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Siebenbürgen I.

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Onkel Hans kam aus Siebenbürgen. Die Siebenbürger Sachsen waren 1140 vom ungarischen König Géza II. nach Siebenbürgen geholt worden. Siebenbürgen liegt im Karpatenbogen im heutigen Rumänien. Damals gehörte es zu Ungarn.

Die Siebenbürger kamen vom Mittelrhein, dem Niederrhein und aus Flandern, aus dem Moselgebiet und aus Luxemburg, aber nicht aus Sachsen. In der Kanzleisprache wurden die Siebenbürger als „Saxonen“ bezeichnet. „Saxonen“ kommt als Sprachverdrehung von „Sassen“, also Ansässigen. Daraus wurden später „Sachsen“.

Die Einwanderungswelle der Deutschen wurde geplant durchgeführt, um die Ostgebiete zu kultivieren und auszubauen. Die Deutschen sollten aber auch das Land vor eindringenden Feinden verteidigen. Bei den Überfällen von Tataren und Mongolen und in den Türkenkriegen waren die deutschen Einwanderer aktiv an der Verteidigung des Landes beteiligt.

Die deutschen Ansiedler hatten bereits 1224 im „goldenen Freibrief“ umfassende Rechte bekommen. Sie bekamen die Territorialautonomie zugesprochen. Sie hatten eine Selbstverwaltung. Sie hatten ein freies Besitz- und Erbrecht. Sie hatten eine eigene Gerichtsbarkeit. Sie konnten nach eigenem Ermessen ihre Richter und Pfarrer wählen. Sie waren frei von Zöllen und Abgaben. Sie hatten eigene Zeitungen, Schulen und eine eigene Universität.

Diese umfassenden Privilegien ermöglichten es den Siebenbürger Sachsen, bis ins 20. Jahrhundert ihre Sprache und Kultur zu pflegen und weitere zu entwickeln. Damit haben sie ihre deutsche Identität bewahrt. Diese Wahrung ihrer ethnischen Identität wurde ihnen während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit zum Verhängnis.

Siebenbürgen gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zur Doppelmonarchie Österreich – Ungarn. Die Doppelmonarchie verlor den Krieg und wurde aufgesplittert. Reichsgebiete wurden abgetrennt. Neue Staaten wurden etabliert. In dieser Federkriegsverwaltung der Siegermächte kam Siebenbürgen zu dem neu errichteten Staat Rumänien.

Nach dem rumänisch-deutschen Wirtschaftsvertrag kamen die Siebenbürger Sachsen in den dreißiger Jahren unter den Einfluss des Naziregimes. Das bedeutete, das beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges junge und gesunde Männer von deutscher Abstammung zum deutschen Kriegsdienst eingezogen wurden. Hierzu gehörte auch Onkel Hans.

Aber auch der Ribbentrop-Molotov-Vertrag beeinträchtigte das Schicksal der Deutschen in den Ostgebieten. Dieser Vertrag wurde am 27. August 1939 unterschrieben. Es war ein Nichtangriffspakt mit geheimen Zusatzprotokollen. Diese Protokolle regulierten die Aufteilung Osteuropas zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die Baltischen Staaten und Polen hörten auf zu existieren. Die Russen marschierten ins Baltikum ein und schmissen alle Deutschen aus ihren okkupierten Gebieten raus. Die Deutschen marschierten in Polen ein und schmissen alle Russen aus ihren okkupierten Gebieten raus. Das hieß Umsiedlung. Sie wurde mit der Parole: „Heim ins Reich“ umschrieben.

In dieser Zeit wurde der Begriff „Volksdeutsche“ und „Reichsdeutsche“ erfunden. Reichsdeutsche waren die Deutschen, die innerhalb der Grenzen des deutschen Reiches von 1939 wohnten. Volksdeutsche waren die Deutschen, die Jahrhunderte lang in anderen Ländern gelebt hatten. Hierzu gehörten neben den Siebenbürger Sachsen auch die in Russland lebenden Wolgadeutschen und die in Polen und im Baltikum lebenden Deutschen. Alle wurden „umgesiedelt.“

Besonders gesunde und arbeitsfähige junge Volksdeutsche sollten mit Familie und Kindern in den von Nazideutschland okkupierten Gebieten angesiedelt werden. Zuerst wurden die Volksdeutschen in Lagern aufgesammelt. Diese Lager wurden von der SS verwaltet. Hier wurden die Volksdeutschen administrativ erfasst, kategorisiert und ausgesiebt.

Onkel Hans war bei Ausbruch des Krieges Anfang zwanzig. Er war verheiratet und,hatte zwei gesunde Kinder. Er war deutsch mit einem jahrhundertalten Ahnenpass. Er war gesund und ohne Erbkrankheiten. Er war Facharbeiter in der Milch- und Käseproduktion. Für die herrschende Naziideologie gehörte er damit zur ersten Klasse von produktivem Menschenmaterial.

Normalerweise wurden die volksdeutschen Familien geschlossen mit Frau, Kindern, Eltern und Schwiegereltern umgesiedelt. Onkel Hans kam alleine in das Umsiedlungsauffang-Lager nach Zdunska Wola. Ich fragte Onkel Hans, wo seine Frau war.

Sie ist in Siebenbürgen zurückgeblieben.“

Warum?“

Sie kam aus dem Banat“, sagte Onkel Hans.

Aus dem Banat? Was ist das?“ Onkel Hans winkt ab. Er äußerte sich nicht weiter dazu. Meine Informationen musste ich mir alleine aus Lexika und Internett zusammen sammeln.

Die Banater Deutschen waren ursprünglich Schwaben, also auch Deutsche, aber Deutsch und Deutsch war doch nicht das gleiche. Geschichtlich betrachtet sind die Banater Schwaben zwischen 1686 und 1848 in die Pannonische Tiefebene eingewandert, während die Siebenbürger Sachsen schon seit dem 12. Jahrhundert im Karpatenbogen wohnten und eine hohe Kultur entwickelt hatten.

Die Einwanderung der Schwaben war von der Österreichischen Monarchie organisiert worden. Diese Schwaben hatten niemals dieselbe Autonomie und Selbstverwaltung zugesprochen bekommen wie die Siebenbürger Sachsen. Sie hatten sich verschiedenen staatlichen Machtstrukturen anpassen müssen.

Außerdem waren diese Gebiete im 16. Jahrhundert hauptsächlich von Serben und Walachen bevölkert. Die Banater Schwaben hatten also keine staatsrechtliche Autonomie und teilten zudem den gleichen Lebensraum mit anderen Bevölkerungsgruppen. In dieser Symbiose haben sie nicht ihre Sprache, Kultur, Zivilisation und ethnische Abstammung in der gleichen organisierten Form wie die Siebenbürger Deutschen bewahren können. Sie hatten auch keine Möglichkeit, eine neue Kultur aus dieser Symbiose heraus zu entwickeln.

Onkel Hans wusste das alles, aber er konnte das, was er eigentlich meinte, nicht sprachlich formulieren. Er sagte nur mit einer wegwerfenden Handbewegung: „Sie kam aus dem Banat.“, und danach hätte ich alles Weitere, was ich nicht wusste, intuitiv wissen müssen.

Möglicherweise gab es für die Siebenbürgern Sachsen ein kollektives Selbstverständnis, mit gewissen Begriffen bestimmte Dinge zu assoziieren. Diese Assoziationen waren mir nicht zugänglich.

Als ich nicht locker ließ und Onkel Hans mit weiteren Fragen plagte, wich er auf eine andere Ebene aus. Ich bekam intime Bekenntnisse von Dingen, die ich gar nicht wissen wollte und die ich nicht verstand. Onkel Hans erzählte mir, dass seine Frau „kalt“ war. Nicht einmal als er an die Front reisen musste, habe sie mit ihm schlafen wollen.

Er wäre ganz verrückt nach Sex gewesen. Bis er zwanzig Jahre alt war, hatte er niemals Sex gehabt, als er aber einmal damit anfing, sei er total explodiert.

Das war doch was Scheenes!“, sagte er. Onkel Hans hatte seinen speziellen Siebenbürger Dialekt beibehalten.

Außer diesen intimen Bekenntnissen, bekam ich keine weiteren Erklärungen.

Onkel Hans war offen, großzügig und in gewisser Hinsicht auch naiv, derartige detaillierte Intimitäten zu erzählen. Durch diesen Einfluss von Tante Emilie und Onkel Hans hätte ich vortrefflich aufgeklärt sein müssen. War ich aber nicht. Denn für eine Jungfrau, der jede körperliche Erfahrung fehlt, hat der Lehrsatz des Pythagoras den gleichen Erkenntniswert wie Beschreibungen von erotischen und sexuellen Erlebnissen, beide können ein reflexives Staunen auslösen: „So etwas gibt es also auch“, aber sonst gar nichts.

Derartige Erzählungen und Erklärungen von Onkel Hans oder von meiner Schwester, beweisen die Unmöglichkeit, theoretisch Dargestelltes und Vermitteltes in eine körperliche Adaption und Erkenntnis zu transformieren, wenn die Voraussetzung einer entsprechenden körperlichen Erfahrung fehlt. Es ist keine Antenne für den Empfang solcher Aussagen vorhanden. Bei mir riefen diese Anspielungen und Erzählungen weder erotische Visionen noch sexuelle Bilder hervor. Sie vermittelten mir keinerlei Erkenntnisse, welcher Art auch immer.

Onkel Hans wurde also alleine umgesiedelt. Er kam nach Zdunska Wola in Polen. Zdunska Wola war eines dieser von der SS errichteten und geleiteten Lager, wo die Auslandsdeutschen aufgesammelt und ausgesiebt wurden. Von hier aus wurden sie umgesiedelt.

Meine Mutter arbeitete in Zdunska Wola als Lehrerin. Sie war damals zwanzig Jahre alt. Onkel Hans, der allen Frauenröcken nachlief, schwärmte noch zwanzig Jahre später: „Das war ein scheenes Mädchen.“

Meine Mutter wäre jeden Morgen mit den Kindern ihrer Klasse spazieren gegangen. Jeden Morgen hätten die jungen Männer am Lagerzaun gestanden und hinter ihr her gehechelt.

Onkel Hans hätte zuerst als Käsemeister gearbeitet. Später wäre er zum Kriegsdienst an die russische Front geschickt worden. Er sei in die russische Gefangenschaft nach Workuta gekommen.

Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit

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