Читать книгу Der Schulball - Hasso Sachs - Страница 7
Philipp und Susanne – eine glückliche und ausgewogene Beziehung
ОглавлениеAm Freitagabend derselben Woche hatte Susanne gegen 21.00 Uhr das Haus verlassen. Sie wollte ihre Schwester besuchen. Bettina, Susannes Schwester, studierte im 19. Semester Germanistik und führte gleichzeitig eine Studentenkneipe. Zwar gab sie an, sie studiere eifrig und mache die Kneipe „nebenher“, Freunde und Verwandte hatten aber eher den umgekehrten Eindruck.
Heute Abend spielte in Bettinas Keiler eine Band, die Susanne unbedingt sehen musste.
„Pass’ Du schön auf die Kinder auf, ich bin um 01.00 Uhr zurück.“
„Was soll das denn heißen?“ Phil war überrascht.
„Du gehst ja ohnehin nicht mehr mit mir aus, ich brauche aber etwas Abwechslung!“
„Wenn Du rechtzeitig ein Kindermädchen besorgt hättest, wäre das gemeinsame Ausgehen kein Problem!“
„Woher soll ich ein Kindermädchen kriegen?“
„Du kennst doch alle möglichen Leute hier im Ort.“
„Die guten Kindermädchen sind zu teuer, auf die anderen kann man sich nicht verlassen! Du weißt, wie eigen zudem Daniela ist!“
„Sehr nett!“ Phil war sauer.
„Also, dann mach’s gut, tschüss bis nachher! Du weißt, Du kannst Dich auf mich verlassen! Und Alkohol trinke ich auch nicht!“
„Nimm das Handy mit, damit ich Dich notfalls erreichen kann!“
„Das funktioniert sowieso nicht, wir sitzen hier in einem Funkloch! Aber ich habe meinen Euro-Piepser dabei!“
Und damit war Susanne verschwunden.
Phil und Susanne kannten sich seit sehr vielen Jahren. Besser nicht nachrechnen, dachte Phil, wie viele Jahre seitdem ersten Kuss verstrichen sind.
Sie hatten bis zur Heirat 13 Jahre glücklich zusammengelebt Diese Zeit der Prüfung hätte, wäre es nach Phil gegangen, ruhig noch eine Weile weitergehen können. Aber im 13.Jahr war Susanne von ihren Freundinnen aufgewiegelt worden. Samt und sonders verheiratet, war diesen die unkomplizierte, friedlich-beschwingte Beziehung der beiden ein Stachel im Fleisch.
„Wenn Du jetzt nicht bald etwas unternimmst, wird er Dich eines Tages sitzenlassen und Du hast das Nachsehen“, sagte Freundin Juliane. „Er wird sich eine jüngere nehmen!“ meinte Claudia.
„Deine ersten Falten sind schon da; ist er erst mal weg, hast Du es als Frau über dreißig nicht leicht, unter die Haube zu kommen!“ Christine hatte da so ihre Erfahrungen gemacht.
Die Mahnungen der Freundinnen verhallten nicht ungehört, Susanne handelte.
Zunächst begann sie, ihre Schwiegermutter in spe für den Plan einer Eheschließung zu gewinnen. Hat man die Mutter auf seiner Seite, ist alles andere nur noch Formsache!
„Du hast recht, Susanne“, sagte Phils Mutter. „Die ganze Verwandtschaft zerredet sich schon den Mund. Ihr solltet wirklich heiraten!“
Der Möchte-Gern-Schwiegervater sah die Sache auch so. Und anlässlich des nächsten Besuches bei den Eltern redete man Phil ins Gewissen. Auch steuerlich sei alles günstiger. Und er wolle doch mal Kinder, oder nicht? Er sei ohnehin schon fast zu alt, um noch Vater zu werden. Es sei fraglich, ob er überhaupt noch die nötigen Voraussetzungen hierfür habe.
Philipp willigte ein.
Seine Freunde - alle verheiratet warnten vor übereilten Schritten.
„Tu nichts Unüberlegtes“, sagte Eckhard, „Du versäumst nichts!“
„Die Ehe läuft Dir nicht weg!“ mahnte Janis.
Phil hörte die Zwischentöne. Aber er sah sich im Zugzwang.
Susanne beteuerte, erst einmal verheiratet, werde sie sich um den Haushalt kümmern, den zu führen sie jetzt nicht verpflichtet sei. Mit schiefem Blick auf das Durcheinander in Phils Junggesellenwohnung. In der sie seit 12 Jahren lebten.
„Als Ehefrau hat man ein ganz anderes Verantwortungsgefühl!“
Susanne entwarf liebliche Bilder familiären Glücks und partnerschaftlicher Harmonie. Ein ungeahntes Elysium werde Phil erwarten, sei erst einmal der entscheidende Schritt getan.
Phil wurde schwach. Er heiratete kurz entschlossen, ein mulmiges Gefühl in den Wind schlagend, kurz vor Anbruch des 14. Jahres ihrer Freundschaft.
Die Hochzeitsreise nach Mallorca war ein einziger Traum.
Danach ging es Schlag auf Schlag.
Susanne kaufte sich eine Arztpraxis, ein neues Haus wurde gebaut, und dann kamen die Kinder.
Vor allem aber rückten nun Verhaltensweisen in den Vordergrund der Betrachtung, die Phil in den vergangen Jahren schlicht übersehen haben musste.
So war ihm nie aufgefallen, dass Susanne morgens nicht aus den Federn kam. Früher war dies kein Unglück gewesen, im Gegenteil: wenn er den Frühstückstisch gedeckt hatte, war er gern noch einmal zu Susanne ins Bett gekrochen, um den Tag fulminant zu starten.
Jetzt ärgerte er sich auch darüber, dass Susanne abends ihre besten Kleider zusammengeknüllt auf den Stuhl warf – er hatte es bis dahin immer als Ausdruck einer erfrischend unkonventionellen Lebensgestaltung angesehen und es ihrer Leidenschaftlichkeit, die unmittelbar darauf folgte, zugutegehalten.
Dass sie abends keine Lust hatte, sich abzuschminken und die Kopfkissen mit Farbe beschmierte, war früher kein Malheur gewesen: er wertete dies als Zeichen einer gewissen Unsicherheit und entnahm ihrem Verhalten den Wunsch, auch des Nachts immer hübsch aussehen zu wollen. Auf einmal störte es ihn und er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube.
Daraufhin reduzierte sie die allnächtlichen Intimkontakte auf ein erträgliches Wochenmaß. Auch hielt sie nicht länger an sich, wenn sie Ärger hochsteigen spürte. Die gelegentlichen Impulsdurchbrüche schrieb Phil nicht ihrem feurigen Temperament zu, sondern er bemängelte es als feuere Selbstbeherrschung und kaum hinnehmbare Unart.
Susanne kritisierte, Phil gehe seit Monaten nicht mehr mit ihr aus.
„Wir müssen sparen“, sagte Phil mahnend, „wir wollen doch die Hypothek so bald wie möglich abzahlen!“
Susannes Großzügigkeit hatte sich zu seinem Leidwesen zur Verschwendungssucht gemausert. Er machte ihr heftige Vorwürfe, als sie sich eine Pizza mit dem Taxi nach Hause kommen ließ, da sich für den Pizzawirt die 10 km-Fahrt wegen einer Pizza zu 9,80 DM nicht lohnte und er deshalb die Zustellung ablehnte.
Phil hatte kein Verständnis dafür, dass sich Susanne bei Versandhäusern zentnerweise Garderobe bestellte, während sich ihr Konto ständig im Minus bewegte.
Phil entwickelte die fixe Idee, die von Susanne mit vollen Händen ausgegebenen Geldmengen durch Sparen wieder hereinholen zu müssen. Er erregte sich darüber, wenn sie selbst an den Tagen, an denen an ein intimes eheliches Beisammensein im Schlafzimmer nicht zu denken war, die Heizung hochdrehte, bis ein regelrechtes Dschungelklima herrschte.
Wie sehr sie die Erkaltung der Gefühle frieren ließ, demonstrierte sie symbolhaft, in dem sie sich eine Heizdecke anschaffte und Angora Unterwäsche zulegte.
Das alles aber waren duldbare Marotten; schlimm wurde es erst, als sich Susanne zu einer fanatischen Esoterikerin entwickelte.
Bedenklich gestimmt hatte ihn bereits vor der Ehe Susannes plötzliche Hinwendung zur christlichen Religion, nachdem unverhofft ihr Zwergkaninchen verschieden war.
Nun wurden stärkere Geschütze aufgefahren. Susanne entdeckte die „Transzendentale Meditation“ und konzentrierte sich, nachdem sie einem indischen Guru im Volkshochschulkurs gelauscht hatte, mehrere Wochen mit ihren Glaubensbrüdern darauf, die kriegerischen Auseinandersetzungen im Hindukusch zur Einstellung zu bringen.
Nachdem diese Versuche, trotz intensiver Bemühungen, gescheitert waren und sich der aufkeimende Verdacht erhärtet hatte, dass die Meditationsgruppe Verbindungen zur Hare-Krishna-Sekte unterhielt, kam es zu einer gewissen Distanzierung. Susanne bewunderte weiterhin zwar Menschen, die sich für ein karges und entbehrungsreiches, quasi klösterliches Leben entschieden, zog es selbst aber doch vor, sich der Freuden der Zivilisation weiterhin zu bedienen.
Von anfänglichen Drohungen, sie wolle sich in Indien selbstfinden, war nun nicht mehr die Rede.
Stattdessen verwies sie des Öfteren auf den Bibelspruch: „Sehet die Vögel unter dem Himmel! Sie säen nicht, sie ernten nicht, und unser himmlischer Vater ernährt sie doch!“
Sie Schloss ihre Praxis für immer, flog nach Südafrika zu einer Freundin und kehrte drei Wochen später, frisch gestärkt, wieder zurück. Nun stürzte sie sich mit Eifer in die Arbeit und pries die Vorsehung, die ihr davon abgeraten hatte, die Praxis gleich zu verkaufen.
Eine mehrere Monate anhaltende Magen-Darm-Problematik führte zu einem kurzen Rückfall in indische Verhältnisse: sie bestand darauf, ayurvedisch zu kochen.
Ais Phil ein von ihr zubereitetes Mai als weniger schmackhaft bezeichnet hatte, kippte sie das Menü zutiefst beleidigt in den Müll und trug sich noch einmal kurz mit dem Gedanken, Guru Maharishi in Indien persönlich aufzusuchen. Aber es blieb bei dieser leeren Drohung.
Infolge der gesunden ayurvedischen Küche magerte Phil bis zum Skelett ab und vermochte sich nur noch notdürftig mit mittäglichem Kantinenessen auf den Beinen zu halten.
Erst als er heimlich Zusatzmahlzeiten einnahm und daraufhin innerhalb kurzer Zeit regelrecht aufblühte, gleichzeitig, um Susanne bei Laune zu halten, die ayurvedische Küche aufs höchste pries, verfügte Susanne, dass eine Rückkehr zur deutschen Hausmannskost geboten sei.
Da sich bei Susanne die positiven Folgen der ayurvedischen Küche nicht bemerkbar gemacht hatten und ausfallende Haare und brüchige Fingernägel Beweis dafür lieferten, dass mineralische Defizite im Körperhaushalt überhandgenommen hätten, die einer psychischen Gesundung entgegenstünden, stieß sie zum Glück in einer Frauenzeitschrift auf die Mitteilung, dass in solchen Fällen eine Haaranalyse diagnostische Aufklärung und eine speziell zubereitete Diät Heilung und Gesundung garantiere.
Nach dem Studium einschlägiger Literatur, die sie als Ärztin einer kritischen Würdigung unterzog, nahm sie Kontakt mit einem Labor auf, in dem Haarmineralanalysen vorgenommen wurden.
Susannes Untersuchungsergebnis war eine einzige Katastrophe. Es war klar, dass der Speiseplan völlig umgestellt werden musste.
Aus Angst vor einer neuerlichen Mangelernährung protestierte Phil dieses Mal heftig. Aber es nützte ihm nichts. Es spornte nur Susannes Diagnosefieber an. Ohne auf zartbesaitete Gefühle Rücksicht zu nehmen oder sich auf weitere Diskussionen einzulassen, griff sie sich eines Abends Phil und schnitt ihm brutal die schönste Locke fronto-parietal ab.
„Du wirst sehen, wie krank Du bist, ohne es zu wissen!“
„Wenn ich es nicht merke, macht es doch nichts!“
„Du wirst mir noch einmal dankbar sein. Jetzt besteht vielleicht noch die Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern.“
Sie trug die Locke triumphierend davon.
Das Analyseergebnis verriet, dass Philips völlig vergiftet war und man es als Wunder bezeichnen konnte, dass er überhaupt noch unter den Lebenden weilte.
Er war randvoll mit Schwermetallen.
Susanne diskutierte mit ihm nächtelang den neuen Diätplan und ließ nicht gelten, dass er sich, trotz seiner Vergiftung, zuletzt pudelwohl gefühlt hatte. „Das kann sich schnell ändern“, meinte sie düster.
Und auch Phil befürchtete das, wenn ersieh auf die neue Küche einließe.
Aber sein Protest verhallte, wie so oft, ungehört.
Einmal dabei, den Ehemann zu sanieren, nahm Susanne die Arthrose ihres Mannes unter die Lupe. Um die Arthrose günstig zu beeinflussen, wurde Phil Bewegung verordnet.
Da traf es sich gut, dass die Kinder drängten und sich einen Hund wünschten. Phil sträubte sich lange, aber er unterlag. Der Hund, Labrador Marco, wurde in einer Nacht- und Nebelaktion angeschafft.
Die Kinder liebten den Hund abgöttisch, aber für Pflege und Auslauf blieb Phil zuständig.
Susanne erklärte, sie hätte sich, wäre es nach ihr gegangen, für eine zierliche Hunderasse entschieden, zum Beispiel Yorkshire-Terrier oder Mopps.
Da Phil aber den Ausgang mit einem solch mickrigen Geschöpf empört von sich gewiesen habe, sei er nun selbst schuld, wenn sie mit dem Hund nicht auf die Straße gehen könne. Der Hund mit seiner ungestümen Kraft ziehe sie ja unter das nächste Auto! Auch sei der Hund von ihm alles andere als gut erzogen. „Gassi-Gehen“ könne sie mit so einem Monster nicht nachts schon mal gar nicht!
„Ich fürchte mich in der Dunkelheit – als attraktive Frau ist man ja nirgendwo vor einem Sexualverbrecher sicher!“
Es verstand sich von selbst, dass Phil den Hund abends um 23.30 Uhr noch einmal hinausführen und morgens, bevor er zur Arbeit fuhr, um 06.30 Uhr ein Häufchen machen lassen musste.
Tagein, tagaus.
Und wehe, Marco hatte keine geregelte Verdauung! Susanne winkte ab. Sie sah das Problem nicht
„Na gut, dann kommst Du halt ein paar Minuten zu spät zur Konferenz – Du wirst nicht gerade viel versäumen!“
In der Tat
Leider wurde Susannes Auffassung nicht von dem soeben berufenen, neuen Klinikchef geteilt, der unter der Vorgabe, alte Zöpfe abschneiden, autoritäre Verkrustungen aufbrechen und liberale Führungsformen in den Klinikbetrieb einführen zu wollen, die uneingeschränkte Macht übernommen hatte.
Neue Besen kehren gut und es ist ihnen auch recht, wenn sie dabei möglichst viel Staub aufwirbeln, damit man sieht, wie effektiv sie arbeiten.
Das bedeutete für den internen Betrieb, dass zunächst die dreimal in der Woche stattfindende Konferenz, zwecks besserer Disziplinierung, täglich angesetzt wurde. Und zum Fall Breitenbach äußerte sich der Herr Professor nur kurz, mit dem ihm eigenen, neuen Demokratieverständnis: „Entweder Sie erscheinen in Zukunft pünktlich oder Sie haben die Freiheit, Ihren Hut nehmen zu dürfen!“
Ob Susanne den Hund nicht wenigstens ab und zu abends, vor der beleuchteten Hofeinfahrt, das Bein heben lassen könne? Oder morgens, das wäre eine große Hilfe, zumal der Beginn ihrer Sprechstunde ohnehin erst relativ spät, auf 09.30 Uhr angesetzt sei?
Nein, leider, das sei unmöglich!
„Ich brauche mehr Schlaf als Du“, pflegte sie zu sagen. „Ich muss härter arbeiten als Du, es ist nicht damit getan, dass ich meine Sprechstunden abhalte. Ich habe auch noch jede Menge Hausbesuche! Und außerdem willst Du doch auch, dass ich gut aussehe. Da darf ich auf meinen Schönheitsschlaf nicht verzichten!“
Phil betrachtete seine grün-schwarzen Ringe unter den Augen und klopfte sich verzweifelt an seinen müden Schädel Das Schlafdefizit begann sich auszuwirken.
Wenn er morgens mit hängenden Ohren, kaputt und zerschlagen, im Gegensatz zu Marco ein wahrhaft geprügelter Hund, zu früher Stunde das Haus verließ, um zur Arbeit zu fahren, lag seine treue -wenigstens das, dachte er- Ehehälfte noch weitere zwei Stunden im Bett und sorgte für ihre Schönheit!
Der Hund zog sich erleichtert in seine Ecke zurück, um weiter zu dösen, und Phil drückte auf das Gaspedal, um einer drohenden Abmahnung zu entgehen.
Der Phil befohlene, neue Tagesrhythmus wollte die Lebensgeister nicht recht beflügeln. Phil schimpfte, grummelte und war mit seinem Dasein unzufrieden. Ein gänzlich neuer Zug, der Susanne in Erstaunen versetzte und sie nachdenklich stimmte.
Sie ließ sich ein Horoskop über Phil erstellen, von einer Astrologin, einer Bekannten ihrer Schwester, um abzuklären, warum Phil urplötzlich so verdrießliche Wesenszüge an den Tag legte.
Es stellte sich heraus, dass Phils astrologische Konstellationen von einem Glücksfall weit entfernt waren und die Sternzeichen Krebs und Schütze leider überhaupt nicht zusammenpassten. Wasser- und Feuerzeichen sollten sich besser aus dem Wege gehen!
„Das erfahre ich Jahrzehnt spät murmelte Phil zerknirscht.
Susanne vertrat die Ansicht, eine vorübergehende, räumliche Trennung würde fürs erste die aufkommenden Spannungen mildern.
Das war leichter gesagt als getan!
Da man in häuslicher Gemeinschaft lebte, ließ es sich nicht verhindern, dass man seiner mehrfach am Tage ansichtig wurde. Aber man wollte nichts unversucht lassen, um der unseligen Konstellation, so weit wie möglich, entgegenzuwirken.
Vorübergehend schlief Phil in der Einliegerwohnung und aß im Gästezimmer. Aber ein Minimalkontakt blieb bestehen und es wurde rasch deutlich, dass es so nicht weitergehen konnte!
Zum Glück wurde Susanne auf das Buch einer indianischen Schamanin aufmerksam, in dem klipp und klar ausgeführt war, dass man auch bei Unvereinbarkeit der Seelen, mit etwas Geduld, spirituelle Nähe entwickeln könne.
Das daraufhin von Susanne unterbreitete geistige Angebot, doch wieder gemeinsam zu schlafen, wurde von Phil begierig aufgegriffen.
Aber wenn Phil geglaubt hatte, das ärgste sei überstanden, merkte er bald, dass für voreilige Triumphgefühl kein Raum war: die neue Partnerschaftlichkeit blieb auch zukünftig außerordentlichen Bewährungsproben unterworfen.
Susanne hatte die Angewohnheit, im Schlafzimmer bis spät in die Nacht zu lesen.
Während sich Phil, der bei Licht nicht einschlafen konnte, übermüdet im Bett herumwälzte und erfolglos darum bat, das Lesen so einzurichten, dass ihm wenigstens noch fünf Stunden Nachtschlaf blieben, lutschte Susanne ein Sahnebonbon nach dem anderen, nahm zwischendurch einen tiefen Schluck Selterswasser zur Entschlackung -zwei bis drei Flaschen standen stets im Nachtschrank- und raschelte mit dem nächsten Bonbonpapier.
„Jeder hat ein Recht darauf, sich selbst zu entwickeln. Du sagst oft genug, dass etwas mehr Bildung nicht schaden kann. Nun sei froh, dass ich so bildungshungrig bin und selbst zu nachtschlafender Zeit das Bedürfnis zu lesen verspüre. Du weißt, dass ich tagsüber nicht zum Lesen komme. Aber in Wahrheit ärgert es Dich natürlich, dass ich meinen Horizont erweitern möchte!“
Phil versicherte, dem sei ganz und gar nicht so; die Hundespaziergänge und das nächtliche Lesen -beides zusammen könne er jedoch auf Dauer nicht verkraften.
„Du denkst fortwährend an Dich! Ich soll mich immer anpassen! Du bist einfach zu autoritär! Zum Glück sind die Zeiten vorbei, in denen der Mann bestimmt hat, wo es langgeht!“
Susanne raschelte aggressiv mit ihren Bonbonpapieren und rutschte in eine komfortable Leseposition.
Phil wälzte sich auf die andere Seite des Bettes.
Jeden Abend pflegte Phil die Kleidung für den nächsten Tag auf einem Stuhl im Bad zurechtzulegen, damit er morgens auf leisen Sohlen aus dem Schlafzimmer huschen und sich, ohne Susanne aufzuwecken, fertigmachen konnte.
Aber wehe, er hatte am Abend aus Versehen das falsche Oberhemd herausgesucht und musste noch einmal zurück ins dunkle Schlafzimmer, um im Kleiderschrank nach dem richtigen zu tasten!
Dann herrschte Susanne ihn übellaunig und ungnädig von ihrer Lagerstatt aus an, es sei eine kolossale Rücksichtslosigkeit ihr gegenüber, sie zu so früher Stunde aufzuschrecken. Er wisse doch, wie lange sie gelesen habe, ein paar Stunden Ruhe benötige sie nun wirklich, aber Rücksichtnahme habe er bei seiner Mutter, die ihn als Einzelkind unglaublich verwöhnt habe, wohl nicht gelernt!
Um ihr Schlaf- und Ruhedefizit zu decken, lag Susanne in jeder freien Minute im heizdeckengewärmten Bett, an Wochenenden auch tagsüber, angekleidet, da sie leicht fröstelte, die Bettdecke bis zur Kinnspitze hochgezogen, die Heizung bis hinten aufgedreht, ohne auch nur ein unnötiges Schweißtröpfchen zu vergießen.
Sie wolle ja nicht abstreiten, dass aufgrund einer Schilddrüsenerkrankung eine gelegentliche Temperaturregulationsstörung bei ihr vorliegen könne. Ein fürsorglicher Ehemann hätte von sich aus dafür gesorgt, dass sie in dem chronisch ausgekühlten Hause nicht zur Eissäule erstarren müsse. Und dass sie nach wie vor in Phils Gegenwart fröstelt, sei auch kein Zufall! Das solle er sich als Psychologe einmal durch den Kopf gehen lassen!
Überhaupt quäle er sie Macht für Nacht mit seinem Schnarchen. Es reiche schon, wenn der Hund vor der Schlafzimmertür schnarche.
„Zwei Schnarcher halte ich nicht aus- wundere Dich nicht, wenn ich Dich, sobald Du zu röcheln beginnst, unsanft wecke!“
Phil fiel ein, dass er heute Nacht davon geträumt hatte, beim Besuch des Pergamon-Museums in Berlin sei eine weiße Marmorstatue umgekippt und ihm auf den Kopf geschlagen!
„Jawohl“, schrie sein Eheweib, „heute Nacht habe ich Dir das Kissen über den Kopf gezogen. Dein Schnarchen war wirklich unausstehlich! Und Du kannst von Glück sagen, dass ich es dabei habe bewenden lassen!“
Eine Woche später entdeckte Susanne den Psychologen und Philosophen Murphy und begann ab sofort „positiv“ zu denken.
Im positiven Denken, wie es Murphy fordere, liege der Schlüssel zum Glück. Positives Denken beruhige. Alles, selbst diese Beziehung, ließe sich mit positivem Denken ertragen.
„Was ich befürchtet habe, ist eingetreten“, sagte Susanne. „Ich habe einen lieblosen Ehemann, weil ich mich zu sehr auf Deine zahllosen, negativen Seiten konzentriert habe. Das musste ja in einer Sackgasse enden. Ab sofort werde Ich mich darum bemühen, auch an Dir etwas Positives zu entdecken!“
Sie entdeckte, dass Phil eigentlich nach wie vor im Bett gut in Form war. Das beflügelte maßgeblich das eheliche Liebesieben und die Bücher im Schlafzimmer begannen zu verstauben.
Paradoxerweise kam auch Phil zu mehr Schlaf und fühlte sich morgens ausgeruhter.
Er pries Murphy, aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!
Der nächste Rückschlag war bereits vorprogrammiert!
„Ein bisschen Großzügigkeit kann ich selbst von Dir einfordern!“
Diese Großzügigkeit habe sie sehr vermisst, als man im letzten Sommer mit dem Auto Richtung Südfrankreich, in Urlaub gefahren sei: Phil habe sich doch tatsächlich maßlos darüber ereifert, dass ihr erst nach halber Wegstrecke ein kleines Versehen eingefallen sei:
„Du – ich habe, glaube ich, zu Hause das Badefenster im Dachgeschoß offengelassen. Und die Personalausweise der Kinder sind leider auf der Flurgarderobe liegen geblieben.“
Phils Reaktion hierauf habe sie schockiert. Er sei auf unflätigste Art und Weise aus der Rolle gefallen.
Noch ungehöriger habe er sich benommen, als man im letzten Frühjahr nach Sylt gefahren sei und sie nach 80 km festgestellt habe, dass sowohl die Kontaktlinsen wie der Schminkkoffer zu Hause geblieben waren. Phil habe ihr allen Ernstes zumuten wollen, ohne Kontaktlinsen, ungeschminkt und hässlich, durch Westerlands „Friedrichsstraße“ zu spazieren.
Ein achtsamer und liebender Ehemann hätte hierüber kein Wort verloren und wäre auf der Stelle umgekehrt. Phil jedoch habe sich, im Einklang mit den schreienden Töchtern, gegen die Rückfahrt gestemmt
„Es ist dieses kleinliche Gehabe von Dir, was mir so sehr auf die Nerven geht!“
Die Macht der Argumente bewog Phil, brummig und nicht ohne Verbitterung, einzulenken:
Er gewöhnte sich ab, zu viel zu erwarten. Und gewährte Susanne als „lässigem Typ“ den Freiraum, den sie auf jeden Fall für sich beanspruchen musste, um ihren innersten Wesenseigenschaften gerecht werden zu können.
„Denn gegen diese kann man sich nicht ungestraft auflehnen, ohne die innere Harmonie der Personja, die ganze Weiblichkeit, aufs Spiel zu setzen“, meinte Susanne.
Der häusliche Friede war gerettet und es zeigte sich fortan, dass sich „lässige“ und „gewissenhafte“ Typen tatsächlich ideal zu ergänzen vermögen.
So kehrte im Hause Breitenbach die Ruhe ein.
Und Susanne konnte sich neuen Interessengebieten zuwenden. Sie stieß auf die chinesische Astrologie und fand dort erstaunlicherweise bestätigt, was sie schon immer vermutet hatte: Phil war ein „Affe!“
„Dieses Sternzeichen ist besser, als ich befürchtet habe“, sagte sie, „denn Affen sind erdgebundene Zeichen, ein bisschen schwach und feminin, aber partnerschaftlich nicht uninteressant!“
Dann machte sie die indianischen Weisheiten ausfindig.
Susanne war Eule. Im indianischen Horoskop. „Eulen sind weise und lebenserfahren“, erklärte Susanne.
Da Eulen nachts erst richtig munter werden, bestand sie auf einem Discobesuch, „Endlich einmal wieder!“
Phil dachte an sein graues Haar, den Bauchansatz und das LWS-Syndrom, aber er widersprach nicht, als er Susannes leuchtende Augen sah.
Man einigte sich auf die Disco „Nightfire“, auf deren Dach ein Riesenlaser rotierte und Strahlen zum Mond schickte.
Die Discothek war überfüllt. Der Türsteher mit fünf Ohrringen und einem Augenbrauen-Piercing weigerte sich sofort, eine Erscheinung wie Phil in den Tanztempel einzulassen. So jemand, total uncool, verderbe die Stimmung. Das könne er dem Geschäft nicht antun. Es widerstrebe seiner Ehre als Türsteher, da wäre der Laden ruck zuck ruiniert, schließlich wolle er seinen Job noch länger ausüben.
Das sah Phil ein, aber Susanne steckte dem frechen Menschen 20 DM in die Weste und kokettierte mit allem, was ihr zur Verfügung stand, insbesondere dem Inhalt ihres engen, tief ausgeschnittenen T-Shirts, und das gab dann den Ausschlag.
„Na gut“, dröhnte der Dreitage-Bärtige mit Muscle-Shirt großmütig und immer noch etwas von oben herab zu Susanne, „aber ich check nicht, wie Du Dir als echt geile Tussi so’n trüben Grufti an Land ziehen kannst!“
„Siehst Du“, sagte Susanne, „jeder merkt gleich, was mit Dir los ist!“ Phils Proteste wurden vom Dröhnen der Basstrommeln verschluckt. Phil schrie Susanne ins Ohr: „Immerhin hat mich neulich bei Karstadt die Verkäuferin in der Bettfederabteilung mit „junger Mann“ angeredet! Und die war mindestens zwei Jahre jünger als ich!“
„Ach Du liebes Lieschen“, sagte Susanne, „das ist vielleicht was! Du bist wahrscheinlich der erste Mann im laufenden Jahr gewesen, der sich in die Abteilung verirrt hat. Den Damen dort fehlt doch jeder Maßstab! Darauf würd* ich nicht viel geben!“
„Ich schon!“ brüllte Phil patzig, um den herausbrandenen Lärm zu übertönen. Susanne blieb stehen.
„Unter diesen Umständen“, verkündete sie mit schneidender Stimme, „und um Dich auf den Teppich herunter zu holen, darf ich Dich daran erinnern, was der süßte kleine Junge auf dem Parkplatz, nahe der Fußgängerzone, zu Deiner Erscheinung gesagt hat!“
Phil schrumpfte in sich zusammen. Das saß. Die Erinnerung stieg wie ein saurer Rülpser hoch. „Gehört Dir das schöne Auto?“ hatte der Knirps gefragt.
Die den Jungen beaufsichtigende Großmutter hatte Phil Wohlgefällig angesehen. „Jawohl, mein Kind“, hatte Phil geschmeichelt erwidert, „das ist ein Mercedes!“ Das Kind hatte mit aufgerissenen Augen Phil einige Sekunden angestarrt und dann hervorgestoßen:
„Komisch Oma, dass so ein Opa noch Auto fährt, gell?“ Phil hatte es die Sprache verschlagen.
Es tröstete ihn nicht, dass die Großmutter den frechen Enkel hin- und her rüttelte und ihren Schirm drohend in die Höhe Riss: „Wie kannst Du so etwas sagen, Du ungezogener Bengel! Sofort entschuldigst Du Dich bei dem Herrn, sonst passiert etwas!“
Als der Kleine zu plärren begann, hatte Phil süß-sauer gelächelt und mit schmalen Lippen hervorgepreßt: „Ach, lassen Sie nur, meine Dame, so etwas legt man nicht auf die Goldwaage.“
„Kindermund tut Wahrheit kund“, hatte Susanne gerufen, und das fand Phil nun wirklich ungehörig.
Am Ende eines langen, rot beleuchteten Ganges öffnete sich das Loch zur Unterwelt, ein dunkler, feuchter Riesenraum mit einem undurchdringlichen Gewühl an Leibern, Schweiß und hämmernder Motortakt-Musik, überblitzt von zuckenden Lichtsignalen.
„Da an der Tanzfläche ist ein Tisch frei!“
„Ich würde lieber etwas weiter hinten sitzen. Hier fällt man so auf!“
„Quatsch, wenn ich da bin, will ich auch gesehen werden!“
Susanne ging geradewegs auf den Tisch an der Tanzfläche zu, nahe einem Boxenturm, und ließ sich nieder.
Phil folgte mit großen Bedenken.
Bereits nach wenigen Minuten schmerzten Phils Ohren so stark, dass sich ein dumpfes Ziehen bis in den Hals hinein bemerkbar machte. Die flotte, blutjunge Bedienung trug einen schwarzen Minirock, unter dem bei jedem Auf- und Abstellen der Gläser ein lilafarbener Spitzenslip erkennbar wurde. Ais sie Phils ansichtig wurde, bekam sie große Augen und ihr Nasenclip bebte.
Phil bestellte dennoch: „Ein Bacardi-Rum und ein Kir Royal!“
Susanne wollte tanzen, aber zuvor noch die wiederentdeckte Harmonie, die sich aufgrund der chinesischen Tierkreiszeichen nicht ausschließen ließ, diskutieren.
„Dass ich Affe bin, habe ich schon immer geahnt. Du machst mich dazu“, schrie Phil Susanne ins Ohr.
„Sei nicht albern“
„Albern sein passt doch zu einem Affen.“
„Du willst mich nie ernst nehmen!“
„Das hieße Eulen nach Athen tragen!“
„Vielleicht bin ich überhaupt keine richtige „Eule“. Nur bei den Indianern bin ich „Eule“, bei den Chinesen aber „Drache“.
„Das passt zu Dir. Ich hät‘s mir denken können!“
„Noch eine solche Verunglimpfung und ich gehe!“ Susanne war ernsthaft böse.
„Der Feuerhauch des Drachen versengt den Affen.“
„Dann weißt Du ja, woran Du bist.“
Phil lenkte ein. Er war weder der indianischen noch der chinesischen Tierkreiszeichen mächtig. Und es war ihm schnurz! Aber er heuchelte Interesse: er wusste, damit war Susanne zu besänftigen.
„Was sind denn Deine Freundinnen?“
„Christine ist ein Schwein! Lustig, wie?“
„Ich find’s peinlich!“
„Wie bitte?“ die Bässe wummerten unerträglich.
„Ich find’s peinlich, ein Schwein zu sein!“
„Schwein!“
In diesem Moment brach die Musik ab. Völlig unvermittelt und unvorhersehbar. Phil konnte seine Äußerung nicht mehr rechtzeitig zurückziehen. Sein lautgebrülltes „Schwein“ drang bis in den letzten Winkel der Disco. Die Köpfe flogen herum. Alles starrte auf Phil. Phil erschauerte, in den Boden versinken! Unter den Tisch kriechen! Egal! Nur unsichtbar werden
Phil flüsterte: „Die denken jetzt alle, das „Schwein“ habe Dir gegolten!“ Der Typ am Nebentisch sagte: „Die arme Frau, leid kann sie einem tun. Die alten Böcke – alles Chauvis der übelsten Sorte!“
„Heh Mister“, sagte die Mini-Rock-Serviererin, die am Nebentisch zwei Cola hingeknallt hatte, und stemmte einen ihrer Girlie-Schuhe auf den Stuhl: „Nimm Dich ‘nen bisschen zusammen und lass Deine autoritären Macken sausen! Das zieht nicht’! Mega out, do you know?“
Phil wagte nicht, sich zu bewegen. Auch als die Baßtrommeln wieder donnerschlagmäßig hereinbrachen. Der Schreck saß ihm in den Gliedern. Der Schweiß perlte wie Wasser. Nicht nur wegen der Temperaturen hier drin.
Das spöttische Grienen der kettchenbehängten Bodybuilt-Groover, die zwischendurch Susanne und ihr T-Shirt abmusterten, war unausstehlich! „Scheißladen“, sagte Phil. „Jetzt habe ich die Schnauze voll. Ich gehe!“ „Typisch Affe! Hyperverletzlich!“
Susanne hatte Oberwasser.
„Aber bitte, wie Du meinst! Ich komme schon klar ohne Dich!“
Sie zwinkerte den Groovern zu, dass es sich gewaschen hatte.
Phil fiel es rechtzeitig ein, dass Susanne jünger war als er. Phil blieb. Aber nur unter Protest!
Die liebe Susanne! Immer gut für eine Überraschung. Was wäre aus seinem ruhigen, geordneten Leben geworden, wenn er nicht Susanne geheiratet hätte? Stattdessen beispielsweise seine Sandkastenfreundin? Oder die Tanzstundenliebe? Oder, oder?
Alles zufällig? Vielleicht wäre Susanne nie in seinem Leben aufgetaucht wenn ihn nicht zuvor, in entscheidenden Momenten, der Mut verlassen hätte! Wie oft hatte er die „großen Lieben“ seines Lebens sich, in nichts auflösen sehen! Wie oft hatte ihm ein anderer die Traumfrau vor der Nase weggeschnappt!
Zufall? Schicksal? Fügung?
„Es liegt alles so dicht beieinander“, dachte Phil. Hätte er 1964, nach dem Abitur, auf der Straße in Bad Klosterbrunn, nicht aus Verlegenheit so getan, als kenne er das Mädchen gar nicht, das er auf einer Party getroffen hatte, und hätte sie nicht daraufhin, maßlos enttäuscht und tief verletzt, sich geweigert, am nächsten Tage seine telefonische Entschuldigung anzuhören, wer weiß, ob er heute nicht, statt mit Susanne, mit diesem Mädchen namens Tina verheiratet wäre?
Augenblicksentscheidungen, in Sekunden getroffene Entschlüsse, deren weitreichende Konsequenzen nicht abschätzbar sind – werden sie irgendwann einmal, in rückschauender Bilanzierung, als fahrlässige Versäumnisse oder glückliche Fügungen gelten?
Wenn in einer Sekunde die Weichen für das nächste halbe Jahrhundert gestellt werden – wer ahnt dies schon, wenn der Hebel umgelegt wird? Wie gut, dachte Phil, dass wir uns im Augenblick der Entscheidung über deren Endgültigkeit nicht im Klaren sind.
Susanne kannte er schon so lange! Er hatte sie aus den Augen verloren. Und dann wiedergetroffen.
Am Abend vor der Hochzeit hatte Susanne ihm geschworen, sie werde ihn nie, nie, niemals an eine andere abtreten, komme was da wolle, das müsse am Tag vor der Trauung klar sein, und Phil hatte es lächelnd und glücklich zur Kenntnis genommen.
Und Susanne hatte auch geschworen, sie werde in Zukunft für Farbtupfer in seinem grauen Alltag sorgen, und das hatte sie wahrhaftig gründlich getan! Nach den vielen Jahren, die sie sich kannten und die sie zusammengelebt hatten, fühlte er sich weiß Gott oft genug bunt gesprenkelt, einem Osterei ähnlich, dessen farblose Ausgangsbeschaffenheit mit dem bei Leberecht Siebenzahn so beliebten Kartoffel-Stempel-Druck-Verfahren behandelt worden war!
Leberecht Siebenzahn! Richtig! Der Kunsterzieher vom Lullus-Gymnasium in Bad Klosterbrunn! Dass der ihm ausgerechnet jetzt eingefallen war! Die Begegnung mit Schauerlich auf der Urlaubsrückreise hatte ihn nostalgisch gestimmt Uralte Geschichten stiegen auf!
Phil hatte die Zeitung schon längst sinken lassen. Ihn überkam plötzlich der Wunsch, eine der alten Platten von damals aufzulegen. Er ging zum Plattenregal und begann zu wühlen. Ganz hinten, seit Jahren vergessen, standen die LPs von Fats Domino, Litte Richard, Elvis, Everly Brothers, Chuck Berry, Conway Twitty, Wanda Jackson, Richy Valence, Ricky Nelson, Paul Anka, Buddy Holly, Conny Francis und den Righteous Brothers.
Phil legte eine Platte von Fats Domino auf. Unterlegt von einem hart rollenden, glasklaren Piano und einem krächzenden Saxophon ertönte, unter leichtem Kratzen der CD-gewöhnten Stereoanlage, die vollmundige Frosch-im-Hals- Stimme des dicken Sängers.
Phil stöpselte die Kopfhörer in den Verstärker ein und streifte sie über die Ohren. Er wollte die Kinder nicht wachmachen. Er setzte sich in einen Sessel und streckte die Beine aus. Er schloss die Augen. Er schmunzelte. Er lauschte versonnen. Wie vertraut der alte Popsong klang! Jedes Wort des Textes konnte er mitsingen. Ein deja-vu-Gefühl, bittersüß, aufregend. Flüchtig und für Sekundenbruchteile verspürte er dasselbe Gefühl wie damals, als er nach der Platte auf einer Pennälerparty in Bad Klosterbrunn tanzte; irgendwann Ende des Jahres 1962. Die Empfindung war so unmittelbar zugegen, so lebendig, dass er sich selbst darüber verwunderte: war er jetzt der Ehemann und Vater, dem fast ein halbes Jahrhundert in den Knochen steckte und der sich allmählich mit dem Gedanken vertraut machen musste, dass die Zukunft für ihn weniger bereithielt als ihm in der Vergangenheit zuteil geworden war, oder saß hier der Schüler Philip Breitenbach, 18 Jahre alt, mit all den hochfliegenden Erwartungen, Hoffnungen und Zukunftsträumen, die den Stapellauf in das Erwachsenwerden markieren?
Und aus all dem Erinnerungsdunst, der jetzt in ihm aufstieg, formte sich ein Gesicht, ein Mädchengesicht, mit braunen, schimmernden Augen und langen, brünetten Haaren, herrlich jung und beunruhigend schön. Die Vorstellung verblasste, verschwand wieder; Phil bemühte sich vergeblich, das Gesicht festzuhalten, es gelang nicht Aber er erinnerte sich an den Namen. Wie hätte er ihn je vergessen können!
Julia!
Jetzt stand sie wieder mit ihren flatternden Haaren vor ihm, lächelte ihn an, verwundert, ein wenig traurig, auch zärtlich, so, wie sie ihn in der Nacht des großen Schulballs angesehen hatte, als sie auf einmal aus dem Gewühl der tanzenden Paare aufgetaucht war und er sie am liebsten, vor aller Welt, in den Arm genommen hätte.
Das Lullus-Gymnasium in Bad Klosterbrunn hatte seinen Schulgründungstag mit einem festlichen Ball gefeiert wie jedes Jahr am 09. Dezember. Und die Lolls-Schüler -der Name des Stadtpatrons Lullus wurde in Bad Klosterbrunn zu „Lolis“ verballhornt- hatten sich eingefunden, um, Schulter an Schulter mit den Paukern, geschniegelt und pomadisiert, ihren in der Tanzstunde erworbenen außerschulischen Reifestand zu dokumentieren.
„Mein Gott“, stöhnte Phil, während die Platte auslief, „wie lange ist das her?“ Phil legte eine andere Platte auf, diesmal von Conway Twitty, und dachte: „Bin ich jetzt schon so alt, dass ich melancholisch in Erinnerungen an alte Zeiten schwelge?“
Phil ließ seine Gedanken ausschwärmen und die alten Platten halfen ihm dabei.
Während die Erinnerung Immer lebhafter wurde, rückten ständig neue Details ins Gedächtnis, die er längst vergessen glaubte.
This time.’ Troy Shondell. Phil summte leise mit.