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Die lieben Kleinen
ОглавлениеDer Alltagsstress hatte Phil rasch wieder eingeholt von Nachurlaub keine Spur.
Phil arbeitete in einer psychiatrischen Klinik als Psychologe und Psychotherapeut. Die Warteliste von Patienten, die für seine Untersuchungen vorgemerkt waren, hatte sich während der 14 Urlaubstage erheblich verlängert. Er fühlte sich nach wenigen Tagen erschöpft und urlaubsreif, aber das ist die Regel bei Angestellten des öffentlichen Dienstes.
Susanne betrieb eine Allgemeinarztpraxis und hatte hierfür kein Verständnis. Wenn sich jemand ausgepumpt fühlen durfte, dann war sie es!
Heute Abend wollte Phil, wenn die Kinder zu Bett gebracht waren, eine kleine Zwischenerholung einlegen: Füße hoch, gemütlich Zeitung lesen, eine Gubor- Praline im Mund zergehen lassen und ansonsten auf alle Laster verzichten. Susanne hatte heute Abend Sprechstunde, sie würde nicht vor 20.30 Uhr zurück sein.
Als er nach Hause kam, ging er zunächst mit Labrador Marco spazieren, fuhr sämtliche Freundinnen beider Kinder nach Hause, räumte die Unordnung, die sich über 2. Stockwerke erstreckte, schimpfend auf und sorgte für das Abendessen. Trotz heftiger Proteste wurden sodann Daniela und Sofia in das Kinderbad gezehrt und gegen ihren Willen oberflächlich gesäubert, mehr war ohne Vollbad nicht drin.
Endlich lagen die Kinder im Bett. Nun hatte der Vortrag der Märchen zu erfolgen, ein Gewohnheitsrecht, eine allabendlich wiederkehrende Prozedur.
Phil hatte bereits „Der Mönch und das Vöglein“ sowie „Das Tränenkrüglein“ zum Besten gegeben, aber weder Sofia noch Daniela zeigten die geringsten Müdigkeitssymptome. Notgedrungen ließ er sich darauf ein, als unwiderrufliche letzte Zugabe „Die Prinzessin, die nicht lachen wollte“ darzubieten.
Als die Prinzessin überlaut zu lachen begann und der König darüber vor Freude weinte, schien es geschafft: andächtige Stille verbreitete sich im Kinderzimmer und Phil frohlockte, denn das Abendgebet konnte nun entfallen. Die beiden Kleinen waren eingeschläfert.
Philipp verspürte ein Gefühl tiefer Befriedigung.
Er hatte, wie sich sogleich zeigen sollte, die Lage gründlich falsch eingeschätzt: Daniela, unter halb geschlossenen Augenlidern hervor lugend, ergriff urplötzlich ihr Kissen und schleuderte es mit aller Kraft auf die im gegenüberliegenden Bett liegende Sofia. Sofia heulte demonstrativ auf und warf das Kissen umgehend und mit Wucht zurück.
Phil duckte sich, denn er stand zwischen den beiden, aber es war schon zu spät. Das Kissen klatsche ihm voll ins Gesicht. Diesen Meisterstreich konnte er als Autorität nicht ohne weiteres hinnehmen, die Pädagogik erforderte es, dass er nun mit aller Konsequenz einschritt.
In den Lärm, der nun von Phil ausging, mischte er Labrador ein: Marco hatte die Brüchigkeit der Abendruhe erkannt und sah seine Chance gekommen, die fröhlichen Spiele mit den Kindern noch einmal aufleben lassen zu können. Marco hatte, wie stets um diese Zeit, vor der Zimmertür gelauert. Mit einer geschickten Bewegung der Schnauze drückte er die nur angelehnte Tür auf und stürmte freudig bellend in das Gewühl: denn inzwischen balgten sich Sofia und Daniela bereits auf dem Boden des Kinderzimmers.
Marco sprang nun mal auf das eine, mal auf das andere Bett und zwischendurch auf die Kinder. Der Labrador kam erst zum Stillstand, als er Herrchen mitten im Sprung am Schienbein erwischte. Herrchen gab einen unartikulierten Schmerzenslaut von sich und hinkte, tief getroffen, völlig kapitulierend, nach unten ins Wohnzimmer. Im Kinderzimmer war das pädagogische Chaos perfekt.
Phil ließ sich in einen Sessel fallen, während es im oberen Stockwerk rumpelte, krachte und bellte. Phil schwor mit gefletschten Zähnen, dem Spuk ein Ende zu bereiten, sobald er sich erholt hätte.
Nach einigen Minuten legte sich der Lärm im oberen Stockwerk schlagartig. Das gab Phil zu denken. Dies war Anlass ernster Besorgnis. Auch der Hund gab keinen Laut mehr von sich.
Phil wusste, dass er nun keine Zeit mehr verlieren durfte. Er raste die Treppe hinauf, sich den Knöchelschmerz verbeißend.
Oben angekommen, sah Phil die Bescherung: die herrliche Bodenvase aus Porzellan von Großmutter Elisabeth lag in tausend Scherben, daneben der Spiegel mit Girlanden im Barockdesign von Tante. Daniela und Sofia hatten schuldbewusst begonnen, die Reste zusammenzukehren.
Marco saß neben den Trümmern und wedelte mit dem Schwanz. Er hatte die Tragweite des Geschehens nicht erkannt und freute sich über das lustige Spiel
„Mama wird begeistert sein. Lass sie nur nach Hause kommen!“
Phil beschränkte sich bei seiner Verwarnung auf ein pädagogisches Minimalprogramm. Insgeheim freute er sich über das Malheur, denn die geschenkten Objekte waren ihm seit langem ein Dorn im Auge. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man sie ihrem Wert entsprechend behandelt, im Keller verstaut und nur anlässlich des Besuchs der großmütigen Spender hervorgeholt.
Aus erzieherischen Gründen sagte er aber:
„Ich bin wirklich sehr traurig darüber, dass die schönen Stücke kaputt sind.“
„Papa, du schwindelst!“ Daniela führte das Wort. „Erst vorgestern hast Du zu Mama gesagt, es wäre endlich an der Zeit, den ganzen Plunder auf den Müll zu werfen.“
„Was?“ rief Phil, „das soll ich gesagt haben? Wie kommst Du denn darauf?“ „Ich hab’s gehört, als ihr Euch nebenan im Schlafzimmer unterhalten habt.“
Phil sagte vorsichtshalber nichts mehr und hatte ein schlechtes Gewissen.
Immerhin sorgt der Schadensfall für eine gewisse Abkühlung der Gemüter. Dieses Mal begaben sich Daniela und Sofia, ohne noch einmal die Krallen zu zeigen, zu Bett. Haushund Marco ließ sich gleichfalls erschöpft nieder, plumpste auf die Seite und schlief ein.
Phil ging zum zweiten Mal nach unten. Er holte sich die Tageszeitung und die Pralinen, legte die Füße hoch und begann zu lesen. Die Stille wurde nur durch das gelegentliche Krächzen der beiden Wellensittiche Max und Moritz unterbrochen. Sie schnäbelten miteinander, fiepten und flatterten durch den Käfig.
Trotz dieser Hintergrundgeräusche wurden Phil bald die Augen schwer. Er mühte sich, die gelesenen Sätze aufzunehmen. Er las Sätze mehrfach, ohne sich ihrer Bedeutung bewusst zu werden. Phil ließ die Zeitung sinken und geriet in eine Art Halbschlaf.
Bad Klosterbrunn und das Lullus-Gymnasium tauchten wieder aus der Erinnerung auf. Die Begegnung mit Studienrat Schauerlich vor einigen Tagen lief noch einmal vor seinem geistigen Auge ab. Wie stand es wohl um die anderen Pauker?
Was war aus den Klassenkameraden geworden? Man müsste einmal ein Klassentreffen arrangieren. Ob der alte Klassenlehrer, Studienrat Späßel, heute weit über siebzig, noch lebte?