Читать книгу Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit - Heide Fritsche - Страница 9
III.
ОглавлениеIn dieser Zeit spielte Onkel Hermann nicht mehr in St. Petersburg beim Zaren Cello, er war Reserveoffizier in Deutschland. Irgendwann kam er in die russische Kriegsgefangenschaft.
Doch Russland löste sich in Chaos auf.
Russland war politisch, sozial und wirtschaftlich im Altertum stecken geblieben. Die Bevölkerungen der Randprovinzen Finnland und Ukraine wurden unterjocht. Die Bauern wurden unterjocht. Die Fabrikarbeiter wurden unterjocht. Der einfache Soldat war unterjocht. Recht gab es nur für den Zaren und die Aristokratie. Im Krieg mussten dann alle hungern. Alle verarmten.
Schuldig an allem waren der Zar und seine Klicke. Hier war der Sündenbock. Er war schuldig am verlorenen Krieg gegen Japan von 1905. Er war schuldig für das Massaker am Blutsonntag 1905, wo Demonstranten niedergeschossen wurden. Dann ging er unvorbereitet und halbherzig in einenden Krieg mit Preußen und wurde bei Tannenberg geschlagen. Auch das war seine Schuld.
Indessen regierte die Zarin in Petrograd mit Unverstand und Dummheit. Die Zarenfamilie brachte nichts als Unglück übers Land. Alle Reformen kamen zu spät.
Die Bolschewiken sahnten ab. Die Bolschewiken waren eine Gruppe von Gesinnungsgenossen. Sie waren fanatisiert von derselben Ideologie. Sie hatten die gleichen Zielsetzungen. Diese Zielsetzungen waren die Beseitigung des Zaren und der Aristokratie. Sie wollten die Herrschaft des Volkes, sagten sie. Das war die offizielle Version. Das war die Propaganda. Dahinter standen ihre eigenen Interessen, dahinter stand ihr eigener Machthunger.
Um ihren Machthunger zu stillen, wurden die Massen aufgewiegelt. Die Massen waren die Waffen der Bolschewiken. Mit und in dieser Hetze entstand eine Massenpsychose. Gefühle wurden geschürt. Hass wurde gepredigt. Gegen die Machthaber wurde gegeifert und gehetzt.
Die Masse wuchs. Mit und in der Masse wuchs die Anonymität. Die Anonymität erlaubte und ermöglichte es, negative Gefühle und Emotionen wie Verzweiflung, Not, Hunger, Angst, Neid, Habsucht, Hass, Menschenverachtung und Mordlust auszuleben. Damit entwickelte die Masse ein Eigenleben. Das Eigenleben der russischen Masse wurde unkontrollierbart und irrational. In Russland gärte es. Russland explodierte. Russland löste sich im Chaos von Massenhetze, Massenverdummung, Massenhysterie und Massenpsychose auf. Alle schrien. Alle liefen mit.
Am 23. Februar 1917 wurde der Palast in St. Peterburg gestürmt.
Im März 1917 dankte der Zar Nikolaus II. ab.
Das war den Bolschewiken nicht genug. Die Zarenfamilie wurde verhaftet. Der Stellvertreter des Zaren Michail Alexandrowitsch Romanow wurde mit seiner Familie verhaftet. Auch das war nicht genug, man wollte Blut, Blut und nochmals Blut.
Zu dieser Zeit befand sich Onkel Hermann in Sibirien in russischer Gefangenschaft. Jetzt spielte er Cello in Sibirien. Die Kriegsgefangenen Post vom Roten Kreuz vom „Verwundeten- und Vermissten-Nachweis, Cöln“ vom 7.4.1918 lautet an: „Hermann Schellhase, 3 Rotte, Blagowjeschtschensky, Amur Gebiet“.
Sein Bruder August saß nicht mehr im Teutoburger Wald, sondern mit den hohen Herren beim Bierschoppen. Im Freundeskreis konnten delikate Probleme vertraut besprochen werden. Hier waren preußische Offiziere versammelt, hier regierten immer noch preußische Ehre und Disziplin.
Die Herren Offiziere waren die Verkörperung des preußischen Ehrenkodex. Sie waren der Felsen, auf dem der preußische Staat aufgebaut war. Dieser Ehre war man es schuldig, dass man keinen Freund im Stich ließ, auch nicht den Bruder in Sibirien.
Die Herren in Berlin hatten einen Trumpf in der Hand: Nach der Oktoberrevolution am 24. und 25. Oktober 1917 musste die sich selbst ernannte Bolschewiken Regierung versuchen, mit dem Chaos zurechtzukommen und sich durchs Desaster durchzuwurschteln. Sie besaßen keine Erfahrung in der Administration. Sie waren Analphabeten in der wirtschaftlichen Organisation, in der Kriegsführung, in der Politik und Diplomatie.
Das Land war wirtschaftlich ruiniert. An der Front erlitt das Heer eine Niederlage nach der anderen. Man brauchte Frieden, um ein Konzept für die Verwaltung zu entwickeln, um die Wirtschaft in den Griff zu bekommen und um überleben zu können. Schon am 26. Oktober 1917 wurde ein Dekret über die Beendigung des Krieges nach Berlin geschickt.
Berlin konnte Forderungen stellen.
Bereits am 3. Dezember 1917 schrieb Tante Martha an ihren Mann in Sibirien: „Lieber Hermann … Die Regierung wird Dich benachrichtigen. Erhielt am Samstag eine Karte von Karl aus Dortmund. Die Stelle bei Hamm Rhyern, ist wohl so weit für Dich bestimmt, es geht darum, ob Du sie annehmen willst. Weißt Du da Bescheid? Ich soll mal nach Dortmund kommen, werde diese Woche hingehen. Wär doch nur erst Frieden, wo das langersehnte Ziel für uns nun endlich erreicht ist. Meinst Du, dass ich hinziehen soll? Und mit Karl und August alles überlegen?“
Also hatte die deutsche Regierung hier interveniert. Sie hatte sich für die Entlassung von Hermann Schellhase aus der Kriegsgefangenschaft eingesetzt. Gleichzeitig wurde ihm ein Job in Deutschland angeboten. Es kam anders.
Diese Kriegsgefangenen-Sendung kam erst am 7. April 1918 bei Onkel Hermann in Jakutsk an. Ob er das Arbeitsangebot ablehnte oder ob sich die Kriegsverhältnisse in Russland geändert hatten oder beides, bleibt unklar. Jedenfalls ging 1918 eine neue Kriegsgefangenenpost nach Sibirien ab. Tante Martha schrieb: Karl und August haben mal wieder ihre Verbindungen in Berlin benutzt und Dir einen Posten als Bezirksschornsteinfegermeister für Castrop-Rauxel verschafft. Du wirst noch von ihnen hören.
Dann habe ich erst wieder eine Postkarte aus Nagasaki in Japan vom 21. November 1920. Onkel Hermann befand sich auf der Fahrt nach Hause.
Onkel Hermann war über Japan geflüchtet, wurde mir erzählt. Geflüchtet? Alles, was er besaß, konnte er mitnehmen, ein wertvolles Cello, die Gefangenenpost und als Erinnerung an diese bemerkenswerte Zeit ein riesiges Foto der Gefangenenkapelle.
Das Foto wurde 1917 professionell aufgenommen und entwickelt. Das Gefangenenorchester posierte im Stil der Zeit. Die hinterste Reihe steht auf einer Erhöhung, Stühle oder dergleichen. Die Musiker halten ihre Instrumente hoch, Jagdhörner, Posaunen, Trompeten und Klarinetten. Hier sollte kein Zweifel aufkommen, warum sie da standen.
Die Männer der zweiten Reihe stehen auf der Erde. Rechts und links sind drei Kontrabässe platziert. Dazwischen stehen sechs Flöten und ein paar Geigen. Das können auch Bratschen sein, das ist auf dem Foto nicht eindeutig zu erkennen. In der ersten Reihe sitzen rechts und links ein Cello. Dazwischen sind neun Geigen platziert. Onkel Hermann sitzt mit seinem Cello links. Onkel Hermann sieht dünn aus. Aber alle Schellhasen waren ursprünglich dünn, auch mein Opa.
Vor dem Orchester liegen zwei Männer auf Teppichen oder Turnmatten. Sie haben eine Pauke und eine Trommel zwischen sich. Hierauf stehen der Name des Orchesters und der Ort „SLOVENSKA HUDBA. 19. PLUK. JAKUTSK“. Wie kommt ein großes Orchester mit Kontrabass und allem Drum und Dran in die Gefangenschaft nach Sibirien? Auf den Bildern, auf denen Feldmarschall Paulus Armeen nach Sibirien marschierten, hat kein einzigers der gefangenen Soldaten ein Gepäckstück in der Hand. Keiner käme auf die Idee, Soldaten mit Kontrabass und Cello in die Gefangenschaft marschieren zu lassen. Noch erstaunlicher ist, dass dieses Cello dann in Castrop-Rauxel wieder auftauchte. Es gibt noch Wunder und Märchen.
Zu diesen Sagen und Märchen von Sibirien gehört auch, dass alle Männer lächeln. Sie schauen friedfertig, ruhig und gelassen in die Kamera. Alle Orchestermitglieder sind ordentlich ernährt, rasiert, gewaschen, beschuht und gekleidet. Die Kleidung ähnelt einer einfachen russischen Militärbekleidung ohne Rangabzeichen. Die Idylle in Jakutsk signalisiert eine zivilisierte Orchestertournee mit eigenem Hofphotograph. Gefangenlager in Sibirien? Wenn ich nicht die Postkarten von den Gefangenensendungen hätte, würde ich die Bezeichnung „Gefangenenorchester“ für eine Sage oder ein Gerücht halten.
Auf der Postkarte von Nagasaki sieht man ein Dampfschiff. Das Schiff sieht gepflegt aus. Trotzdem, es war 1920, es waren über zwei Jahre seit der ersten Gefangenenpost vergangen. In Russland herrschte Chaos.
In Deutschland herrschte Chaos. Achtzehn Mitgliedern der Zarenfamilie waren von den Bolschewisten ermordet worden. Diese Nachrichten waren noch taufrisch. Der deutsche Kaiser hatte keine Lust, das gleiche Schicksal zu erleiden. Als die Novemberrevolution 1918 ausbrach, flüchtete Kaiser Wilhelm II. nach Holland.
Deutschland war zerrüttet. Machtkämpfe, Intrigen und Inkompetenz verhinderten eine handlungsfähige politische Führung. Unangemessene Reparationszahlungen an die Siegermächte erbosten und verbitterten. Korruption auf dem internationalen Finanzmarkt kreierte eine Weltwirtschaftskrise nach der anderen. Wirtschaftliche Not, soziales Elend und Arbeitslosigkeit lähmten die Bevölkerung. Eine gärende Sozialisierung, die sich nicht selber kontrollieren und organisieren konnte, ließ Deutschland nach rechts abrutschen.
1921 steht Onkel Hermann mit Pickelhaube auf einem Bazar in Deutschland. Pickelhaube als Karnevalschmuck? Oder ist es der Ausdruck dieses nationalen Tanzes makabre nach rechts? Eine Demonstration fürs Deutsche Vaterland?
Seine nächste Postkarte vom 9. April 1923 ist aus der Lungenheilanstalt Bad Lippspringe. Die Karte ist an Frau Hermann Schellhase in Castrop adressiert. Onkel Hermann hat also seinen Posten als Bezirksschornsteinfegermeister in Castrop angetreten. Aber er war lungenkrank. Sibirien war wohl doch nicht nur ein Orchesterausflug. Onkel Hermann starb Anfang der dreißiger Jahre.