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Studienrat Späße! und Mademoiselle Nicole
ОглавлениеStudienrat Späßel widerlegte den Sinnspruch: „Nomen est omen“ eindeutig und unverkennbar.
Späßel war alles andere als ein Spaßmacher, im Gegenteil!
Besser zu ihm gepasst hätte der Name „Spießer“.
Denn Studienrat Späßel war spießig und bierernst, letzteres vor allem dann, wenn er seinem Beruf als Französischlehrer nachging.
Die französische Sprache kam ihm bei weitem nicht so flüssig über die Lippen, wie es eigentlich der Fall sein sollte bei einem Pädagogen, der eine Unterprima des sprachlichen Zweiges unterrichtet Wenn Späßel französisch sprach, musste er seine gesamte Konzentrationskraft aufbieten.
Dass es ihm so schwer fiel, die französischen Gedanken beieinander zu halten, lag möglicherweise an den Folgen eines Autounfalls, der sich vor einigen Jahren ereignet hatte: Späßel war mit seinem stahlblauen VW-Käfer, kurz vor Unterrichtsbeginn, direkt vor der Lullus-Schule, aus Unachtsamkeit auf das Heck eines Kollegen geprallt. Der Kollege und 900 Lullus-Schüler fanden Späßel bewusstlos vor, den Kopf blutig durch die Windschutzscheibe hängend.
Mit dem Notarztwagen war Späßel ins Krankenhaus gefahren worden und dort 9 Wochen verblieben.
„Diagnose Dachschaden“, sagte Schüler Bratfuß, und dies wäre eine Erklärung gewesen.
Jedenfalls litt Späßel seitdem unter der Angst, französische Vokabeln könnten ihm während des Sprechens nicht rechtzeitig einfallen. „Vergesslichkeit und Wortfindungsstörungen plagen mich“, vertraute er sich einmal einem Freunde an.
Nicht nur dies! Auch die französische Grammatik stellte für ihn eine echte Herausforderung dar, der er sich nicht immer gewachsen zeigte. Erfreulicherweise förderte dies das Verständnis des Französischpaukers für ähnliche Schwierigkeiten seiner Schüler!
Späßel blieb im Unterricht ohne Schärfe oder gar Bösartigkeit, wie dies beispielsweise von Studienrat Schauerlich oder Oberstudienrat Großkotz keineswegs behauptet werden konnte, man fühlte sich wohl bei Späßel und er war rundherum zufrieden, solange er nicht selbst französisch sprechen musste.
Späßel verlangte nur das Notwendigste von seinen Schülern und selbst das nur gelegentlich.
Sein Motto war: wenn ich ihnen nichts tue, lassen sie mich auch in Ruhe!
Auf dieser Basis konnte sich ein einvernehmlicher Modus vivendi zwischen Lehrer und Schülern entwickeln. Es zeigte, dass, wo guter Wille ist, auch ein Weg gefunden werden kann.
Nun hätte sich an dieser abgeklärten Situation bis zum Abitur der Uls nichts ändern müssen, wäre nicht eines Tages Späßel mit der Mitteilung beglückt worden, demnächst werde eine junge französische Kollegin aus Avignon, Mile Nicole, an die Schule kommen; sie solle die Fremdsprachenpädagogik des Nachbarlandes kennenlernen und werde seinem Unterrichtzugeteilt.
Studienrat Späßel, von Haus aus ein bequemer Vertreter, sah die Vorzüge einer solchen Regelung: zum einen konnte er sich ein wenig mehr im Hintergrund halten, was seinem bescheidenen Naturell entgegenkam. Zum anderen musste er sich nicht ständig komplizierte französische Sätze ausdenken: so etwas – diese Erfahrung hatte er in der Vergangenheit zur Genüge gemacht – konnte schnell schiefgehen. Für Mile Nicole -als echte Französin- wäre dies alles viel einfacher!
Studienrat Späßel hatte sich angewöhnt, morgens, nach dem Betreten der Klasse, wie ein echter Franzose „Bon jour, Monsieurs“ zu rufen.
Und die Klasse ließ es – jahrelang einstudiert – fröhlich zurückschallen:
„Bon jour, Monsieur le professeur!“
Das klappte wie am Schnürchen! Da gab es keine Pannen! Und wenn Oberstudiendirektor Plisch einen Routinebesuch abstattete, bekam er genau dies zu hören.
„Sehr ordentlich“, kommentierte er den sprachlichen Balanceakt und schüttelte Kollege Späße! die Hand. Nach der Begrüßung jedoch wurde die Sache heikel.
„Nous avons, eh, vous avez, blobb, also, um es mal auf Deutsch zu sagen: schlagen Sie ihre Bücher auf!“
Das „Blobb“ überfiel Späßel an den unpassendsten Steilen und erklärte sich als rülpserartiges Aufstoßen, das unvermittelt aus der Tiefe seines übersäuerten Magens heraufdrang.
Herr Studienrat Späßel war ein psychosomatischer Typ3 und Aufregung schlug ihm prinzipiell auf den Magen Zwar war er bestrebt, Stressoren, so gut es ging, fernzuhalten, aber der Mensch denkt und Gott lenkt!
Denn es ergab sich, als Mile Nicole unverhofft in Späßels französische Stunde hereinschneite, dass sie nicht nur außerordentlich gut französisch sprach – damit hatte er gerechnet-, sondern auch außerordentlich gut aussah, und das brachte ihn aus der Fassung. Halb wonnetrunken, halb bestürzt, sah er sich mit diesem verwirrenden Sachverhalt konfrontiert; er verzeichnete auf der Stelle, dass mit Mile ein hochpotenter Belastungsfaktor in sein von Schule, Mittagsschlaf und Ehealltagstrübsal geprägtes Durchschnittsdasein eingefallen war.
Das seit vielen Jahren existente Unterrichtseinerlei bekam Holter-die-polter einen so gewaltigen Kick, dass die Kollegen hinter seinem Rücken befremdet zu tuscheln begannen.
„Was ist nur mit Kollege Späßel los – er hat sich in der letzten Zeit so verändert?“
Späßel trug plötzlich statt der rostbraunen C & A-Binder rote Blümchenkrawatten, und er besaß mit einem Male einen neuen, beigen Anzug, dessen Hose auf Figur geschnitten war. Das glatt zurückgekämmte, schwarze Haar mit den Geheimratsecken glänzte jetzt noch öliger als zuvor und wurde im Nacken auch nicht mehr ausrasiert.
Die Koteletten erreichten längenmäßig fast das Ohrläppchen und der maskuline Duft eines bitter-strengen After Shaves umwehte neuerdings den Studienrat
Späßel zwackte der Magen erheblich, wenn er gewahr werden musste, dass zu einer Zeit, in der im Allgemeinen die Röcke bis zu den Waden reichten, sich Mile Nicole mit einem kniekurzen, engen Lederrock zeigte.
Der Magen zwickte noch stärker, wenn er morgens, nach Eintritt in das Lehrerzimmer, Mile Nicole bei einem fröhlichen Gespräch mit einem jungen Kollegen ertappte.
Und wenn er feststellen musste, dass Mile Nicole während der gemeinsamen Pausenaufsicht, im Zuge ihrer lockeren französischen Lebensart, in unverantwortlicher Weise so weit ging, mit den Primanern der Anstalt herumzuflirten, drehte sich ihm der Magen um.
So konnte man die Sache drehen und wenden wie man wollte, die pädagogische Hilfe ergab keine rechte Entlastung für Studienrat Späßel.
Sein träges Naturell rebellierte mit zunehmender Magensekretion. Die Säure Späßels stieg, für alle hörbar, von Tag zu Tag.
Späßels Strafe der Wollust auf Distanz war eine sich von Woche zu Woche verschlimmernde Gastritis.
Am Lullus-Gymnasium hatte der Lehrkörper Mile Nicole auf der Beliebtheitsskala, nicht nur bei Späßel, eine Spitzenposition erreicht. Alle Kollegen hofierten Mile und waren bestrebt, Mile Nicole zu beweisen, dass der deutsche Mann ein rechter Gentleman zu sein imstande ist.
Die Schüler verhielten sich im Unterricht mucksmäuschenstill und verzichteten auf jede Ungehörigkeit. Und Oberstudiendirektor Plisch, der pietistische Schulleiter des Lullus-Gymnasiums, sah ihr den kurzen Rock, sogar die engen Pullover, großmütig nach.
Man bot sich eifrig an, Mile Mappen und Lehrbücher zu tragen, sobald man ihrer ansichtig wurde; man öffnete galant die Klassenzimmertüren und half ihr – selbstverständlich – in den Mantel.
Jeder war, so gut es ging, um die deutsch-französische Aussöhnung bemüht.
Mile Nicole, mit dunklem Lockenhaar, genoss ihre Popularität wie ein Filmstar, der weiß, was er seinen Fans schuldig ist: sie arrangierte sich in freundlicher Verbundenheit und tat dies auf eine Weise, die Wünsche kaum offenließ. Mile gewährte Tag für Tag tiefe Einblicke in die französische Lebensart und jeder – Lehrer wie Schüler- konnte aus erster Hand die Vorzüge der lebenden Sprache und die Faszination des gesprochenen Wortes in Erfahrung bringen.
Mit der Kraft ihrer ganzen Persönlichkeit bot Mile in plastischer Anschaulichkeit dar, was die französische Natur zu bieten hat. Sie demonstrierte überzeugend, warum die französische Haute Couture führend in der Welt ist: ihr tief ausgeschnittener Pullover war landauf-landab Gesprächsthema und man war sogar in der Lage, mehr als Vermutungen darüber anzustellen, was die gepflegte Französin darunter trägt.
Seit Mile den Unterricht bereicherte, waren die ansonsten gemiedenen Plätze in der vordersten Bankreihe plötzlich heiß begehrt. Aber während des Schuljahres durften Sitzplatzumgruppierungen nicht stattfinden und so konnten ungerechterweise nur die Streber in der ersten Reihe Gratifikationen entgegennehmen, die ihnen nach einhelliger Klassenmeinung nicht zustanden.
Einträge Mile Nicoles ins Klassenbuch wurden von den Schülern atemlos verfolgt: Mile Nicole beugt sich -prinzipiell im Stehen schreibend- weit herunter, sehr weit sogar. Denn trotz ihrer Kurzsichtigkeit trug sie aus Eitelkeit keine Brille, wovon ihr auch jedermann abgeraten hätte. Und dann rückte, als Abschluss und Höhepunkt der Unterrichtsstunde, das pralle französische Leben machtvoll in den Gesichtskreis der rundherum Versammelten, die in schwärmerischer Versunkenheit, einschließlich Späßels, sogar die Pausenklingel überhörten, was in der Uls bisher noch nicht vorgekommen war.
Während Augenpaare, rechnete man die von Späßel mit, das Hin- und Herwogen beglückt auf sich wirken ließen, kam Mile Nicole mit Ruhe und Akribie, ohne Hast und Eile, ihren pädagogischen Pflichten nach. Erst ein späteres Machtwort von Direktor Püsch unterband diese wahrhaft paradiesischen Verhältnisse.
Er wies, nachdem er wochenlang, nicht ohne klammheimliches Entzücken, die an sich untragbaren Zustände geduldet und aufmerksam studiert hatte, auf die Unzweckmäßigkeit des Tragens bestimmter Kleidungsstücke bei weiblichen Angehörigen des Lehrkörpers in der gymnasialen Oberstufe einer Höheren Lehranstalt hin.
Da es außer Mile Nicole keinen anderen weiblichen Lehrkörper in der Schule gab, kam es dazu, dass Mile von nun an hochgeschlossen zur Ausübung des Unterrichtes erschien. Aber was will man machen, wenn man vom Schicksal mit außerordentlichen Vorzügen bedacht worden ist? Die Pullover Mile Nicoles, körpernah und anschmiegsam wie ihre Trägerin, rückten die verführerischen Konturen noch schärfer ins Blickfeld der hilflosen Opfer, so dass Plisch keineswegs Entwarnung geben konnte.
Oberstudienrat Großkotz sah sich außerstande, den französischen Auswüchsen länger schweigend zuzusehen. Er fühlte sich verpflichtet mit Entschiedenheit einzuschreiten.
In einer ernsten Unterredung wies er Plisch auf die befürchteten Schäden für das sittliche Wohl der Zöglinge hin, für das man sich doch verantwortlich fühlen müsse. Die tagtägliche Versuchung in Form extremer Reizkonstellationen sei der völlig unvorbereiteten Psyche des Schülers nicht länger zuzumuten. Man setze die Kinder Gefahren aus, deren Folgewirkung nicht einfach übersehen werden dürfen.
„Nein“, sagte Direktor Plisch, „ich übersehe überhaupt nichts. Aber ich muss auch auf die deutsch-französische Freundschaft Rücksicht nehmen. Bitte haben Sie hierfür Verständnis, Herr Kollege!“
Oberstudienrat Großkotz wollte diesem Gedankengang nicht folgen. „Ich fürchte, Sie bringen die Verhältnismäßigkeit der Dinge durcheinander“, rügte er spitz. „Man kann dem sittlichen Verfall nicht tatenlos zusehen! Ich halte dieses „Laisser-faire“ für völlig unangebracht Sie werden die Verantwortung für dieses Geschehen übernehmen müssen, ich wasche meine Hände in Unschuld!“
So blieb die Atmosphäre aufgeheizt und die Sinne wollten sich einfach nicht beruhigen.
Studienrat Späßel war ein halbes Jahr später soweit, dass der Arzt ihm dringend riet, sich einer Magenoperation zu unterziehen.
„Ihr Zustand ist bedenklich! Die Geschwüre stehen kurz vor dem Durchbruch.
Wir müssen sofort operieren!“
Aber Studienrat Späßel handelte wider ärztlichen Rat und weigerte sich, den erforderlichen Eingriff vornehmen zu lassen. Er entschied sich stattdessen für eine Rollkur.
Denn ein nie gekanntes Verantwortungsgefühl gegenüber Schule und Schülern hatte sich seiner bemächtigt.
„Ich kann meine Schüler jetzt nicht im Stich lassen, Herr Professor! Meinen Schülern sollen keine Nachteile, ein halbes Jahr vor dem Stufenabitur, entstehen. Obwohl es mir niemand danken wird!“
In der Tat! Nicht einmal Mile Nicole!
Phil hörte Susannes Auto in die Garage fahren. Kurze Zeit später kam; müde und erschöpft wirkend, zum Wohnzimmer herein. „Na, was hast Du denn gemacht, während ich gearbeitet habe?“
„Ach“, sagte Phil geistesabwesend, „ich habe nur nachgedacht!“