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Lom I.

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Die Gemeinde von Lom liegt in einer Hochgebirgslandschaft mit den höchsten Berggipfeln von Norwegen, dem Galdhøpiggen und Glittertind. Von 1450 Meter an liegt das ganze Jahr über Schnee. Genau wie in Silvaplana war hier eine ganzjährige Skischule.

Im Sommer kamen Touristen aus ganz Europa und aus der ganzen Welt. Skiläufer kamen zum Training nach Stryn. Die Japaner und Chinesen kamen nicht zum Skilaufen, sie fotografierten wild und planlos. Der neue Gymnastiksaal der Schule war für sie genauso exotisch und interessant wie die fast tausend Jahre alte Holzkirche von Lom.

Im Winter kroch aus dem Osten die Kälte aus Sibirien ins Tal. Vom Westen kamen die Schneestürme. Durch die Täler von Sjåk heulte ein höllischer Spuk. Dann sprangen die Kinder in die Luft: „Herrlich! Echtes norwegisches Wetter!“

Der Sturm hob mein Auto in die Luft und setzte es sanft hundert Meter weiter wieder auf die Erde. Ich wendete, fuhr zur Straße zurück und dann zur Schule. Es war überflüssig, sich hierüber aufzuregen. In Lom war das Leben so. James Bond schwamm mit seinem Auto unter Wasser. Ich schwebte in Lom mit dem Auto in der Luft. Jedem das seine.

Ich wohnte 1993 und 1994 in Lom. Im Oktober hatten wir im Durchschnitt zehn Grad Minus, im November war die Durchschnittstemperatur zwanzig Grad Minus. Zu Weihnachten waren an der Schule in Lom Temperaturen von neunundvierzig Grad Minus gemessen worden.

Obwohl ich einen Motorwärmer hatte, musste mein Auto mehrmals vom Abschleppdienst in eine Werkstatt zum Auftauen abgeschleppt werden.

Die Gemeinde Lom ist fast zweitausend Quadratkilometer groß, hat aber nur zweitausendvierhundert Einwohner. Diese Bewohner sind auf die Täler von Skjåk, Lesja, Vågå, Vang und Lust verteilt. Bis zu zehn Busse sammelten jeden Tag alle Schüler in den weit verstreuten Tälern des Gebirges auf. Die Schüler mussten sich in der Regel morgens früh zwischen sechs und sieben Uhr auf den Schulweg machen und waren nachmittags bis vier Uhr in kleinen und altmodisch eingerichteten Klassenzimmern eingeschlossen.

In meinen Klassen waren über dreißig Schüler, die dicht zusammen gedrängt saßen. Dicke Winterkleidung lag überall nass auf dem Fußboden verstreut, um zu trocknen. In Lom lag von September bis Ende Juni Schnee, also das gesamte Schuljahr. Trotzdem gab es keine Trockenschränke, es gab keine Privatschränke für die Schüler, keine Kantine und kein Privatleben, damals jedenfalls nichts, als ich in Lom war. Draußen vor den Fenstern war die Majestät der Gebirge und Fjorde von Westnorwegen und drinnen im Klassenzimmer war der Mief von über dreißig Menschen und nassen Kleidern und Schuhen.

Kann man unter solchen Bedingungen einen effektiven Unterricht durchführen? Man kann. Aber das erfordert Disziplin von den Schülern und von den Lehrern. Es erfordert Nachsicht und Rücksicht von allen. Hier konnten keine besonders begabten Schüler gefördert werden. Aber schwache Schüler brauchten die Unterstützung von allen, nicht nur von den Lehrern, sondern auch von den anderen Schülern.

Doch hier wie an allen Schulen gab es Schüler, die ihren eigenen Ärger, den Schmutz ihrer eigenen Seele und den Mangel ihrer eigenen Persönlichkeit auf andere abzutreten versuchten. Diese anderen sind immer die Schwächsten.

Auf so engem Raum und in einer so intimen Zusammenarbeit wie in Lom, ist dieses Spiel von Verhöhnung und Traktierung durchsichtig wie Glasscheiben. Alle kannten alle Gehässigkeiten und Pöbeleien. Keiner unternahm was, weil jeder jeden kannte und keiner gegen die Ressource starken Familien opponierten wollte. Auch die Lehrer verhielten sich passiv. Man übersah diese unterschwelligen Reibereien. Von einigen Lehrern wurde diese Situation sogar unterstützt: „Man muss sich den Gegebenheiten anpassen“, wurde mir gesagt.

Ich nicht, ich kannte niemanden. Mich interessierten die Kabalen der Einheimischen nicht.

Ein Junge versteckte sich in der äußersten Ecke der Klasse. Ich bat ihn, nach vorne zu kommen. Die ganze Klasse lachte. Ich bat die Schüler um eine Aufklärung, warum sie lachten. Schweigen. Jetzt zählte ich alle Episoden auf, wo hämisch über Mitschüler gelacht worden war, wo gestichelt wurde, wo hinter dem Rücken anderer geklatscht wurde:

Seid ihr einverstanden damit, wenn ein Schüler hinter dem Rücken eines Mitschülers über diesen herabsetzende Bemerkungen äußert?“

Haltet ihr es für richtig, einen Schüler auszulachen, wenn er sich geniert, an die Tafel zu gehen?“

Haltet ihr es für richtig, einzelne Schüler zu ignorieren oder sie in eine Ecke abzuschieben?“

Welche Achtung habt ihr für eure Mitschüler?“

Welche Achtung habt ihr für eure Mitmenschen?“

Wie betrachtet ihr euren eigenen Menschenwert?“

Die Norweger sind stolz auf ihre moralische Größe. Sie betrachten alle Menschen als gleich. Sie spenden Geld für die Armen und Schwachen und Notleidenden. Wie seht ihr euch selber, wenn ihr in einem Klassenraum nicht einmal den Schwachen helfen könnt, wenn ihr lacht, wenn einer einen Fehler macht? Wir helfen den Menschen in Afrika und Bangladesch. Wir schreien, wenn die Regierung illegal eingewanderte Menschen wieder zurückschickt. Wir gehen in Fackelzügen, wenn illegal eingewanderte Verbrecher rausgeschmissen werden. Aber den Mitschülern in der eigenen Klasse können wir nicht helfen. Menschen, die in unserer nächsten Nachbarschaft Hilfe brauchen, können wir nicht helfen. Dem Not leidenden Nachbarn können wir nicht die Hand reichen. Verstehe ich euch hier richtig?“

Keiner sprach. Wir hatten keine weitere Diskussion im Unterricht. Aber diese Unterrichtstunde rührte an einen empfindlichen Nerv der Gemeinschaft. Am nächsten Tag wurde ich ins Rektorenzimmer beordert. Eltern hätten sich über Aussagen beschwert, die ich während der Unterrichtstunde gemacht hätte.

Ich stehe zu allen Aussagen, die ich gemacht habe. Ich werde alle Eltern schriftlich informieren und einen Abend freihalten, wo ich alle zu einer persönlichen Aussprache einlade. Wir können alle berührten Probleme eingehend besprechen. Ich werde alles im Unterricht gesagte schriftlich festhalten und veröffentlichen.“

Eine Frau kam an diesem Elternabend, zu dem ich eingeladen hatte, zu mir. Sie weinte und entschuldigte sich. Ihre Tochter hätte mit diesen Dingen niemals was zu tun gehabt. Ich versicherte der Frau, dass ich keine Namen genannt hätte. Ich habe auf keinen einzigen Schüler mit dem Finger gezeigt hätte. Es täte mir leid, wenn sich ihre Tochter persönlich angesprochen fühlte. Leider säße sie an einem Tisch, von dem die gemeinsten Pöbeleien kämen. Von da an veränderte sich die Zusammenarbeit im Klassenraum.

Diese Klasse scheint mich nicht vergessen zu haben. Zwei Jahre später wohnte ich in Fauske. Da bekam ich von dieser Klasse eine Einladung zu ihrer privaten Abiturfeier. Das war für mich eine große Ehre.

Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit

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