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Eine Begegnung

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Philip Breitenbach befand sich mit seiner Familie auf der Urlaubsrückreise. Man hatte, wie jedes Jahr im Spätfrühling, 14 Tage auf der Insel Sylt verbracht.

Die beiden Töchter, Sofia und Daniela, fünf und sieben Jahre alt, starrten missmutig aus dem Fenster und wiederholten stereotyp, alle fünf Minuten, denselben Satz: „Wann sind wir endlich zu Hause, Papa?“.

Bereits eine halbe Stunde nach der Abfahrt in Wenningstedt, der Reisezug befand sich noch auf dem Hindenburgdamm und hatte das Festland nicht erreicht, hatten sich die Kinder das erste Mal erkundigt:

„Wie lange dauert es noch, Papa?“

Während die Insel am Horizont allmählich zusammenschrumpfte, vermochte weder der Hinweis auf Möwen noch Wattenmeer das Interesse der Töchter zu wecken. Sofia schrie nach ihrem Fläschchen und Daniela fand alles langweilig.

Jetzt fünf Stunden später, begann Phil der Geduldsfaden zu reißen, als Daniela zum hundertsten Male quengelte: „Wann?“

„Ruhe, zum Donnerwetter! Ich will diesen Satz heute nicht ein einziges Mal mehr hören, verstanden? Sonst flipp ich aus!“

Sofia begann zu weinen und Daniela verstummte zähneknirschend.

Susanne, Phils Ehefrau, runzelte die Stirn und setzte ihren Walkman ab, ohne den sie, wie sie behauptete, längere Autofahrten mit Phil am Steuer nicht ertragen könne. Sie sehe sich außerstande, den wüsten Fahrstil Phils ohne Nervenschäden zu überstehen, lausche sie nicht Entspannungskassetten mit relaxierenden Beschwörungsformeln und Gebirgsbachrauschen. Zudem vermöge sie sich auf diese Weise des misslichen Lamentierens der Kinder zu entziehen, dass jede längere Autofahrt begleite.

„Deine Hektik beim Autofahren macht mich krank, das weißt Du! Kannst Du nicht einmal fahren wie ein normaler Mensch?“

Phil fuhr seit fast dreißig Jahren unfallfrei. Aber er wusste, es war sinnlos, mit Susanne auf rationaler Ebene diskutieren zu wollen. Er schwieg und fuhr weiter wie bisher.

Jetzt jedoch ging es nicht um Phil's Fahrstil.

„Du bist ein Choleriker“, sagte Susanne. „Du schreist so laut, dass ich das Gebirgsbachrauschen auf meinen Kassetten nicht mehr höre! Du lieferst ein schlechtes Beispiel für die Kinder!“

Phil erinnerte sich, dass Susanne vor nicht einmal zwei Stunden, während der Mittagsrast, an der Selbstbedienungstheke des Autobahnrestaurants, einen solchen Tobsuchtsanfall bekommen hatte, dass alle Gäste entsetzt herüber stierten. Sie schüttelten den Kopf und waren voll des Mitleids.

Phil wollte aber nicht bedauert werden; der Auftritt war ihm peinlich und er verzog sich rasch und unauffällig in den hinteren Teil der Gaststätte. Hinter einer Säule tat er so, als sei ihm die wütende Dame, die soeben entgleiste, gänzlich unbekannt.

Die Kinder liefen hinter ihm her und heulten laut: „Wir wollen eine neue Mama!“ Nach einer Schrecksekunde versuchte Phil, die Kinder zu trösten. Aber da gesellte sich auch schon Susanne, lächelnd, die Ruhe in Person, zu ihrer Familie hinzu:

„Ich weiß gar nicht, was ihr habt! Ihr kennt mich doch! Ich bin halt etwas temperamentvoll, ihr versteht es immer noch nicht, mich richtig zu nehmen!“

Der Grund der Aufregung hatte darin bestanden, dass Daniela auf einem Eis als Mittagessen beharrte. Die angebotene Bratwurst mit Pommes frites und Ketchup, sonst ihr Leib- und Magengericht, war, aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer, energisch abgelehnt worden.

Susanne setzte den Kopfhörer wieder auf, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Einige Kilometer später zeigte ihre muskelschlaffe Entspannungsmiene die neuerliche Wirkung des Gebirgsbachrauschens an.

Die Kinder spielten mit ihren Puppen. Phil verzichtete auf weitere Kommentare, drosselte das Gas und betrachtete die Umgebung.

Die Augen waren während der 14 Tage auf Sylt, wo Kliffs und Sanddünen als Berge galten, einer Höhenentzugsbehandlung unterworfen worden. Nur noch an Heideflächen und platte Vorfrühlingswiesen gewöhnt, begeisterte sich Phil jetzt an der Schönheit der Mittelgebirgslandschaft: Dem Auf und Ab von Hügeln und Tälern, Wiesen und bewaldeten Bergrücken. Die Rapsfelder leuchteten grellgelb im Sonnenschein. Vor dem hellen Grün der Tannen im Vordergrund und dem Blaugrün der Wälder am Horizont standen in üppigem Weiß Buschhecken in voller Blüte.

Die ebene Monotonie Norddeutschlands ist nichts für mich auf Dauer, dachte Phil, zuhause fühle ich mich dort nicht!

Auf einer Anhöhe, rechts von der Autobahn, lag eine alte Burgruine, zerfallen bis auf den Bergfried und Teile der Wehranlage.

Kurze Zeit später durchfuhr Phil eine kurvige, geschwindigkeitsbegrenzte Gefällstrecke, vor deren Ende sich der Blick in eine weite, lichtdurchflutete Talsenke öffnete. Dort unten lagen Felder und Dörfer. Darüber, an den Hängen, hell-dunkelmeliertes Grün, Löwenzahnwiesen, bestellte Felder und weiß-rosablühende Obstbäume.

Phil fuhr so gemächlich wie selten, ließ die Augen schweifen und genoss den Reiz der Umgebung.

Im Vorbeifahren fiel sein Blick auf ein Straßenschild: Bad Klosterbrunn, 19 km! Auf dem Weg in den Norden oder zurück, Richtung Süden, hatte er die Gegend oft passiert; das Hinweisschild hatte er jedoch nie wahrgenommen.

Wohl, weil er die Gegend so gut kannte!

Weil er, nicht weit von hier, seine Kindheit und Jugend verbracht hatte und in Bad Klosterbrunn auf das Gymnasium gegangen war!

Er verspürte plötzlich, nach all den Jahren, den unbändigen Wunsch, Bad Klosterbrunn einmal wiederzusehen. Man war ohne größeren Stau vorangekommen und lag gut in der Zeit. Es reichte, wenn man gegen Abend zu Hause war. Marco, der familieneigene Labrador, musste bis 20.00 Uhr aus seiner Hundepension abgeholt sein! Kein Problem!

„Wisst Ihr was, Leute“, sagte Phil laut „wir machen einen kurzen Abstecher nach Bad Klosterbrunn. Dort bin ich neun Jahre zur Schule gegangen. Wir trinken in Bad Klosterbrunn Kaffee und sehen uns einmal das Städtchen an!“ „Bloß keine Besichtigungen!“ meckerte Daniela sofort. „Besichtigungen sind langweilig und ekelhaft!“

„Jawohl“, tönte Sofia.

Susanne schaute alarmiert hoch und stellte ihren Walkman ab.

„Das ist doch wohl nicht dein ernst?“

„Doch, sagte Phil „Mein voller ernst!“

„Also, ich habe keine Lust, stundenlang durch die Gegend zu rennen und irgendwelche Kirchen oder Schlösser zu besichtigen! Was habe ich Dir zuliebe nicht schon Burgen und Museen durchwandert! Eine Burg ist eh’ wie die andere! Bitte nicht schon wieder!“

„Keine Aufregung“, beschwichtigte der Familienvater. „Ich versichere Euch, keine Besichtigungen! Nur ein kurzer Stadtbummel!“

„Kriegen wir ein Eis, Papa?“ erkundigte sich Daniela.

„Klar! Versprochen!“

„Also, dann bin ich dafür!“

„Ich auch“, pflichtete Sofia bei

„Du bist überstimmt, Susanne!“ Phil frohlockte.

Er verließ die Autobahn, fuhr auf die Landstraße und bog in Richtung Bad Klosterbrunn ab.

Das alte Städtchen verdankte seine Existenz einer frühmittelalterlichen Klostergründung. Die ehemalige Abtei war bis auf die mächtigen romanischen Ruinen der hoch aufragenden Stiftskirche verschwunden. Aber jedes Jahr fanden hinter den Mauern der gewaltigen Kirchenruine Festspiele statt, die für mehrere Wochen das Relikt früherer Jahrhunderte jeweils aufs Neue in den Mittelpunkt des kleinstädtischen Lebens rückten und Bad Klosterbrunn vorübergehend einen Hauch von Bedeutung verliehen.

Vielleicht hatten vor noch nicht allzu langer Zeit Kinder in den zerklüfteten Ruinen der Stiftskirche gespielt, unterirdische Gänge erforscht und nach verborgenen Schätzen Ausschau gehalten. Vielleicht hatten sie des nachts, hinter einer eingebrochenen Mauer verborgen, mit klopfendem Herzen darauf gewartet, dass im fahlen Schein des Mondes, eine alte Sage wusste, der Geist eines ermordeten Benediktinerabtes durch die romanischen Torbögen schweben würde, um sich sodann, mit lautem Wehklagen, in flattrige Nebelfetzen aufzulösen.

Aber längst war nun der freie Zutritt verwehrt, die Ruine abgesperrt und einzig während der in ganz Deutschland bekannten Festspieltage, gegen saftige Eintrittspreise, zugänglich.

In der Nähe der Ruine befand sich der alte Marktplatz, der als Großparkplatz unter Autos zu ersticken drohte. Phil erinnerte sich des Weges zu diesem Parkplatz, direkt durch die Innenstadt, aber er hatte die Rechnung ohne die zwischenzeitlich tätig gewordenen Stadtplaner gemacht

In den letzten 20 Jahren hatte sich vieles verändert. Der Autoverkehr war aus der Kernstadt herausgenommen und um die Stadt herumgeführt worden. Jetzt gab es eine Fußgängerzone.

Auch waren Straßencafés unterhalb des Marktplatzes, mit weißen Balustraden und bunten Sonnenschirmen, eingerichtet worden.

So dauerte es eine Weile, bis Phil den von großen Reisebussen zugestellten Marktplatz gefunden hatte. Er stellte den Wagen ab, löste einen Parkschein und machte die inzwischen ausgestiegene Familie auf die alten Steinhäuser aufmerksam, die den großen, rechteckigen Marktplatz umsäumten.

Phil stieß nur auf begrenztes Interesse. Als aber Phil gar vorschlug, als erstes gemeinsam seine ehemalige Schule zu besichtigen, da nörgelten die Kinder und Susanne monierte den Fußweg dorthin:

„Das kannst Du uns nun wirklich nicht zumuten! Mit meinen hohen Absätzen. Möglicherweise geht es auch noch über Kopfsteinpflaster.Und die Kinder sind von der Fahrt erschöpft!“

„Schon gut!“ Phil setzte kurz entschlossen Susanne und die Kinder in einem Café am Marktplatz ab, um dann allein zu seiner Erinnerungstour aufzubrechen. Die Gegend um den Marktplatz herum war altvertraut und er erkannte die Gasse wieder, die zum Lyzeum, dem Gymnasium für Mädchen, führte. Er wunderte sich, dass die Fassade dieses Gebäudes von Rissen überzogen war und der Putz bereits herunter bröckelte. Die Schulfenster schienen morsch und brüchig geworden zu sein und Sprayer hatten die Fassade beschmiert.

Die schwere Eingangstür aus Holz hing so schief in ihren Angeln, dass es nicht schwerfiel, zu vermuten, das Gebäude sei seit längerem dem Verfall preisgegeben worden. Ais Unterrichtsstätte hatte es offensichtlich ausgedient. Eine leichte Traurigkeit beschlich Phil.

Er lief die Straße weiter hinab, sah das ehemalige Schuldirektorenhaus, wo Konrad Duden gelebt hatte, und stand sodann vor seiner alten Lullus-Schule. Das Herz klopfte Phil bis zum Halse, es war auf einmal wie damals, wenn er, aus einer Mischung von Beklommenheit und Zweckoptimismus, am Morgen einer Mathearbeit, die hohe, aus Bruchsteinen zusammengesetzte Ringmauer zu Gesicht bekam und sich dem von Hauben und Türmen flankierten Eingangsportal mit der übermannsgroßen, schmiedeeisernen Tür näherte. Hier waren seit Generationen Gymnasiasten zur Schule gegangen, auch der Vater Phils. Und Phils Mutter hatte nebenan das Lyzeum besucht.

Das Anfang des Jahrhunderts errichtete Schulhauptgebäude im Stil der Neorenaissance erdrückte fast den baufällig wirkenden, völlig schmucklosen, grauschwarzen Nebenbau, der noch aus der Gründerzeit des hier ehemals angesiedelten Franziskanerklosters stammte. In der Mitte, zwischen altem und neuem Bau, lag ein großer, von Laubbäumen im Sommer nur teilweise überschatteter Schulhof.

Die hässliche Turnhalle befand sich im hinteren Teil des Schulhofes, zwischen Hofmauer und Aula.

Mitten auf dem Schulhof hatte man Ende der fünfziger Jahre einen alten Brunnenschacht wiederentdeckt Die Asphaltierung des Hofes war brüchig geworden und das Loch, das in die Tiefe reichte und eine Gefahr für die Schüler darstellte, sorgte für große Aufregung. Der Hausmeister, Herr Pflaume, war abgeordnet worden und musste während der Pausen die Neugierigen auf Geheiß des Oberstudiendirektors zurückdrängen. Jeder wollte einmal einen Blick in den Abgrund werfen.

Später rückten Baukolonnen an und betonierten den Brunnenschacht wieder zu.

Phil schüttelte den Kopf. Dass ersieh ausgerechnet an dieses Detail erinnerte.

Phil wollte den Schulhof betreten. Aber das Portal war verschlossen. Sein Bück fiel auf ein glänzendes Kunststoffschild, das neben dem Eingang hing und in seiner modernen Makellosigkeit nicht zu dem alten, grauen Gebäude passen wollte. Zur maßlosen Enttäuschung Phils teilte das Schild mit, dass in das Schulgebäude eine Versicherungsgesellschaft eingezogen war. Es gab die alte Lullus-Schule nicht mehr.

Durch die Gitterstäbe des Eingangsportals konnte Phil erkennen, dass vor dem Nebeneingang, der damals zum Klassenzimmer Phils geführt hatte, eine automatisch sich öffnen- und schließende Glastür gesetzt worden war. Sie passte zu dem Gebäude wie ein Bordcomputer in eine Pferdedroschke. Passanten erklärten Phil, dass das Gymnasium schon lange umgezogen sei. Auf einem Hügel der Vorstadt, hoch über dem Fluss, habe man einen Neubau errichtet, dessen grelle Supermarktaußenfassade von weitem den neuen Zeitgeist repräsentiere. Aus dem Lullus-Gymnasium sei eine Gesamtschule geworden.

Neben Grund- und Berufsschule habe man nun -zur Freude der Schüler- auch das Lyzeum dort untergebracht.

Verdrießlich und betroffen beschloss Phil, seinen Ausflug in die Vergangenheit rascher als geplant zu beenden.

Er lief durch das enge „Kettengässchen“, schmal, abschüssig, zum Teil von Fachwerk, zum Teil von hässlichen Putzfassaden flankiert, in die Innenstadt – eine Route, die er neun Jahre zweimal täglich absolviert hatte.

Von der breiten Hauptstraße bog er in die „Weinstraße“ und hielt vor dem alten Rathaus mit den Renaissance-Giebeln und dem Lullus-Brunnen an.

Er setzte sich auf die Stufen vor dem Brunnen, von wo er als Schüler mit Klassenkameraden oft genug die Vorbeiziehenden studiert und auf das Defilee der hübschesten Lyzeennen gewartet hatte.

Niemand, den er kannte. Kein Gesicht, das Erinnerungen weckte. Nostalgie war anstrengend und frustrierend.

Die Turmuhr der Stadtkirche schlug viermal, es wurde Zeit, die übrigen Familienmitglieder einzusammeln.

Phil wollte sich gerade aufmachen, als eine kleine Passanten gruppe seine Aufmerksamkeit erregte: ein gebrechlicher, alter Mann, rechts und links gestützt von zwei ältlichen Damen, wankte mehr als er ging Phil entgegen. Er hatte Mühe, sich zu bewegen, schlurfte kleinschrittig über die Gehwegplatten und zog das linke Bein nach. Er hing, eingehakt, vornübergebeugt, in den Armen seiner Begleiterinnen und wackelte ständig mit dem Kopf hin und her. Aus dem linken Mundwinkel tropfte Speichel.

Phil starrte in das aschfahle, runzelige Maskengesicht des kranken Alten und erschrak: er kannte diesen Mann!

Er bemühte sich, Blickkontakt herzustellen, aber der Greis stierte stumpf und desinteressiert vor sich hin, nahm keine Notiz von seiner Umgebung. Die Drei verschwanden stolpernd hinter dem Torbogen zur Stadtkirche.

Der Mann, den er gesehen hatte, war alt geworden, hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, aber Ausdruck und Struktur des Gesichtes, die vogelartige Physiognomie und die scharfe Hakennase, ließen auch jetzt, nach all den Jahren, keinen Zweifel offen: soeben war sein ehemaliger Sport- und Biologielehrer vorübergegangen: Studienrat Schauerlich!

Ob sich der sportgestählte, durchtrainierte Schauerlich damals, Anfang der 60iger Jahre, wohl hatte vorstellen können, dass er einmal als körperliches und geistiges Wrack, unselbständig wie ein Kind, gestützt von seinen Töchtern, durch Bad Klosterbrunn tappen würde?

„Jungs“, donnerte Schauerlich oft, zahnweißfrisch und in strammer Haltung, „mein Herz schlägt so weit rechts, dass es sich hier und er pflegte auf die linke Brustseite zu deuten – „niemals wohlfühlen kann!“

„Niemals!“ Schauerlich ruft es noch einmal drohend und zur Bekräftigung. Aber die Klasse glaubt es ihm auch so. Schauerlich macht aus seinem Herzen keine Mördergrube.

„Ich sage, was ich denke, grollt Schauerlich“, Arschkriecher und Büßernaturen sind mir zuwider! Von denen gibt es schon genug, das haben wir nicht nötig!“

Phil sieht Schauerlich vor sich, dreißig Jahre jünger: groß, athletisch, kurzes Haar und graue Strähnen, stahlblauer, klarer Blick und schrebergartenbraune Lederhaut.

Schauerlich ist markig. Und immer entschlossen. Zu allem, wenn es nur deutsch ist

„Ich weiß, was ich unserem Vaterlande schuldig bin! Was einmal passiert ist, will ich nicht beschönigen! Aber die Sache an sich war in Ordnung, der große Rahmen hat gestimmt!“

Einige vaterlandslose Gesellen beginnen zu kichern. Schauerlichs Gesicht läuft rotbraun an. Er reckt die Faust in die Höhe und poltert los: „Nehmt Euch zusammen! Faxen dulde ich nicht! Brunnenvergifter und Chaoten haben einen schweren Stand bei mir! Aussichtslos! Das Thema ist weiß Gott ernst genug!“

Schauerlich hat sich auch zu Hause durchgesetzt. Bei seinen sechs Jungs. Die zwei Mädchen zählen nicht.

„Ich war Soldat Ich war es gern! Und keiner meiner Jungs hat sich, seit Einführung der Wehrpflicht, vor dem Ehrendienst gedrückt! Na die sollten mir mal kommen!“

Sodann nimmt Schauerlich seinen Erziehungsauftrag wahr und erklärt, warum es mit dem Pazifismus bergab geht

Schauerlich schätzt Zucht und Ordnung. Zucht und Ordnung sind Schauerlichs Lieblingsworte. Zucht und Ordnung will er auch in den Turnunterricht einbringen, selbst wenn man es ihm nicht dankt und im Gegenteil dafür noch schmäht! „Subversive Elemente und linke Volksverhetzer!“, sagt Schauerlich.

„Angetreten!“ Schauerlich brüllt, dass sich seine Stimme im Turnsaal überschlägt und mehrfach an Wänden und Decken bricht. Der kürzlich eingebaute Spezialfußboden beginnt zu schwingen.

„Dauerlauf, Marsch!“

Die Schüler setzen sich im Gänsemarsch in Bewegung. Das Laufen dient der Aufwärmung. Zunächst einmal 20 Runden in Kreis.

Auf der Bank an der Stirnseite der Halle sitzen ca. 25 % der Klasse. Grippewelle. Die Kranken erledigen ihre Schulaufgaben, während sich die anderen abrackern müssen.

Schauerlich ist der Krankenstand ein Dorn im Auge.

„Die Drückeberger“, ruft er verächtlich, „untergraben die Klassenmoral!“

Der Schüler Bratfuß, halb Klassenclown, halb Rächer der Enterbten, hat damit man ihm die Erkrankung abnimmt, malerisch einen roten Schal um den Hals drapiert.

„Memme“, stößt Schauerlich abfällig hervor. „Weichling!“

Und dann dreht er ihm den Rücken zu, damit er das Ärgernis nicht ständig vor Augen hat.

Die Kommandos „Still gestanden!“ und „Weiterlaufen!“ werden mit der Pfeife gegeben, die er nur aus dem Mund nimmt, wenn er zwischendurch wieder auf die Patienten schimpft.

Nach dem Einlaufen wird es ernst. Jetzt geht’s an den Barren.

Der Klassenprimus, Willi Kohlmann, schwarzlockig und ein wenig dickleibig, schielt sehnsüchtig nach der Bank der Ruheständler. Kohlmann ist berühmt für seinen „Berliner Aufschwung“. Den muss er regelmäßig, zur Belustigung aller, zum Besten geben. Kohlmann hängt wie ein nasser Sandsack am Barren. Ein Bild des Jammers.

„Nun seht Euch diesen Turner an“, höhnt Schauerlich. „Grandios!“

Willi versucht verzweifelt, mit der Kniekehle Halt am Barren zu finden, aber die Arme sind im Weg.

„Was soll denn das sein?“ Schauerlich stellt sich dumm. Voller Abscheu blickt er auf das unglückliche Bündel.

„Wenn Sie sich ausreichend verknotet haben, sagen Sie uns Bescheid, wir retten Sie dann! Sie schlappe Tüte!“

Ein paar unsolidarische Schüler lachen gehässig.

In diesem Moment meldet sich, zum Glück für Willi, Bratfuß. Bratfuß bittet darum, austreten zu dürfen. Schauerlich ist wie vom Donner gerührt. Er schweigt unheilvoll. Seine Aufmerksamkeit wendet sich von Willi ab. Schauerlich wippt mit den Hacken. Dann schreit er los: „Wie können Sie es wagen, mich mitten in der Stunde mit Ihrem Pinkelproblem zu behelligen, Sie Konfirmandenblase?“

Vaterlandsverteidiger Schauerlich ist ernsthaft entrüstet: „Nehmen Sie sich gefälligst zusammen, Sie halbe Portion!“

Pinkelfuß zeigt sich unbeeindruckt und murmelt etwas von „Menschenwürde“, „Knechtschaft“ und „Sklaverei“.

Schauerlich spitzt er die Ohren. Hat er richtig gehört? Der offene Aufruhr!

„Ich kann auch anders“, brüllt er, dass sich die Balken biegen. „Kommen Sie mir nur so! Nicht mit mir, mein Freund!“

Bratfuß lenkt ein und turnt weiter. Ihm ist wirklich etwas bange geworden. Schauerlich hat Kohlmann vergessen. Jetzt fällt ihm Kohlmann wieder ein. „Nun wieder zu Ihrer Aufführung, Kohlmann!“

Willi Kohlmann hängt immer noch in bedauernswert- unveränderter Haltung am Barren. Seine Kraft lässt rapide nach. Seine Gliedmaßen schmerzen und er kann sie nicht entwirren. Die Dinge nehmen ihren Lauf: ein kurzes Muskelbeben, und mit einem dumpfen Brummton plumpst Kohlmann rücklings auf die Matte, mit den Beinen wie ein dicker Käfer in der Luft strampelnd.

„Na bravo, ein Abgang, der zu Ihnen passt!“ Schauerlich notiert sich unübersehbar eine „6“ in das Notizbuch.

Der soeben mit verfolgte Abgang des einst stählernen Schauerlich's passte weniger. Oder doch? Ironie des Schicksals! Ausgleichende Gerechtigkeit? Phil ging in Gedanken weiter. Vorbei an einem Denkmal, das eine Männerstatue in griechischer Nacktheit und deutscher Schönheit zeigte, in ausgeklügelter Sitzposition befindlich, ein Bein oben, ein Bein unten.

Die Familie saß noch in dem Café am Marktplatz und hatte sich bereits den zweiten Früchteeisbecher einverleibt,

Phil sammelte seine Angehörigen ein.

Zum Auto waren es nur ein paar Schritte.

Auf der Rückfahrt benahm sich Phil recht einsilbig. Er hatte den alten Schauerlich getroffen und die Stätten seiner Jugend wiedergesehen: Erinnerungen begannen aufzusteigen!

Phil nahm sich vor, zuhause nach der verschollenen Abiturzeitung zu kramen, in der die Uls des Lullus-Gymnasiums seinerzeit die Pauker durch den Kakao gezogen hatte.

Desgleichen wollte er das seit Jahren erwogene Vorhaben endlich in die Tat umsetzen, Adressen ehemaliger Klassenkameraden ausfindig zu machen und Kontakte wieder aufleben zu lassen.

Es wurde nichts daraus.

Er vergaß es auch dieses Mal.

Der Schulball

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