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1.2 Die Amazonen vom Amazonas

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Die eben erwähnten archäologischen Funde weisen zurück auf den langen Wanderweg und die rätselhafte Herkunft der Arawak und ihrer Kultur. Um der Lösung dieses Rätsels näher zu kommen, greifen wir die Überlieferung von Kriegerinnen in Südamerika wieder auf, einem weit verbreiteten Phänomen, das von europäischen Forschern oft beschrieben, aber kaum verstanden wurde.51 Berichte von kämpfenden Frauen in wohltrainierten Verbänden, die zusammen mit den Männern fochten oder in Abwesenheit der Männer allein ihre Dörfer verteidigten, sind von vielen südamerikanischen indigenen Völkern während des Widerstandes gegen die spanischen Eroberer überliefert.52 Doch in dem Gebiet, in dem die Arawak wohnten, verdichten sich diese Berichte über weibliche Kampfeskunst und reichen bis zu klaren Zeugnissen von rein weiblichen Gesellschaften. Das weist auf das noch viel weniger verstandene Phänomen von Amazonen hin, die als unabhängige Kriegerinnen und Gründerinnen von Städten ohne Männer handelten.53 Man muss sie klar von den viel häufiger vorkommenden Mitkämpferinnen an der Seite der Männer unterscheiden, um zu verstehen, was Amazonen sozialhistorisch bedeuten. Aber damit entsteht die Frage, warum wir ausgerechnet im Gebiet der Arawak, einer nach allgemeinen Aussagen friedlichen, matriarchalen Kultur, das Phänomen der Amazonen finden.

Folgen wir zunächst den Berichten und Zeugnissen: Auf den Antillen, besonders der Insel Santa Cruz, hatte schon Kolumbus nicht nur Männer, sondern auch kämpfende Arawak-Frauen gegen sich.54 Als patriarchale, christliche Männer waren die Spanier einen solchen Anblick nicht gewohnt und schrieben es deshalb genau auf. Waren diese Frauen noch Mitkämpferinnen an der Seite ihrer Männer, so ändert sich das Bild in einer alten Sage der Warraua, aufgezeichnet in Guayana.55 Nach dieser Erzählung soll es auf einer geheimnisvollen Insel namens Matenino (Tobago) in der Nähe von Trinidad ein kleines, unabhängiges Amazonen-Reich gegeben haben. Dorthin zogen Frauen ohne Männer und lebten als waffenkundige Kriegerinnen in großem Reichtum, sie besaßen schöne Gewänder und prächtige Rüstungen. Diese auch auf den Antillen bekannte Sage weist darauf hin, dass es Kriegerinnen schon lange vor der Ankunft der Spanier gegeben hat und dass sie unabhängig kämpften und männerlose Gesellschaften bildeten. Sie waren also echte Amazonen. Warum entstanden ihre Gründungen?

Den Amazonen bei Trinidad begegneten die Spanier nicht mehr, dafür hatten sie eine gefährliche Begegnung mit den Amazonen vom Amazonas. Dieses zur Zeit der spanischen Eroberung noch sehr lebendige Amazonenreich lässt sich nicht in den Bereich der Sage verweisen: Nachdem die Brüder Pizarro das Inka-Reich in Peru zerstört und die indigenen Anden-Völker brutal unterworfen hatten, beschlossen sie, um noch mehr »Goldland« zu finden, jenen sagenhaften, großen Strom im Osten zu erforschen, von dem die Indianer ihnen berichtet hatten. Der tatsächliche Entdecker des Amazonas wurde einer ihrer spanischen Offiziere namens Orellana, nach dem der Strom ursprünglich heißen sollte. Aber Orellana erlebte derartige Überraschungen, dass der größte Strom der Erde einen anderen Namen erhielt. Im Jahr 1542 erreichte er mit seiner Expeditionsmannschaft über zwei Nebenflüsse den Amazonas, und der das Tagebuch führende Priester Carvajal begleitete ihn.56 Carvajal berichtet, dass sie zuerst auf Siedlungen am Flussufer stießen, in denen Hoheitstafeln aufgestellt waren, auf denen eine ummauerte Stadt abgebildet war. Ortsansässige Indianer sagten dazu aus, dieses Zeichen sei das Emblem ihrer Herrin; sie wären ihre Untertanen und würden Tribut in Form bunter Papageienfedern für ihre Tempel bringen. Diese Herrin gebiete über das Land der Amazonen, das nördlich vom Strom im Inland läge.

Weiter stromabwärts sichteten die Spanier noch mehr Siedlungen mit solchen Hoheitstafeln, aber die Bewohner waren nicht immer freundlich, und es kam zu ersten Kämpfen. Am 24. Juni 1542, nicht weit von der Mündung des Rio Negro entfernt, dem größten Nebenfluss des Amazonas, hatten sie ihre denkwürdige Begegnung mit den Amazonen selbst. Denn unterdessen hatten die am Stromufer wohnenden Leute ihre Herrin um Hilfe gegen die fremden Eindringlinge gebeten. Zehn oder zwölf große Kanus kamen den Booten der Spanier entgegen, voll mit indianischen Kriegern besetzt, die von Amazonen an der Spitze jedes Kanus kommandiert wurden. Diese Frauen kämpften so unerbittlich, dass keiner ihrer Leute einen Rückzug wagte, und wenn einer in Deckung ging, schlug die Kommandantin vor den Augen der Spanier mit einem Stock auf ihn ein. Sie lieferten ein gefährliches Gefecht, und die spanischen Boote gerieten derart in Bedrängnis, dass sie »von den vielen Pfeilen gespickt wie Stachelschweine aussahen« (Carvajal). Diese Amazonen werden als sehr groß und weißhäutig – vermutlich weiß bemalt – geschildert, das lange, schwarze Haar trugen sie geflochten um den Kopf gelegt. Ihre Gestalt war muskulös und splitternackt, Bogen und Pfeile gebrauchten sie mit großer Kraft, und Carvajal bestätigt, dass eine jede so tapfer kämpfte wie zehn Männer zusammen. Die Spanier stießen Stoßgebete aus, denn sie brauchten gegen die Amazonen offenbar viel Mut von ihrem Herrgott. Schließlich gelang es ihnen, einige Kriegerinnen zu besiegen und aus dieser gefährlichen Situation zu entkommen.

Ein Indianer, den sie gefangen hatten, sagte danach aus, dass dieses ganze Land um den Strom dem großen Herren Couynco gehöre, aber auch dieser Herr sei den Amazonen untertan. Deshalb wären sie gekommen, um das Ufer zu beschützen. Weiter berichtete er, dass die Amazonen ganz ohne Männer lebten und dass ihre Königin Conori hieße. Ihr Reich läge sieben Tagesreisen nördlich vom Strom, und er selbst, der als Tributbringer häufig dorthin kam, kannte allein 70 Siedlungen der Amazonen, die er mit Namen aufzählte. Diese Siedlungen würden nicht aus Holz und Stroh wie die Dörfer im Urwald bestehen, sondern sie wären Städte aus Stein mit Toren und Straßen. Als der Indianer gefragt wurde, wie die Amazonen denn Kinder bekämen, antwortete er, dass sie bisweilen, wenn sie Lust dazu hätten, einem großen Nachbarstamm den Krieg erklärten und nach dem Sieg dessen Männer in ihr Land wegführten und bei sich behielten, bis sie sich schwanger fühlten. Dann würden sie die Männer mit Geschenken heimschicken. Wenn sie später Söhne gebären würden, töteten sie diese oder schickten sie zu ihren Vätern, bekämen sie aber Töchter, dann zögen sie diese mit großer Feierlichkeit auf und lehrten sie die Kampfeskunst. Weiter berichtete er, was die Größe des Amazonenreiches betreffe, so seien alle Gebiete, die das weite Land der Amazonen umgeben, diesen untertan. Manchmal kämen andere Indianer den Strom von den Anden heruntergefahren, eine Reise bis zu 1400 Meilen, nur um die Amazonen zu besuchen. Doch kein Mann dürfe dort bleiben, sondern bei Sonnenuntergang müsse er aus ihren Städten fort sein.57

So kam es, dass der größte Strom der Erde »Rio las Amazonas«, der »Fluss der Amazonen« heißt, benannt nach den Kriegerinnen, welche die Spanier nach europäischem Vorbild als »Amazonen« bezeichneten. Deshalb trägt der große Strom in Südamerika bis heute den Namen der Heldinnen, über die einige griechische Autoren schrieben. Die Berichte von 1542 regten zu weiteren europäischen Expeditionen an, die das Reich der Amazonen finden wollten, aber niemand von diesen hat es je betreten. 1580 bereiste Walter Raleigh die Küsten von Guayana und hörte von einem Amazonenreich, das östlich von Guayana im Gebiet der Amazonasmündung liegen sollte. Die Amazonen wurden ihm als sehr reich an Gold und Silber geschildert, sogar ihr Hausgerät machten sie aus den edlen Metallen. Ihren Liebhabern schenkten sie beim Abschied grüne Steine, die »Amazonit« heißen, wobei Grün vermutlich die Farbe der Fruchtbarkeit ist. Genau in diesem Gebiet der großen Inseln in der Amazonasmündung hat die Archäologie jüngst eine sehr alte, städtische Kultur ausgegraben. Diese Menschen hatten Maisanbau, hochentwickelte Keramik, große Sippenhäuser auf künstlichen Hügeln und Göttinnenfiguren – alles in verblüffender Ähnlichkeit mit den frühesten, frauengeprägten Ackerbaukulturen an der Westküste Südamerikas (Valdivia und nachfolgende Kulturen).58

1639 versuchte wieder ein spanischer Offizier das reiche Land der Amazonen zu finden, aber er gelangte nur zur Mündung eines nördlichen Nebenflusses des Amazonas, der aus ihrem Reich kommen sollte. Dabei erfuhr er, dass die Amazonen dort auf hohen Bergen wohnen, wo die Stürme das ganze Jahr über toben, und dass sie mit ihrem unermesslichen Reichtum die ganze Welt reich machen könnten. Eine weitere Expedition unternahm 1744/1745 der Franzose La Condamine. Indigene Leute erzählten ihm, dass die Amazonen nach den Eroberungszügen der weißen Männer ihre Wohnsitze noch weiter in die unzugänglichen Berge am Rio Negro und an der Quelle des Orinoko verlegt hätten. Die vorletzte Suche unternahm der deutsche Forschungsreisende Schomburgk im 19. Jahrhundert, der zwar keine Amazonen sah, aber eine Sage von ihrer Reichsgründung mitbrachte, nach der das Amazonenland in der Sierra Parima ansiedelt ist.59

In der Sierra Parima entspringt die Quelle des Orinoko, ebenso liegen dort die Quellen aller nördlichen Nebenflüsse des Rio Negro, der selber der größte, nördliche Nebenfluss des Amazonas ist (siehe Karte 1). Der Gebirgszug Parima setzt sich in der Sierra Pacaraima fort; beide sind Teil des großen Gebiets der Orinoko-Berge in Venezuela, die bis 3000 Meter aufsteigen und das Becken des Orinoko von dem des Amazonas trennen. Dieses von Urwald umgebene, unzugängliche Bergland erstreckt sich weit nach Osten. Jenseits des breiten Tales des Rio Branco, auch ein nördlicher Nebenfluss des Amazonas, dehnt es sich östlich in der Sierra Roraima, Sierra Acari und zuletzt in den Tumuc-Humac-Bergen aus, einer unnahbaren und sehr wenig erforschten Region von 1000 Metern Höhe, um oberhalb der Mündung des Amazonas zu enden. Dieses riesige Areal muss das alte Wohngebiet eines großen Amazonenreiches gewesen sein. Wo sonst hätten die Frauen eine bessere Gegend finden können, um ihre zahlreichen Städte aus Stein zu bauen, die ihnen Schutz gegen die kalten Bergwinde boten, wo sonst hätten sie so viel Gold und Silber gewinnen können? Fast alle Berichte verweisen auf dieses Gebiet. Von hier aus konnten die Amazonen in ihren Booten mit Leichtigkeit das gesamte Flussnetz des Orinoko befahren, das genau vor den Inseln Trinidad und Tobago endet (siehe die Warraua-Mythe). Außerdem konnten sie von den nördlichen Nebenflüssen des Amazonas, die von diesen Gebirgsketten herunterfließen, große Strecken auf dem Stromsystem des Amazonas zurücklegen, die vom Rio Negro bis zur Amazonasmündung reichen, und sich alle ansässigen Indianerstämme entlang dieses Weges untertan machen. Auf diese Weise muss ihr Reich einmal eine ungeheure Ausdehnung oder einen weitgespannten Einfluss gehabt haben, wovon die Insel Tobago bei Trinidad vor dem Orinoko-Delta im Norden und die Inseln im Mündungsgebiet des Amazonas im Osten vielleicht die äußersten Teile gewesen sind.

Es fällt zudem auf, dass alle diese Berichte aus verschiedenen Jahrhunderten in der Schilderung des sozialen Gefüges und der Kulturhöhe der Amazonen, die den Urwaldstämmen weit überlegen war, übereinstimmen. Danach waren die Amazonen kultivierte Städtebauerinnen, sie besaßen Häuser, Stadtmauern, Tore, Tempel und Straßen aus Stein. Sie hatten kostbare Metalle und Edelsteine, trugen schöne Gewänder und Rüstungen oder waren in der heißen Schwüle des Urwalds manchmal unbekleidet. Die häuslichen Künste wie Töpferei und Weberei waren ebenfalls gut entwickelt, dazu kam gemäß einem Bericht der Gebrauch der Hängematte. Sie brachten damit für ihre Reichsgründung den kollektiven Hintergrund der weiblichen Künste mit, die typisch für matriarchale Kulturen sind.

Solche eindeutigen und übereinstimmenden Berichte, die teils von Augenzeugen, teils von einheimischen Gewährsleuten stammen, unter fadenscheinigen Vorwänden immer wieder ins Reich der Fabel zu verweisen, ist ein von patriarchalen Forschern zwar lange geübtes, jedoch unseriöses Vorgehen. Außerdem sind diese Berichte aus Südamerika nicht die einzigen über Amazonen in der menschlichen Kulturgeschichte. Was die Amazonen vom Amazonas betrifft, so dürften sich die letzten Zweifel durch den Augenzeugenbericht des bisher einzigen weißen Mannes auflösen, der sie besuchen und mit ihnen sprechen konnte. Das geschah in den 50iger Jahren des 20. Jahrhunderts, also am Rande der Gegenwart.

Dieser Bericht ist einzigartig, so dass ich ihm hier mehr Platz geben möchte:

Der Brasilianer Eduardo Prado, in Manaus im Herzen des Amazonasbeckens aufgewachsen und ein profunder Kenner des Urwaldes und seiner Völker, sammelte zunächst Berichte von den Indigenen über die »Ycomiabas«, die »Frauen ohne Ehemann«, wie die Amazonen genannt wurden. So sollten sie noch am Oberlauf des Rio Nhamunda und des Rio Trombetas sowie im Quellgebiet des Rio Jari zu Füßen des Tumuc-Humac-Gebirges wohnen, alles nördliche Nebenflüsse des Amazonas. Dort läge zwischen zwei Bergen ein See, der »Yacura« oder »Spiegel des Mondes« genannt werde, hier sollten sie ihre Zeremonien feiern und aus dem Wasser den »Amazonit« oder grünen Stein herausholen, den sie ihren Liebhabern als Talisman schenkten.60

Mit einer Kanu-Expedition, begleitet von befreundeten, indigenen Führern, welche die Amazonen gut kannten, gleichzeitig in Gesellschaft eines der besten Kameramänner Brasiliens, machte Prado sich 1954 auf den Weg und fuhr den Rio Nhamunda flussaufwärts. Bei zwei Nebenflüssen des Nhamunda fanden sie tatsächlich diesen See, der von zwei spitzen Bergkegeln flankiert war, und erblickten sechs Dörfer der Amazonen, die symmetrisch angelegt waren, mit dem See als Mittelpunkt. Hier also lebten sie nicht mehr auf den kühlen, windigen Bergen, sondern an deren Fuß im Urwald, was ihre Lebensweise verändert hatte. Die Frauen hießen ihre Gäste freundlich willkommen, denn sie hielten sie für die alljährlich erscheinenden Freier. Die Verständigung gelang gut über einen Dolmetscher, und so klärte sich das Missverständnis bald auf – die Amazonen nahmen es mit Humor. Sie waren kräftige Frauen mit stolzer Haltung, dunkelbrauner Haut und üppigem, schwarzen Haar, das ihnen über den Rücken herabfiel. Ihre Kleidung bestand von den Hüften abwärts lediglich in Bemalung und Tätowierung, nur die älteren Frauen trugen Gewänder. Prado schildert ihre Gastfreundschaft als überwältigend, der Aufenthalt seiner Expedition bestand aus einer ununterbrochenen Reihenfolge von Gastmählern mit köstlichen Speisen von Fisch, Wildbret, Geflügel und Früchten. Die jungen Frauen, kaum der Kindheit entwachsen, gingen auf die Jagd, wobei ihre Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Kraft den Forscher in Erstaunen versetzte. Noch mehr wuchs sein Respekt vor diesen Frauen, als sie ihn zu der gefährlichen Alligatorjagd einluden, die sie mit außergewöhnlicher Kühnheit erfolgreich abschlossen. Drei jugendlichen Frauen gelang es sogar, nur mit einem kurzen Speer bewaffnet, einen Jaguar zu töten, das gefährlichste Raubtier des Urwaldes. Sie berichteten ihre Tat so sachlich kühl, als ob es sich für die Amazonen um eine Routinesache handelte.

Das soziale Leben verlief in Heiterkeit und Offenheit, doch zugleich mit Anstand und Disziplin, zum Beispiel wurde der Forscher nicht von Bettelei um Geschenke behelligt, wie er es von anderen Indianerstämmen kannte. Der außerordentlichen Freundlichkeit der »Königin« Kuyta verdankte es der Forscher, dass er einiges über das Sozialleben der Amazonen erfuhr. In den Dörfern der erwachsenen Frauen waren keine Kinder zu sehen, sondern es gab für die Mädchen ein besonderes Mädchendorf, wo sie unter der Leitung der ältesten Frauen groß wurden. Ebenso gab es ein besonderes Knabendorf für die Knaben, sie lebten dort bis zu ihrem zehnten Lebensjahr. Danach wurden sie den Männern von den Stämmen der Mundurucu, Bares, Parintintin oder Macuxi, die als Freier jedes Jahr die Amazonen besuchten, übergeben, ein Ereignis, auf das sich die älteren Knaben schon jetzt freuten. Als durch das Urwald-Telefon, die Trommeln, die Nachricht eintraf, dass eine Schar Freier vom Stamm der Parintintin sich näherte, wurden etwa hundert jugendliche Frauen, die nun als alt genug für die Liebe galten, von zwei Priesterinnen geschmückt und sorgfältig mit Mustern bemalt. Dem Forscher fiel auf, dass diese Muster mit denen aus sehr alten Hochkulturen auf der Anden-Hochebene, wie zum Beispiel der Tiahuanaco-Kultur, fast identisch waren, was ihn sehr erstaunte.

Als die Freier eintrafen, zelebrierten diese einen langanhaltenden, rituellen Tanz, bei dem die jugendlichen Frauen sie kritisch musterten und sich dann ihre Liebhaber auswählten. Es folgten noch weitere Rituale, begleitet von der »Königin«, die ein wundervolles Gewand trug, das in allen Regenbogenfarben schillerte. Als ein ausgiebiges Schmausen begann, bei dem die Frauen ihre Liebhaber mit köstlichen Speisen überhäuften, zog sich die Expedition diskret zurück, um die Liebesfeiern nicht zu stören. Nach zwei Wochen kehrte der Forscher auf Einladung der Amazonen zurück und konnte noch den Abschied der Liebhaber miterleben, die mit reichen Geschenken beladen und mit einigen der Knaben, die ihnen feierlich übergeben worden waren, wieder abfuhren. Die Amazonen standen in zwei Reihen auf einer Böschung oberhalb des Flusses und sangen klagende Abschiedslieder. Prado schließt seinen Bericht mit den Worten, dass er hier in eine Lebensform Einblick nehmen durfte, die als Stammestradition uralt ist und sich im Laufe von langen Zeiträumen sehr gut bewährt hat.61

Amazonengesellschaften sind nicht so selten, wie man meinen möchte. Es handelt sich bei ihnen um eine besondere Form des Zusammenschlusses von Frauen, die sich unter extremen Umständen entwickelte. Die Bedingungen ihres Entstehens sollten erforscht und analysiert werden, denn es ist besser, Erklärungen zu suchen als das Thema zum Tabu zu machen.62 Bevor ich eine Erklärung für die südamerikanischen Amazonen versuche, möchte ich die Frage beantworten, zu welcher indigenen Volksgruppe sie gehören. Es gibt dafür keine direkten, aber sehr deutliche indirekte Hinweise. Die Gebiete, die für ihre Wohnungen angegeben werden, sind identisch mit Siedlungsgebieten der Arawak: Trinidad und Tobago und Umgebung, die Orinoko-Berge, das Orinoko-Becken, das Rio Negro- und Amazonas-Becken, die Mündung des Amazonas (siehe Karte 1). Ferner sprechen die Arawak eine Sprache der großen Amazonas-Region, auch wenn sie nicht mehr am Amazonas wohnen, und in ihren Enklaven haben sie die besonderen Muster der Matrilinearität und Matrilokalität weitgehend bis heute bewahrt.63 Die Arawak gelten auch als die Träger bestimmter Künste, wie Keramik, Webstuhlweberei, Flechten von Körben und besonders von Hängematten, Handwerke, die sie an andere Urwaldstämme weitergegeben haben (Abb. 2).64 Die archäologischen Funde von Steinbauten und Megalithen aller Art fanden sich außerdem in Arawak-Gebiet. Alle diese Übereinstimmungen erlauben deshalb den Schluss, dass die Amazonen Arawak-Frauen waren, die ihr Reich auf dem Hintergrund der sehr alten, matriarchalen Kultur ihres Volkes aufbauten.


Abb. 2: Capaya-Frau mit ihrem Kind in der Hängematte, eine Erfindung der Arawak und typisch für ihre Kultur (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 161)

Doch warum griffen einige ihrer Stämme zu der extremen Lösung der Bildung von Amazonengesellschaften? Der Forscher Schomburgk berichtet eine Sage, die uns Indizien gibt, wie es zur Bildung des Amazonenreiches in den Orinoko-Bergen gekommen sein könnte. Es ist die Sage von der »Verschwörung des Jaguars«, sie stammt aus dem Gebiet der Worisianas.65 »Worisianas« heißt übersetzt: »Land der Frauen von den Müttern«, was wohl auf die Mutterlinie in diesem Land hinweist.66 Die Sage lautet so: Unter Anführung der mutigen Toeyza, der Frau des Häuptlings, kamen alle verheirateten Frauen eines Stammes zusammen und bildeten den »Geheimbund des Jaguars« gegen die Tyrannei ihrer Ehemänner. Denn die Männer zwangen die Frauen ständig zu arbeiten und demütigten sie täglich. – Der Jaguar ist das Tier des Schwarzmondes, des Tamulu, des kosmischen Richters und Rächers von allem Unrecht. – Aber der Geheimbund wurde von drei Männern belauscht, und der Jaguar, das heilige Tier, vor den Augen der Frauen getötet. Daraufhin vergifteten die Frauen ihre Ehemänner und zogen durch die Wälder davon zu einem fernen Land im Osten. Sie nahmen Lebensmittel, Hängematten und Waffen mit sich, proklamierten ihre Freiheit und nannten sich »das Volk der Frauen« (Worisianas). Als sie von Freunden ihrer Männer verfolgt wurden, verteidigten sie sich erfolgreich mit Pfeil und Bogen. Zuletzt ließen sie sich nieder und gründeten ihr Reich in der Sierra Parima. Toeyza wurde ihre erste Königin und erließ genau jene sozialen Gesetze, welche die Expeditionsforscher über die Amazonen herausfanden. –

Diese Sage ist kein »Mythos, den Männer erfanden, um ihre Herrschaft über Frauen zu rechtfertigen«, ein Argument, mit dem diese Art von Erzählungen üblicherweise beiseitegeschoben wird. Denn warum sollten verheiratete Frauen plötzlich gegen den Status quo rebellieren, wenn sie nichts anderes als diese Art von ehelichen Umgangsformen kannten? Was hätte sie damit unzufrieden machen sollen? Viel wahrscheinlicher ist, dass ihnen ihre Versklavung durch die Ehemänner neu war, weil sie vorher in einer anderen Sozialordnung lebten, nämlich einer matriarchalen. Deshalb besaßen sie noch genug Selbstbewusstsein und Kraft, um sich dieses männlichen Zwanges zu entledigen. Bei Frauen von Arawak-Stämmen, um die es sich hier handelt, ist dieser matriarchale Hintergrund gesichert. Ihr Handeln ist dann nur konsequent und spiegelt den Umschlag von matriarchalen Mustern in amazonische Muster, mit denen sie sich gegen die ersten, patriarchalen Versuche von männlicher Seite, sie zu versklaven, wehrten.

Wer aber waren diese »Ehemänner«? Es können nicht Angehörige des eigenen Stammes der Frauen gewesen sein, da diese weder einen dauernden Ehemann-Status noch eine Herabwürdigung der Frauen kannten. Die »Ehemänner« müssen Angehörige anderer Völker gewesen sein, die den Stamm, zu dem die Frauen gehörten, angegriffen und erobert hatten, dann die Frauen entführten und zur Heirat zwangen. Solche Handlungsweisen sind von den patriarchalisierten Stämmen der Kariben und Tupi belegt. Sie überfielen Arawak-Gemeinschaften, töteten die Männer und zwangen die Frauen in die Ehe und Sklaverei.

Die Antworten der Arawak-Stämme auf diese fortwährende Bedrohung waren verschieden. Wie schon gesagt wichen viele den patriarchalisierten Stämmen aus und flohen in neue Gebiete. Andere, die bereits besiegt waren, kamen durch eine Frauenrebellion zu amazonischen Mustern, indem sie sich der Waffen der Feinde, Pfeil und Bogen, bedienten um ihre Freiheit zu verteidigen; gleichzeitig wählten diese Frauen den Rückzug in die unzugänglichen Orinoko-Berge. Wieder andere Besiegte gingen in den Stämmen der Gegner auf, weil sich die zwangsverheirateten Frauen nicht befreien konnten. Das führte allmählich zur Akkulturation, indem die Eroberer einige Kulturgüter und Bräuche von ihren Arawak-Frauen übernahmen. Zum Beispiel weisen die Küsten-Kariben manchmal Matrilinearität oder Matrilokalität auf und kennen das »Peito«-System, die lange Dienst-Ehe des Schwiegersohnes bei der Sippe der Gattin. Aber hier bleiben die Frauen immer von den spirituellen und politischen Angelegenheiten der geheimen Männerbünde ausgeschlossen.67

Diese jahrtausendelange Entwicklung zwischen einer uralten, matriarchalen Kultur und immer stärker nachdrängenden, patriarchalisierten Stämmen erklärt, wie aus einem friedlichen Ackerbauvolk ein Kriegerinnenreich hervorgehen konnte. Amazonische Gesellschaften entstehen in der schwierigen und leidvollen Übergangszeit, in der patriarchale Volksgruppen zerstörerisch auf ältere matriarchale Kulturen prallen.

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart

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