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Lullus-Fest
ОглавлениеEs war der Lolls-Dienstag des Jahres 1962.
Bad Klosterbrunn feierte sein „Lullus-Fest“, das angeblich älteste Volksfest Deutschlands. Zum Gedenken an „Bruder Lullus“, den Stift- und Stadtgründer Bad Klosterbrunns. Und zur Erinnerung daran, dass ein deutscher Oberst einen Befehl Napoleons, die Stadt an allen vier Ecken anzuzünden, wörtlich ausgeführt und damit die Stadt gerettet hatte. Beweis dafür, dass das wörtliche Befolgen militärischer Befehle auch einmal sein Gutes haben kann!
Die Stadt hatte am gestrigen Tage das „Lolis-Feuer“ entzündet, das unter Aufsicht einer Feuerwache bis zum Donnerstag brennen musste, sollte das Fest nicht an eine andere Stadt fallen, in der Lullus ebenso gewirkt hatte.
In den grandiosen Festumzug mit Pferden, Brauereiwagen, Mönchen und Stadträten hatte sich auch die Kapelle der Lolls-Schule eingereiht. Charly Bremser, der Musiklehrer, schwang den Taktstock und die Lullus-Schüler jubelten ihm zu, wenn er den „St. Louis Blues-Marsch“ blasen ließ.
Nach feuchtfröhlichen Ständchen am späten Nachmittag, die angesichts zunehmender Trunkenheit der Beteiligten, mit immer weniger aktiven Konzertteilnehmern, in der Regel vorzeitig eingestellt werden mussten, traf man sich im „Ratskeller“ oder auch im „Zigeunerkeller“, um das Lolls-Feuer abzulöschen.
Auch im „Jazz-Keller“ war es hoch hergegangen. Der „Jazz-Keller“ war eine reine Schülerkneipe und befand sich im Altstadtbereich, nahe der mittelalterlichen Stadtkirche, in einem Abriss verdächtigen Sanierungsobjekt, unter einem dort im Erdgeschoß eingerichteten Sargmagazin.
Als allgemein angenehm wurde es von den Jazz-Keiler-Gästen empfunden, dass sich die Hausinsassen des Erdgeschosses, selbst in Nächten größter Turbulenzen, niemals über Lärmbelästigungen beklagten. Und laut ging es weiß Gott im „Jazz-Keller“ zu, in dem nur selten wirklich „Jazz“ gespielt wurde. Der „Jazz-Keller“ war, in einer Zeit, in der Discos weitgehend unbekannt waren, ein Tanzschuppen und „Club“, in den man nur mit Schüler- oder Studentenausweisen hineingelangte.
Studienrat Schauerlich hatte sich des Öfteren zutiefst empört darüber gezeigt, dass die Ruhe der in diesem Haus vorübergehend Untergebrachten durch den aus der „Kellerhöhle“, wie er es nannte, heraufdringenden Lärm der „Negermusik“ aufs schändlichste gestört wurde. Vergeblich hatte er versucht, die Kollegen gegen diesen Missstand zu mobilisieren.
Schließlich versuchte er, den Magistrat der Stadt zu veranlassen, das Etablissement zu schließen, war jedoch an der Dickfälligkeit der Stadtoberen gescheitert. Diese, froh darüber, dass die Jugend endlich ein Domizil gefunden hatte, das den Stadtsäckel nicht finanziell belastete, bedeuteten Studienrat Schauerlich, sich lieber, zusammen mit den Kollegen und Oberstudiendirektor Plisch, um die Probleme der Anstalt zu kümmern: „Sorgen Sie dafür, dass in den Pausen nicht fortwährend Schüler der Lullus-Schule im Eilschritt und ohne nach rechts oder links zu sehen, neben dem Zebrastreifen, die Straße überqueren – schon mehrfach sind Unfälle nur um Haaresbreite vermieden worden!“
Studienrat Schauerlich nahm diese Anregung dankbar auf und wandte sich umgehend an Oberstudiendirektor Plisch. Im Einvernehmen mit Oberstudienrat Großkotz, dem stellvertretenden Leiter der Schule, wurde ein Wachdienst am Schultor eingerichtet, der Order hatte, überhaupt keine Schüler mehr während der Schulzeit aus dem Schulgelände heraus zu lassen.
Auf Drängen von Studienrat Schauerlich und Oberstudienrat Großkotz sah sich Plisch sodann genötigt, der Lasterhöhle unter dem Sargmagazin den Kampf anzusagen.
Plisch, der gegenüber moralischen Anliegen stets ein offenes Ohr hatte, versprach zu handeln und das in seinen Kräften stehende zu tun: „Man hat als Mensch und Pädagoge gewisse Verpflichtungen, um die Unmündigen zu schützen, denen die Kraft der Vernunft – noch nicht – zuteil geworden ist!“
Plisch ließ allen Klassenlehrern der Mittel- und Oberstufe ein Rundschreiben zukommen, in dem Lolls-Schülern aufs strengste untersagt wurde, den „Jazz- Keller“ zu betreten. Andernfalls schulerrischerseits strenge Sanktionen anstünden. Darüber nun entrüsteten sich Teile der Elternschaft, die einen solch weitreichenden Eingriff der Schule in die Privatsphäre der Schüler für nicht mehr zeitgemäß hielten. Und der Schulelternbeirat drang auf eine Rücknahme der Verordnung: „Wir werden dies nicht hinnehmen. Wir sind froh, dass wir wissen, wo sich unsere Kinder abends aufhalten!“
Etwas kleinlaut stellte sich Oberstudiendirektor Plisch dem Elternforum und trotz bitteren Protestes von Oberstudienrat Großkotz und Studienrat Schauerlich wurde die Rettungsaktion zur Bewahrung der Totenruhe über dem „Jazz-Keller“ abgeblasen.
„Man mag diese Entwicklung bedauern, lieber Kollege Großkotz, aber ich sehe angesichts des Verfalls der moralischen Grundwerte unserer Gesellschaft derzeit leider keine Möglichkeit, Ihrem berechtigten Anliegen – und dem von Studienrat Schauerlich – weitere Unterstützung zukommen zu lassen, ohne die gesamte Elternschaft gegen uns einzunehmen. Dies aber ist – denken Sie einmal an die Spendenfreudigkeit des Schulelternbeirats -, beispielsweise im Zusammenhang mit der Anschaffung von neuen Blasinstrumenten für unser Gymnasialblasorchester, meinerseits guten Gewissens nicht zu vertreten.“
So konnte an diesem Lolls-Fest im „Jazz-Keller“ ausgiebig gefeiert, getanzt und getrunken werden: mit Problemen war nicht mehr zu rechnen.
Die übernächtigten Schüler der Ofs hatten die Schulstunden des Dienstagmorgens lethargisch über sich ergehen lassen und sich nun für die letzten beiden Stunden im Zeichensaal des Leberecht Siebenzahn eingefunden.
In entspannter Atmosphäre bemühte sich hier Studienrat Siebenzahn, eierköpfig, lang und schmal, mit sehr feuchter Aussprache, vergeblich darum, die Klasse in die Grundlagen des Kartoffelstempel-Druck-Verfahrens einzuführen.
Während der Pädagoge, dessen nasse Aussprache Folge eines ausgeprägten Sigmatismus war, an der Tafel dozierte und gegen lautes Geraune vergeblich versuchte anzureden, hatte Schüler Bratfuß bereits ein mitgebrachtes, in der Schultasche verstecktes Kofferradio eingeschaltet.
Währenddessen bohrte Ede Höll emsig mit einem Schraubenzieher die als Wassergefäße dienenden Blechdosen an. Die Dosen standen, ausgeteilt und gefüllt, auf jedem Tisch, damit der Schüler seine Wasserfarben an mischen konnte.
Jedes neu von Ede Höll erzielte Loch wurde auf den hinteren Rängen mit gedämpftem Jubel begrüßt. Da dieser Jubel wiederum vom Kofferradio Bratfußens überschallt wurde, übersah Studienrat Siebenzahn das aufrührerische Treiben.
Erst nach einer halben Stunde wandte er sich an den Schüler Bratfuß: „Bitte, daf Kofferradio nicht fu laut tftellen, wir wollen die benachbarten Klaffen nicht tftören! Anfontften habe ich jetft, für Feit def Lollf-Fetftes, nicht dagegen!“
Kunstunterricht bei Studienrat Siebenzahn war ungemein beliebt. Während beispielsweise Oberstudienrat Großkotz’ und Studienrat Schauerlichs Unterrichtsstunden an Antrittsappelle auf dem Kasernenhof gemahnten, herrschte bei Siebenzahn demokratischer Freiraum. Alles war möglich! Und das ununterbrochen.
Im Laufe der Jahre hatte Siebenzahn resignierend seine halbherzigen Versuche eingestellt, den Unterrichtsstunden wenigstens einen Rest von Disziplin zu verleihen: Die pädagogische Übersicht wollte sich bei ihm einfach nicht einstellen.
Nachdem er sich einige Jahre erbitterte Gefechte mit den Schülern geleistet hatte, die ihn zermürbten, ließ er nun ergeben den Dingen ihren Lauf.
Unter den Kollegen hieß es, Siebenzahn könne sich nicht durchsetzen. Sie schüttelten den Kopf über ihn. Er war ein Versager! Und dann auch noch die Versuche Siebenzahns, sich gegenüber den Kollegen für die Einführung demokratischer Prinzipien im Schulunterricht einzusetzen!
Ein müder Versuch, von der persönlichen Insuffizienz abzulenken und die eigenen katastrophalen Unterrichtsverhältnisse zu rechtfertigen: „Man muss die Leine festzurren! Wenn die Ochsen vor den Karren gespannt werden sollen, Muss man ihnen ein festes Geschirr verpassen! Und der Gebrauch der Peitsche gehört auch dazu! Sonst ziehen sie nicht! Mit Demokratie kommt man da nicht weiter, da muss ein Machtwort gesprochen werden!“
Siebenzahn meldete sich öfters als andere krank und hinter vorgehaltener Hand munkelte man, er habe sich sogar schon zweimal als Patient in einer psychiatrischen Klinik aufgehalten.
Siebenzahns Gutmütigkeit wurde von den Schülern als Schwäche ausgelegt und zur Zielscheibe ihres Spottes. Sie bedienten sich der scheinbaren Hilflosigkeit ihres Lehrers gnadenlos. Der Wunsch Siebenzahns, freundschaftlich miteinander umzugehen, erlaubte Späße, die jedes Maß überschritten und eigentlich andere Repräsentanten des Kollegiums hätten treffen sollen! Jene nämlich, die mit restriktiver Strenge unterdrückten und Bedürfnisse beim Schüler weckten, gegen jede Art von Autorität zu opponieren. Aber leider, leider, gegen diejenigen, die es am meisten verdient hätten, war ein Aufbegehren nicht möglich!
Und wie sich das Wasser die schwächste Stelle zum Durchbruch sucht, so fanden die Schüler rasch und treffsicher in den Stunden von Siebenzahn die Gelegenheit, ihren angesammelten Frust abzuladen.
Siebenzahns Kunstunterricht war ein einziges Happening.
Mit dem Nachlassen der körperlichen Kraft und dem Ausbluten pädagogischer Ideale entwickelte sich bei Siebenzahn zusehends der Wunsch, wie bei etlichen seiner Kollegen, unter Vorgabe rheumatischer Beschwerden und diverser Ischialgien, eine Frühpensionierung anzustreben.
Aber mit der Ehe von Siebenzahn war es auch nicht zum Besten bestellt, und im kleinen Kreis vergraulte er schon einmal seinen Kollegen das Bekenntnis an, er stelle sich, indem er die Schule wähle, nur dem kleineren Übel. Und so kehrte Siebenzahn nach jedem krankheitsbedingten Ausfall immer wieder an seinen alten Arbeitsplatz zurück: Von Jahr zu Jahr etwas matter und ausgezehrter.
Von mitleidigen Lehrern angehalten, angesichts des angegriffenen Gesundheitszustandes des Kollegen Rücksicht walten zu lassen, hielten die Schüler eine Zeitlang an sich, bald aber waren die alten Verhältnisse wieder hergestellt. Im Kunstunterricht wurden Schulaufgaben erledigt, Karten gespielt und man las Krimis, nicht unter der Bank, ganz offen und ungeniert.
Man bepinselte den neuen Sakko von Studienrat Siebenzahn hinterrücks mit Wasserfarbe, wenn er sich über die Zeichenarbeit eines Schülers beugte und dabei seine Rockschöße über die Tische der Hintermänner hingen, oder man ließ immer mal wieder einen der dreibeinigen Sitzschemel mit lautem Krachen umfallen, so dass Siebenzahn zusammenschreckte.
Der Zeichenlehrer hatte es längst aufgegeben, aufsässige Schüler mit tadelnden Vermerken ins Klassenbuch einzutragen: einer der letzten diesbezüglichen Aktionen hatte er gleich mehrere Schüler verwechselt und versehentlich zwei Namen von Schülern der Parallelklasse notiert. Zu alledem hatten die Betroffenen frohlockend geschwiegen, und selbst das energische Eingreifen des Klassenlehrers, als dieser tags darauf die fremden Namen im Klassenbuch entdeckte, konnte eine Aufklärung des peinlichen Sachverhaltes nicht mehr herbeiführen anlässlich einer Gegenüberstellung sah sich Studienrat Siebenzahn nicht in der Lage, mit hinreichender Sicherheit die abzumahnenden Übeltäter zu identifizieren.
Die Schüler erinnerten sich selbstverständlich nicht an die Namen der Bösewichter; wen Siebenzahn gemeint haben könne, sei absolut unklar und außerdem habe es am nämlichen Tage im Kunstunterricht überhaupt keine strafenswerten Rüpeleien gegeben. So musste, wohl oder übel, unter lautem Feixen der gesamten Klasse, der Klassenbucheintrag wieder gelöscht werden. Wenn es noch einer weiteren Niederlage des Kunsterziehers bedurft hätte, um endgültig klarzustellen, wer in den Zeichenstunden das Sagen hatte, so hatte dieses letzte Geschehnis den endgültigen Umschwung bewirkt.
Von nun an machten die Schüler das, was sie wollten, und Siebenzahn ließ sie gewähren. Er übte sich in Schadensbegrenzung, so weit möglich, in dem er darauf achtete, dass „sein“ Lärm nicht den Unterricht der Nachbarklassen störte. Und selbst dieses minimale Ziel verfehlte er oft genug.
Die Angsthasen und Duckmäuser unter den Schülern, die Feiglinge, die sich bei Großkotz, Schauerlich oder Plisch willfährig unterwarfen, sahen bei Siebenzahn ihre Stunde gekommen. Jetzt konnten auch sie sich einmal nach Herzenslustaustoben und randalieren, was das Zeug hielt, ohne befürchten zu müssen, dass die Zeugnisnoten Schaden nahmen!
Heute, am Lolls-Dienstag, mischten sich Übermut und übliche Lust am Schabernack mit der Freude über eine lange Volksfestwoche, in der erfahrungsgemäß die Hausaufgaben sparsamer als sonst verteilt wurden und somit den nachschulischen Aktivitäten mehr Raum verblieb.
Siebenzahn ahnte, dass es heute außergewöhnliche Schwierigkeiten mit den Schutzbefohlenen geben werde. Er nahm sich vor, um unnötigen Aufregungen aus dem Wege zu gehen, möglichst beide Augen zuzudrücken.
Das mit dem Kofferradio hatte er gemanagt und derzeit hielt Bratfuß die Zimmerlautstärke ein!
Die Sauerei mit den Wassergefäßen war eine altbekannte Unart, man musste halt für die nächsten Unterrichtsstunden einige neue Büchsen auftreiben. Studienrat Siebenzahn übersah die explosionsartige Vermehrung der Wasserpfützen auf dem Boden geflissentlich.
Als aber Schüler Höll, ein durchbohrtes Wassergefäß in der erhobenen Rechten, laut johlend durch den Zeichensaal zog, eine Wasserfontäne verspritzend, kam Siebenzahn nicht umhin, einzuschreiten. Er runzelte die Stirn und lief mit einer Stimme, der man die befürchtete Vergeblichkeit der Bemühungen anhörte:
„Höll, tauchen Fie daf Gefäf fofort um, Fie verlieren Waffer!“
Allgemeine Heiterkeit.
Schüler Höll will sich der freundlichen Aufforderung Siebenzahns nicht verschließen und geht langsam, weiter wasserlassend, nach vorn, zum Becken, neben dem die neuen und noch unbeschädigten Ersatzdosen gestapelt sind. Er deckt sich mit einer neuen Büchse ein und nimmt vorsichtshalber eine Reservedose mit.
„Nein“, entscheidet Studienrat Siebenzahn, „nur ein Gefäf, daf reicht!“
In diesem Moment stellen die Schüler Kohlmann und Rammelmayer fest, dass auch ihre Gefäße Wasser verlieren. Sie schließen sich der Umtauschaktion an.
Nun herrscht ein reges Kommen und Gehen und von Mal zu Mal wird der Boden des Zeichensaals feuchter. Über all dem dudelt fröhlich das Kofferradio: „Splish, Splash“ und danach singt Fats Domino: „It keeps raining“.
Unglücklicherweise sind auch die Ersatzdosen undicht. Und der Boden des Zeichensaals sieht aus wie nach einem Sturzregen. Um zum Wasserbecken zu gelangen, müssen die Unterprimaner durch die Pfützen springen, dass das Wasser nur so zur Seite spritzt.
„Fo geht daf nicht!“, Siebenzahn mahnt mit angestrengter Stimme, ohne Energie.
Bratfuß beginnt, unmittelbar vor Siebenzahn, mit dem Schraubenzieher zu hantieren. Dies darf der Lehrer nicht durchgehen lassen. Er kennt Bratfuß, der ist immer dabei, wenn es gilt, Unfug anzustellen.
Siebenzahn nimmt alle Kraft zusammen: „Hören Fie fofort damit auf, Bratfuf, daf ift eine Unverfämtheit, die Waffergefäfe mutwillig zu ferftören! Daf laff ich nicht durchgehen, fo war ich Fiebenfahn heiffe!“
Dröhnendes Gelächter.
Bratfuß lässt sich nicht beirren. Er bohrt mit dem Schraubenzieher weiter an dem Wassergefäß herum.
Das ist zu viel, selbst für Siebenzahn: „Fo! Jetft ift meine Geduld fu Ende! Ich wird Ihnen helfen!“
Er will den Schraubenzieher an sich nehmen. Bratfuß rückt ihn nicht heraus. Siebenzahn versucht, Bratfuß den Schraubenzieher zu entwinden.
Siebenzahn bedenkt die veränderten Bodenverhältnisse nicht. Und dann ist es geschehen! Siebenzahn rutscht auf dem schmierigen Untergrund aus, fällt der Länge nach hin und glitscht auf dem Hosenboden in die nächstgelegenen Stuhlreihen hinein. Der Pädagoge versucht sich festzuhalten, reißfeinen Stuhl herab und landet rücklings, in unwürdiger Position, vor dem Schüler Kohlemann. Dort krabbelt Siebenzahn hilflos herum. Bevor er sich, etwas klamm am Hinterteil, erhebt, kippt Bratfuß noch versehentlich eine Brise Wasser von hinten über den Gestrauchelten, so dass ihm das Wasser am Gesicht herunter tropft.
Lautes Brüllen, unbändiger Frohsinn. Heute ist Stimmung! Lullus-Fest! Jetzt muss Siebenzahn kommen! Alle sind gespannt!
Aber Siebenzahn kommt nicht. Er erhebt sich wortlos und traurig. Langsam und vorsichtig stelzt er zurück zur Tafel. Dort steht er, sehr verloren, und schweigt weiter. Er blickt eine Weile zum Fenster hinaus.
In der Klasse ist es jetzt Mucksmäuschen still. Nur aus Bratfußens Kofferradio tönt lauter Rock’n Roll.
Siebenzahn dreht sich zur Klasse hin. Und dann sagt er, mit bebender Stimme: „Fie find ja fo gemein!“
Niemand antwortet, niemand lacht.
Siebenzahn sucht sich zu fassen. In seinem Kopf geht es rundherum. Sein Gehirn ist kraus und schwer. Ihm ist schwindelig. Er atmet heftig. Um Gottes Willen, nur durchhalten! Nur nichts anmerken lassen. Panische Angst kriecht in ihm hoch, der Hals wird rau, das Herz schlägt rasend, der Schweiß perlt in dicken Tropfen in den Hemdkragen, der viel zu eng wird. Siebenzahn zieht nach Luft, atmet flach und schnell, aber es kommt kein Sauerstoff, nichts!
Jeder Muss das sehen, was soll er nur tun!
Ihm wird schwarz vor Augen. Dann schlägt er zum zweiten Mal auf den Boden!
„Der ist ohnmächtig geworden!“
„Au weija, dieses Mal gibt’s Stunk!“
„Wer kann Erste Hilfe?“
Keiner. Oder?
„Wir müssen einen Arzt holen!“
„Nee, zum Bio-Lehrer, der kann Erste Hilfe!“
Irgendjemand erinnert sich an einen Rot-Kreuz-Kurs und öffnet Studienrat Siebenzahn den Kragenknopf, lockert ihm die Krawatte.
Schüler Bratfuß kippt noch ein Blechgefäß mit Wasser über den Daliegenden. Zur Wiederbelebung!
Auch Schüler Böllerbusch, der Streber, will zur Genesung beitragen und spendet Wasser. Siebenzahn kann ihn nicht sehen. Böllerbusch freut sich. Er hat mitgemacht!
Studienrat Siebenzahn schlägt die Augen auf. Der Schädel brummt, der Druck in den Augenhöhlen ist ungeheuer. Er tastet nach seiner Brille, aber die sitzt noch auf der Nase. Mühsam erhebt er sich. Er weiß nicht, wie er sich vom Fußboden hinter das Pult gerettet hat, mit fliegendem Atem beschmutzt und beschmiert. Gedemütigt. Aber jetzt sitzt er.
Dieses Mal dauert es länger, bis Siebenzahn zu koordinierten Bewegungen in der Lage ist.
Er knöpft den nassen Kragen zu und zieht den Schlips wieder enger.
Die Musik aus dem Kofferradio wirkt unpassend. Sie hallt laut im Klassenraum wider. Die Schüler sind erstaunlich still. Bratfuß schaltet das Radio aus. Siebenzahn erhebt sich zitternd vom Stuhl und begibt sich, ganz langsam zum Fenster. Er öffnet es. Luft strömt herein, holzig und voller Rauch, vom Lolis- Feuer des nahen Marktplatzes. Siebenzahns Augen schweifen über die grauschwarzen Schieferdächer der Altstadt. Dann dreht er sich um und wendet sich der Klasse zu.
Deren Betroffenheit hat sich gelegt. Sie haben es Siebenzahn nachgemacht und sämtliche Fenster aufgerissen.
Weiter hinten zerschellt ein Blumengefäß, da i auf der Fensterbank gestanden hat. Siebenzahn will nichts mehr sehen und hören.
Mit angegriffener Stimme sagt er: „Wir wollen daf allef vergeffen und weitermachen!“