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Melhus

Melhus

I.

Um mich aus meiner Gefangenschaft zu befreien, musste ich finanziell unabhängig werden. Das konnte ich nicht, solange ich im Niemandsland lebte. Das konnte ich nicht, solange ich gezwungen war, gesetzlos in Norwegen zu leben. Darum setzte ich mich mit meinem Vater in Verbindung.

Zuerst log Theodor, er hätte mich in Norwegen angemeldet. Dann war ich wieder nicht in Norwegen angemeldet. Dann erzählte er, er hätte eine Unfallversicherung abgeschlossen. Dann existierte wieder keine Unfallversicherung. Das ging hin und her, mal ja, aber …, mal tja …, mal nein, mal j’nein und dann wieder Schweigen.

Mein Vater wollte nichts mehr mit Theodor zu tun haben. Die Verbindungen nach Bremen wurden immer kühler. Die Jahre vergingen. Meine Mutter starb. Mein Vater bekam seinen ersten Schlaganfall.

Theodor log sich um alles herum. Ich hatte zwölf Jahre lang den Haushalt und die Kinder alleine in Norwegen versorgt, ohne Sicherheit, ohne an meine Zukunft und ohne an ein eigenes Leben zu denken. Theodor hatte nicht das geringste Interesse daran, an diesem Status quo etwas zu ändern. Er war der Herr. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Er hatte kein Interesse daran, mich offiziell in Norwegen anzumelden.

Nach dem ersten Schlaganfall war mein Vater nicht nur physisch, sondern auch psychisch verändert. Hier kam die erste Mahnung vom Ende seines Lebens. Jetzt ließ er nicht locker. Er kam alleine nach Norwegen, ohne Ingeborg. Damals war er halb blind und niedergeschlagen. Er war enttäuscht über die Betrügereien, die Theodor mit meinem Namen machte. Er war fassungslos über das rücksichtslose und brutale Verhalten von Theodor mir gegenüber. Er war deprimiert über meine Versklavung.

Theodor fuhr nach Bremen. Er setzte sich mit meinem Vater und mit Ingeborg zusammen. Ingeborg fälschte Papiere und Unterschriften, die es Theodor ermöglichten, dass ich mit dem Auto offiziell nach Norwegen kommen konnte.

Einen Tag, bevor mein Vater starb, sprach er nochmals über diese Betrügereien. Er entschuldigte sich bei mir, wie sehr er sich in Theodor getäuscht hätte. Er hätte es zutiefst bereut, ihm vertraut zu haben.

In der selber Nacht, als mein Vater starb, rief Ingeborg in Norwegen an und informierte Theodor. Theodor rief mich an, dass er zur Beerdigung nach Bremen kommen wollte. Ich erzählte ihm, dass mein Vater nicht gewünscht hatte, ihn wieder zusehen. Er möge darum bitte nicht zu seiner Beerdigung kommen.

Theodor konnte auch den Wunsch des Toten nicht respektieren, er kam und sah leidend aus. Sein tiefes Mitgefühl wurde von allen bewundert.

Durch die Intervention meines Vaters wurde ich 1989 offiziell in Norwegen angemeldet. Jetzt konnte ich studieren und mein Staatsexamen als Lehrerin für Norwegen machen. Die Anstellung in den Schuldienst war der erste Schritt meiner Flucht vor Theodor.

In dem Augenblick, als ich Geld verdiente und finanziell unabhängig wurdear, kam ich wieder in die gleiche Situation wie in Berlin, wo ich ein Stipendium hatte, wo ich immer neue Arbeitsmöglichkeiten fand und wo Theodor weit weg war.

Genauso war es jetzt. Theodor arbeitete schon seit Jahren nicht mehr in Trondheim. Wir sahen uns alle paar Wochen. Wir lebten nur noch dem Schein nach zusammen.

Ich war den ganzen Tag mit meiner Arbeit und mit immer neuen Interessen beschäftigt. Ich fuhr nach Frankreich, um weiter Französisch zu studieren. Ich bin wieder tanzen gegangen. Ich hatte einen neuen Freundeskreis bekommen. Ich verdrängte jede Wirklichkeit. Wirklich war der Augenblick. Ein Tag, eine Aufgabe nach der anderen mussten bewältigt werden. Das war wirklich.

Das Trauma meiner Ehejahre mit Theodor war nicht wahr, existierte nicht. Es hat niemals stattgefunden.

Aber so kann ein Trauma nicht aufgearbeitet werden. Nur weglaufen, an einen anderen Ort ziehen, nicht mehr daran denken, es als niemals geschehen wegschieben, ist keine Lösung von Problemen.

Das Trauma meiner Kindheit musste ich in Identifikation mit meinen Kindern physisch und psychisch durchleben. Auch das Trauma meiner Ehe konnte ich nur bearbeiten, wenn ich auch jetzt wieder an den Ort meiner Verletzung zurückging. Wie aber kann man an den Ort einer fünfundzwanzigjährigen Vergewaltigung und Versklavung zurückgehen? Wo konnte ich diesen Ort finden?

Jedenfalls nicht in der Theorie, ich musste körperlich diese Jahre nochmals durchleben, um sie psychisch verarbeiten zu können. Dann musste ich sie theoretisch reflexiv erfassen und begreifen, um sie akzeptieren und als meine gelebte Wirklichkeit anerkennen zu können.

Das Traumata einer fünfundzwanzigjährigen sexuellen Versklavung kann kein Mensch mit Porno, romantischen Erzählungen, Märchen und psychotherapeutischem Geschwafel aufarbeiten. Da hilft kein lieber Onkel Doktor. Kein Priester räuchert diese Gespenster mit Bibelsprüchen weg.

Ich brauchte keine psychologischen Pflaster, keine Pillen, Tröpfchen und Tinkturen für meine Seele, sondern eine Seelentransformation. Ich musste mein Trauma körperlich durchleben, um es begreifen, erkennen, verstehen, bearbeiten und bewältigen zu können.

Mein Verstand reichte aber nicht soweit, um das zu begreifen. Ich hatte kein Bewusstsein dieser Dinge. Ich dachte nicht. Ich reflektierte nicht. Denken und Reflektieren reißen Wunden auf. Der Mensch kann nicht die Zerstörung seines eigenen Lebens akzeptieren. Er vergisst und lebt mit Lügen.

Ich vergaß und lebte mit Lügen. Das war ein blindes Vergessen im Cape Diem, ein passives Treiben im Geschehen. Ich war psychisch auf einem Nullpunkt angelangt. Ich spielte keine Rolle. Darum spielte es keine Rolle, was ich machte. Ich hatte ein ganzes Leben geopfert. Mit fünfzig Jahren musste ich wieder ganz von vorne anfangen. Ich war wieder ganz unten. Ich hatte nichts zu verlieren. Ich konnte nur gewinnen. Das war eine Illusion.

Ich versorgte mich alleine, also war ich frei, glaubte ich. Auch das war eine Illusion. Alle meine Lügen schlugen auf mich selber zurück.

II.

Meine Kinder waren jetzt erwachsen und selbstständig. Sie bauten sich eigene Karrieren auf. Sie gründeten eigene Familien. Sie hatten ein gesundes psychisches, physisches und intellektuelles Fundament. Sie konnten sich alleine im Leben zurechtzufinden. Mein Versprechen an meine Großeltern hatte ich erfüllt. Mein Job war beendet. Ich konnte meine Wunden lecken, gleichgültig, was Theodor sagte oder meinte, gleichgültig, was die Familie klatschte und welchen Dreck sie hinter mir her schmiss.

Aber mit fünfzig Jahren ins Arbeitsleben integriert zu werden, war nicht einfach. Meine erste Anstellung war ein zeitlich begrenztes Engagement als Deutschlehrerin in Melhus.

Melhus liegt ungefähr zwanzig Kilometer südlich von Trondheim. Zum Gymnasium nach Melhus konnte ich jeden Tag von Trondheim aus fahren. Ich hatte eine Klasse mit den zukünftigen Fahrradprofis von Norwegen. Während des Unterrichts liefen die Jungen aus der Klasse raus und rein. Sie standen Schlange vor der Toilette und kniffen die Beine zusammen, weil sie so dringend pinkeln mussten, wie sie sagten.

Wenn sie vor der Klasse standen, spielten sie mit obszönen Bewegungen die Rolle von Clowns.

Ich war gewarnt worden. Das sei eine Problemklasse. Kein Lehrer wäre damit fertig geworden. Für mich war das aber keine Problemklasse, die Jungen waren unreif und unstabil. Sie hatten psychische Probleme, sie hatten Pubertätsprobleme, die sie nicht bewältigen konnten und die sie in Pöbeleien abreagierten.

Ein Junge war vom Unterricht relegiert worden, weil er in der Schule Schnaps aus der Eigenproduktion verkauft hatte. Dieser Junge war nur der Gipfel vom Eisberg. Die Probleme der anderen Jungen lagen tiefer. Sie waren sublimer.

Diese Jungen gingen aufs Sportgymnasium, weil sie keine Disziplin hatten. Ein theoretischer Unterricht war für sie eine Zumutung. Pauken wollten sie schon gar nicht. Eine Lehre und ein geregeltes Arbeitsverhältnis existierten nicht in ihrem Vorstellungsradius. Sie gingen aufs Sportgymnasium, weil sie glaubten, sich hier vor jeder Verpflichtung herum drücken zu könnenkonnten.

Das sollte die zukünftige Sportelite von Norwegen sein? Sport als Alternative, um vor jeder Form von Arbeitsdisziplin wegzulaufen, musste ein Missverständnis sein.

Konnten die Jungen das begreifen? Wie sahen sich die Jungen selber? Wie verstanden sie ihre Rolle?

Die Jungen begriffen gar nichts. Sie verstanden gar nichts. Sie sahen gar nichts. In ihren Köpfen spukte die Vorstellung von: „Wir sind frei.“ „Wir tun, was wir wollen.“ „Uns kann keiner was.“

Jeder einzelne zerstörte sein eigenes Leben, weil er sein mangelndes Selbstwertgefühl mit Klischees von Subkulturslogans zukleisterte.

Es gibt einen Gruppenkonsensus. Es gibt kollektive Vorstellungen, was Jugendliche können und dürfen, wie Jugendliche sich bewegen, sprechen, kleiden, was Jugendliche machen, wünschen, träumen und tun. Jede Kultur entwickelt ihre Subkulturen. Diese Subkulturen kommen und gehen. Das hat es immer gegeben. Das wird es immer geben. Dagegen zu predigen ist hoffnungslos. Aber fragen kann man sich doch: Was wäre, wenn …?

Ich sah mir den Zirkus an, ich staunte und fragte: „Morgen seid ihr neunzehn und zwanzig Jahre alt. Was sind eure Erinnerungen? Wenn man euch fragt: ‚Was habt ihr gemacht, als ihr siebzehn Jahren alt wart?’, dann müsst ihr antworten: ‚Wir haben vor der Klotür in der Schlange gestanden und die Beine zusammen gekniffen.’

Wenn einer mit obszönen Bewegungen an der Tafel herumhopste, ging ich zur Seite und klatschte: „Bravo! Jetzt ist er der größte und der stärkste und der schönste.“

Alle lachten. Alle lachten, als der Nächste mit infantilen Späßen die Klasse unterhielt. Dann lachte keiner mehr. Keiner wollte ausgelacht werden. Die Jungen fingen an zu begreifen und wir fingen an zu arbeiten.

Als dieses Engagement beendet war, fand ich eine feste Anstellung als Deutschlehrerin am Gymnasium in Lom.

Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit

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