Читать книгу Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit - Heide Fritsche - Страница 10

IV.

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Onkel Hermanns Frau Tante Martha musste in den Jahren, wo ihr Mann in Russland und Sibirien war, in Deutschland drei Kinder alleine großziehen. Sie lebte finanziell in begrenzten Verhältnissen. Ihre Kinder konnten nicht die höhere Schule besuchen. Keines der Kinder konnte studieren. Ihre Tochter Emilie wurde Krankenschwester. Die Söhne wurden Schornsteinfeger in Castrop-Rauxel. Das waren sie, solange ihr Vater lebte.

Nach dem Tod von Onkel Hermann wurden beiden Söhne arbeitslos. Der preußische Hof existierte nicht mehr. Die Freunde und Beziehungen, die man einst in Berlin gehabt hatte, starben einer nach dem anderen. Deutschland veränderte sich. In kilometerlangen Schlangen standen die Arbeitslosen vor den Suppenküchen. Deutschland verarmte. Deutschland wurde braun.

Ohne Beziehungen konnte man 1933 auf dem freien Markt keinen festen Arbeitsplatz mehr bekommen. Aber beim Militär wurde alles angenommen was nicht rot, gelb oder rosa war, das heißt, was nicht kommunistisch, jüdisch oder homosexuell war. Denn Hitler war an die Macht katapultiert worden. Jetzt bliesen alle Hörner zum Sturm. Es wurde marschiert, nicht nur auf dem Kasernenhof, auch auf den Schulhöfen und auch bei den Arbeitsämtern. Die Jugendlichen und Arbeitslosen marschierten in den Arbeitsdienst. Die beiden Söhne von Onkel Hermann marschierten in der Waffen-SS.

Die Familie von Onkel Hermann, die so viel hatte entbehren müssen, weil ihr Vater jahrelang in St. Peterburg und in der Gefangenschaft in Sibirien war, kompensierte ihre sozial schwierige Situation mit einer Verherrlichung der Glanzzeit der Familie. Diese Glanzzeit waren die Offiziere der Familie Schellhase am Hofe der preußischen Könige und Kaiser. Die militärische Laufbahn war der erste Schritt, diese Glanzzeit wieder aufzurichten. Damit gehörte man wieder dazu.

Tante Emilies Sohn war 1956 einer der ersten Rekruten, die sich bei der soeben errichteten Bundeswehr freiwillig meldeten. Die westdeutschen Bürger demonstrierten rasend gegen eine neue Militarisierung von West-Deutschland. Das waren die ersten ernsthaften Krawalle in der neu etablierten Bundesrepublik.

Aber Tante Emilie war stolz auf Erwin. Er gehörte zum Militär. Damit gehörte er wieder zur Elite, glaubte Tante Emilie. Sie lebte in ihrer eigenen Vorstellungswelt und Wirklichkeit und die lag immer noch im Pomp und in der Pracht des Kaiserreichs.

Erwin war stolz auf seine Uniform. Er stellte sich und die Uniform meinem Großvater vor. Mein Großvater war der unbestrittene Experte der Familie auf militärischem Gebiet. Er sollte Schnitt, Farbe, Schmiss und Schneid fachmännisch begutachten und kommentieren. Erwin stolzierte wie ein aufgeblasener Pfau vor meinem Großvater hin und her.

Nach dieser Modeschau fuhren Tante Emilie, Onkel Hans, Erwin und ich nach Essen und stolzierten in Begleitung von Erwin in Uniform wie aufgeblasene Pfauen in der Bundesgartenschau herum. Um uns entstand ein Vakuum. Wir waren hier der Höhepunkt der Exotik. Alle glotzten uns aus der Entfernung an. Keiner sprach mit uns.

Wir gingen in ein Gartenrestaurant. Auch hier entstand ein Vakuum um uns herum. Keiner setzte sich in unserer Nähe. Die Angestellten liefen mit hochroten Köpfen an uns vorbei: „Kollege kommt gleich.“ Kein Kollege war weit und breit zu sehen.

Dann kam die Geschäftsführung. Wir wurden diskret und höflich aufgefordert, das Restaurant zu verlassen. „Sie müssen verstehen, keiner will jemals wieder eine Uniform in den Straßen von Deutschland sehen.“

Einstmals war die Uniform der Stolz und die Ehre des preußischen Staates. 1956 signalisierte die Uniform einen Kriegshetzer und Kriegstreiber. Behandelt wurde der Soldat wie ein „Outlaw“, wie der Abschaum der Gesellschaft.

1945 war in Deutschland die Stunde „NULL“, Deutschland existierte nicht. Die Deutschen existierten nicht. Die Deutschen erstarrten in einem Trauma. Niemand wagte an diese Wunde zu rühren. Niemand durfte ungestraft diese Wunden aufreißen, auch keine auf der Straße herumlaufende Uniform, schon gar keine auf der Straße herumlaufende Uniform.

Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit

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