchte ich mich erst gar nicht äußern!“

Umso mehr wisse er das anregende Klima des Hauses zu schätzen. Und bei diesem zwischen Tür und Angel geführten Gespräch streiften seine Blicke begierig die Gestalt von Phils Mutter, die gerade in der Küchentür erschienen war, darob zurückschreckte und die Tür wieder zuwarf.

Ein paar Tage später stand Herr Koszwick nachmittags vor der Wohnzimmertür, eine Tüte mit Teegebäck in der Hand und dem Vorschlag auf den Lippen, doch einmal ein kleines Plauderstündchen einzulegen, um sich gegenseitig besser kennenzulernen: „Wo wir doch Tür an Tür schlafen!“

Danach stand nun der Mutter ganz und gar nicht der Sinn, aber die Großmutter, ohnehin gerade beim Kaffeekochen, fand diesen Vorschlag bedenkenswert und griff ihn gerne auf.

Und so wurde Herr Koszwick herein und für die Unordnung im Zimmer um Nachsicht gebeten; mit Besuch habe man nicht gerechnet.

Herr Koszwick schaute sich mit scharfem Blick um, aber er versicherte, es sei alles aufgeräumt wie in einer Puppenstube – vor so viel Ordnungssinn und Sauberkeit ziehe er den Hut.

Anschließend hatte Herr Koszwick in gemütlicher Runde, bei einem Plausch, Gelegenheit, seine überdurchschnittliche Allgemeinbildung unter Beweis zu stellen.

Nur mit Mühe fand gegen Ende des Nachmittags die Großmutter Gelegenheit,

Herrn Koszwicks Redeschwall kurzfristig zu unterbrechen, ihm ihren grässlichen Verdacht anzuvertrauen und um Mithilfe in diesem Kriminalfall zu ersuchen.

Herr Koszwick wollte zwar nicht für alle Bahnpostbetriebsassistenten seine Hände ins Feuer legen, aber der von der Großmutter geäußerte Verdacht kam ihm denn doch zu ungeheuerlich vor. Wir haben es schließlich mit erwachsenen Menschen zu tun, verehrte Frau Iffezheim!“

Es wurde dennoch beschlossen, dass nun auch Herr Koszwick die Augen offenhalten solle. Er versprach es hoch und heilig.

Aber auch Scharfsinn und Genie Herrn Koszwicks vermochten die Aufklärung der Untat nicht zu beschleunigen.

„Ich habe da so meine Vermutungen.“, äußerte Herr Koszwick ein über das andere Mal, ohne sich jedoch von den beiden Frauen auf eine konkrete Spur festnageln zu lassen. „Noch ist die Zeit nicht reif.“

Herr Koszwick setzte sich in seinem Sessel gerade auf, um sich genüsslich eine der von der Großmutter bereitgestellten Zigarren anzuzünden. Und während er zu paffen begann, dass das kleine Wohnzimmer im weißlich-grauen Rauch versank, gab er, so ganz nebenbei, zu verstehen, dass er mit den Wissenschaften, insbesondere Astronomie – „nicht der Astrologie, liebe Frau Iffezheim“ – auf Du und Du stehe.

Wenn er nicht gerade Schach spiele oder eines der herrlichen Museen seiner Heimatstadt Frankfurt besichtige, widme er die verbleibende Freizeit der anspruchsvollen Literatur.

Zurzeit lese er Thomas Mann. Den „Zauberberg“. „Etwas dick, aber das schreckt mich nicht!“

Am liebsten seien ihm die Klassiker. Goethe zum Beispiel, wie/wohl er dessen Lyrik für grandios überschätzt halte. Darüber habe er sich kürzlich mit Professor Hagedorn in Freiburg unterhalten können, einem Germanisten, der ihm voll beigepflichtet habe. Professor Hagedorn sei ein alter Schulfreund.

Während er, Herr Koszwick, wann immer er Zeit fände, sich der Literatur hingebe, verabscheue er das Fernsehen: „Nur flache Unterhaltung, nichts für geistig wache Menschen!“ Ansonsten sehe er sich höchstens die Tagesschau an, man müsse schließlich informiert sein und wissen, was auf der Welt passiere! Auch manche Literaturverfilmungen könne man durchgehen lassen. Aber das meiste halte seinem kritisch-analytischem Geiste nicht stand.

„Umso mehr schätze ich es, dass Sie, liebe Frau Iffezheim und Sie, sehr verehrte gnädige Frau Breitenbach, es gleichfalls verschmähen, sich auf diese billige Weise neumodisch unterhalten zu lassen”!

„Nein“, sagte die Großmutter, „wir haben das nicht nötig!“ Oma Sanny schwang im Gleichklang mit Herrn Koszwick.

„Nun, das macht nichts“, erwiderte Herr Koszwick, „wenn ich einmal die „Sportschau“ verpasse, so ist das gar nicht schlimm!“

Durch einen markerschütternden Schrei der Mutter wurde Phil aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Er katapultierte den Stuhl zurück und rannte, so rasch er konnte, in den unteren Flur, woher der Schrei gekommen war.

Die Mutter stand in der offenen WC-Tür, kalkweiß und zitternd.

„Da, da!“ stammelte sie und zeigte auf das Wasserspülklosett, dessen Deckel an die Wand gelehnt war. Jetzt traf auch die Großmutter im bodenlangen, weißen Nachthemd mit Spitzensaum am Ort des Geschehens ein, aus ihrem späten Mittagsschlaf herausgerissen.

„Was ist denn los, Elisabeth? Haben wir endlich den Kerl?“ die Großmutter ballt die Fäuste, zu allem entschlossen.

Frau Breitenbach war noch nicht sprechfähig.

Die Holztreppe im ersten Geschoß knackte und die zwei Schlafgäste von der Post, der eine im blauweißen Schlafanzug, der andere in Doppelrippunterhose- und Unterhemd, kamen gleichfalls, vorsichtig und etwas unsicher, zum Haus-WC herunter.

„Ist etwas passiert?“ erkundigte sich der Postbetriebsassistent im Doppelripp.

Die Mutter schluckte und gewann Farbe zurück.

„Elisabeth, ich bitte t ich“, herrschte die Großmutter ihre Tochter an. „Nimm Dich doch zusammen. Und sage endlich, weshalb Du das ganze Haus zusammenschreist!“

Die Mutter setzte sich auf die Steintreppe, die den Windfang führte. Während sie, noch ganz unter dem Eindruck des entsetzlichen Geschehens, zögerlich zu berichten begann, entgeisterten sich die Gesichtszüge der Großmutter von Sekunde zu Sekunde.

„Ich bin zur Toilette. Ich habe abgeschlossen. Dann habe ich den WC-Deckel geöffnet. Und dann …“ Die Mutter Phils brach in ein hysterisches Schluchzen aus. „Und dann saß sie da.“

„Wer?“ fragte die Großmutter unwirsch.

„Los, spann uns nicht so auf die Folter!“

Die Mutter nahm all ihre Kraft zusammen und fuhr stockend fort: „Mitten im weißen WC-Becken … in der Schüssel … eine riesige, braungraue Ratte! Sie hat mich direkt mit ihren bösen Kulleraugen angesehen. Oh Gott!“ Die Mutter vergrub das Gesicht in den Händen. „Und der nackte geringelte Schwanz füllte das halbe Porzellanbecken aus!“

Die Augen der Mutter schauten ins Leere, als sehe sie, während sie darüber spreche, die Ratte noch einmal vor sich.

„Furchtbar! Es war grässlich!“

„Aha“, kombinierte der blaukarierte Schlafanzug sofort, „dann hat also die Ratte die Holzbrille angenagt. Die ist aus Hunger durch die Kanalisation gekommen!“

Großmutter Sanny schwieg. Finster.

„Da gehe ich nie wieder drauf. Ich schwör‘s! Nie wieder!“ Elisabeth Breitenbach packte noch einmal der Ekel. „Allein der Gedanke, während man ahnungslos so da sitzt, von unten könne sich diese Riesenratte heranschleichen und zubeißen! Scheußlich!“

„Wo ist die Ratte jetzt?“ wollte die Großmutter wissen, die nichts von Gespenstermärchen hielt, sondern an das Nächstliegende dachte. Insgeheim ärgerte sie sich auch, dass sie mit ihrem Tatverdacht falsch gelegen hatte.

„Die Ratte hat sich kopfüber ins Wasser gestürzt und ist sofort abgetaucht.“ „Theoretisch könnte sie sich noch in dem Abwasserrohr aufhalten“, gab der Doppelripp zu bedenken.

„Nein“, kreischte die Mutter, „alles, nur das nicht!“

„Stell Dich doch nicht so an, Elisabeth!“ Die Großmutter trat an das Becken, warf einen kurzen Blick hinein und Schloss dann den Deckel.

„Unsinn, die ist jetzt weg!“

„Ich setz’ mich da auch nicht drauf“, sagte Phil. „Nachher werde ich da kastriert, bevor ich meine Zeugungsfähigkeit unter Beweis gestellt habe!“

Die Postler lachten und liefen wieder in ihre Zimmer um weiterzuschlafen.

„Da siehst Du es“, sagte später die Mutter zur Großmutter, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, „er ist schon aufgeklärt!“

Der Schulball

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