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2.4 Der Lebenszyklus der Frauen von Juchitán
ОглавлениеDer Lebenszyklus einer juchitekischen Frau wird von Anfang an von den Festen geprägt. Mit zwei Jahren wird das kleine Mädchen bereits der Öffentlichkeit vorgestellt und die Erziehung zielt von Anfang an darauf ab, Gastgeberin zu sein und zu repräsentieren. So begleitet sie als Kind häufig eine junge Frau, die »Festkönigin« sein darf, und mit fünfzehn Jahren folgt das erste große Fest der Jugendlichen, das ihre Mutter für sie ausrichtet. Es ist das Initiationsfest für Mädchen, dem für Knaben nichts dergleichen entspricht. Ab fünfzehn Jahren fängt sie auch an, als Händlerin auf eigenen Beinen zu stehen. Bei ihrem Initiationsfest bekommt sie dafür eine kleine Starthilfe. Auch wenn sie später einen anderen Beruf ergreift, wie etwa Lehrerin oder Ärztin, behält sie nebenbei ihren Handel. Denn jede Frau in Juchitán ist Händlerin und stolz darauf, sie bleibt dadurch in das gesamte Netz der Kommunikation in der Stadt und in die gemeinschaftliche Feste-Ökonomie eingebettet.
Das Bündnis zwischen Mutter und Tochter ist dabei tragend für die ganze Lebensgestaltung, zugleich sind sowohl Tochter wie Sohn stolz auf ihre Mutter, auf die Abstammung von ihr. Deshalb verleugnen sie ihre ethnische Herkunft nicht, im Gegenteil betrachten sie alles Einheimische als »besser« – zweifellos ein Ergebnis der mütterlichen Erziehung. Die Kinder wohnen im Haus der Mutter, also matrilokal, und der Gatte wohnt ebenfalls hier, das heißt: uxorilokal, nämlich im Haus der Gattin. Die Verwandtschaft gilt offiziell nach beiden Linien, der mütterlichen wie der väterlichen. Tatsächlich aber werden Namen angemeldet, wie die Frauen es wollen, und erwachsene Kinder legen häufig den Namen des Vaters ab, mit dem sie kaum Verbindung haben. Denn trotz offizieller Monogamie sind Scheidungen leicht und häufig, so dass die Frauen in der Regel Kinder von mehreren Vätern haben. Die Kinder bleiben stets bei den Müttern, deshalb kommt es häufig zur Wahl des Mutternamens. Die Vaterlinie spielt nur bei der Vererbung der Felder eine Rolle, denn diese werden vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Parallel dazu geht das Haus immer von der Mutter an die Tochter über. Die Einführung der Monogamie sowie der Vaterlinie und der Vererbung des Landes vom Vater auf den Sohn liegt geschichtlich nicht allzu weit zurück, es ist eine Frucht des spanischen Einflusses und der christlichen Missionierung. Davor herrschte klare Matrilinearität mit der Vererbung nur in weiblicher Linie, worauf nicht nur das praktische Leben, sondern auch die Verwandtschaftsterminologie hinweist.50
Gegen den Willen der Mutter wird die Tochter letztlich nichts tun, auch in der Angelegenheit ihrer Heirat nicht. Zwar wählt sie durch den Brauch der »Geraubten Braut« ihren ersten Liebhaber selbst, denn er entführt sie nach gegenseitiger Einwilligung ins Haus seiner Mutter, wo sie sich von ihm deflorieren lässt. Daraufhin erscheint ihre Mutter mit einer Delegation von weiblichen Verwandten bei seiner Mutter, um die Sache zu arrangieren und möglichst gute Bedingungen für die Heirat auszuhandeln. Danach wird großartig Hochzeit gefeiert, wobei nach der offiziellen kirchlichen Messe die Feier vor dem Hausaltar, die den Ahninnen gewidmet ist, wesentlich wichtiger ist. Dort zelebriert eine angesehene Nachbarin als Priesterin die einheimische Zeremonie für das Paar und belehrt sie in der eigenen Sprache. Ist die Brautmutter jedoch nicht einverstanden, dann kehrt die Tochter zu ihr zurück. Aber die Mutter des Bräutigams muss in diesem Fall eine hohe Vergütung dafür aufbringen, dass das Mädchen nun nicht mehr Jungfrau ist. Die junge Frau selbst erhält diese Summe als Mitgift für ein eigenes Geschäft. Auch dann, wenn es zur Heirat kommt, muss die Mutter des Bräutigams der Schwiegertochter zum eigenen Geschäft verhelfen. Dafür bleibt die Schwiegertochter zwei Jahre lang bei der Schwiegermutter als Hilfe für die Unkosten des großen Hochzeitsfestes. Dann kehrt sie ins Haus der Mutter zurück, wo ihre Kinder erzogen werden. Sie hilft ihrer Mutter und erbt vielleicht das Haus oder baut sich nahe dem Hause der Mutter ein eigenes. Der Gatte wohnt jetzt bei der Frau und kehrt bei einer Scheidung, was häufig vorkommt, in sein Mutterhaus zurück. Bei der nachfolgenden Wahl anderer Partner gibt es keine Hochzeitszeremonie mehr, sondern die Frau tut sich einfach mit dem neu gewählten Partner zusammen. Auch wenn eine junge Frau keine Hochzeitszeremonie wünscht, erlebt sie den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt, in dem sie selbständig wird und ihre sexuelle Freiheit genießt. Diese Freiheit wird mit dem heiratsfähigen Alter und nicht mit einer Feierlichkeit gewonnen, daher ist die Hochzeit keine Verpflichtung.
Für einen Knaben in dieser Gesellschaft mag es verlockend sein, lieber eine »Tochter« als ein »Sohn« zu sein. In der Gesellschaft von Juchitán kennt man daher die Möglichkeit der Wahl des Geschlechts. Ein Knabe kann sich entscheiden, eine »Tochter« zu werden, dann wird er wie ein Mädchen gekleidet und erzogen und übt später die Tätigkeit der Frauen aus, nämlich den Handel. Er gilt nun als »weiblich«, denn er ist in der Handlungssphäre der Frauen aktiv. Dennoch wird in solchen Fällen die besondere Bezeichnung »Muxe« für ihn gebraucht, was auf eine Art drittes Geschlecht hinweist. In Liebesdingen wird er sich einen männlichen Partner wählen. Dasselbe gibt es bei Mädchen, denn wenn ein Mädchen ein »Sohn« sein will – was in einer matriarchalen Gesellschaft erheblich weniger begehrt ist – so wird sie männlich gekleidet und erzogen, und sie geht mit den Männern hinaus aufs Feld. In diesen Fällen lautet die Bezeichnung »Marimacha«, was eine Art viertes Geschlecht meint, und sie wird wahrscheinlich Frauen als Liebespartnerinnen haben.51
Dieser Tausch der Geschlechterrollen kommt auch in etlichen anderen matriarchalen Gesellschaften vor, aber das Phänomen ist erst wenig erforscht. Es zeigt jedoch, dass gleichgeschlechtliche Liebe in Matriarchaten nicht tabuisiert wird, sondern als natürliche Neigung akzeptiert ist. Was bei diesem Tausch der Geschlechterrollen jedoch eingehalten wird, ist die je weibliche und je männliche Erscheinungsform und Aktionssphäre samt Arbeitsbereich – die weiblich-männliche Polarität der Gesellschaft wird nicht aufgehoben. Der Grund ist, dass matriarchale Gesellschaften auf allen ihren Ebenen sowohl real wie symbolisch auf dem Gleichgewicht zwischen polaren Sphären aufgebaut sind, zu denen auch die weiblich-männliche Polarität gehört, ganz gleich wie unterschiedlich diese von einer Kultur zur anderen verstanden wird.52 Dahinter steht das Balance-Prinzip als ein Prinzip der Weltordnung, das nicht durch persönliche Vorlieben von Einzelnen verändert werden kann.53 Diese haben jedoch die Freiheit, individuell die Sphären zu wechseln.
Wenn eine Frau in Juchitán ins reife Alter kommt, dann hat sie es meistens zu einer erfolgreichen Händlerin gebracht. Ihre Handelsgeschäfte werden ausgedehnter, sie ist damit nicht unbedingt an die Stadt Juchitán gebunden, sondern unternimmt weite Handelsreisen – eine alte Tradition in Mexiko. Spezialitäten werden von juchitekischen Frauen im Fernhandel verkauft, ebenso Kunsthandwerk, selbst wenn es von Männern gemacht wurde. Dabei werden gleichzeitig entfernte Verwandte besucht und Pilgerfahrten zu Kultplätzen unternommen. Als »Händlerinnen vom Isthmus« sind die juchitekischen Frauen, die man an ihrer farbenfrohen Tracht leicht erkennt, in ganz Mexiko berühmt; sie bereisen Mittelamerika bis nach Nicaragua im Süden und Arizona im Norden. Sie sprachen weitaus früher als die Männer Spanisch und heute sind sie in allen studierten Berufen zu finden. Die höchste Stufe ihres Prestiges erreicht eine Frau dann, wenn sie mit 50 oder 60 Jahren die Mayordoma, die Schutzherrin, eines großen Verdienstfestes wird. Sie ist es auch, welche die Ahnenzeremonien der Familie feiert, die teils vor dem Hausaltar, auf dem insbesondere Bilder der mütterlichen Ahninnen stehen, teils auf dem Friedhof stattfinden. Auch auf dem Friedhof geht es wesentlich um die Verehrung der Mutter nach ihrem Tod, Frauen pflegen ihr Grab und schmücken es mit vielen Blumen. Sie haben den alten Glauben bewahrt, dass die Ahninnen und Ahnen mitten unter den Lebenden weilen, und alle Familien ziehen für mehrere Tage im Jahr auf den Friedhof, um mit ihnen zu feiern. Der fröhliche Trubel ist dort so groß wie auf einem Jahrmarkt, üppige Speisen werden ausgebreitet, zu denen die Ahnenwesen eingeladen sind, es gibt Musik und Luftballons, und manchmal wird auch getanzt.54
Auch im religiösen Bereich finden wir trotz christlicher Überfremdung das Festhalten am Eigenen wieder, denn der indianische Synkretismus lässt vieles zu. Die Feste der katholischen Kirche werden lediglich als Staffage für die eigenen Feste benutzt und sehr selbstbewusst den alten Glaubensinhalten angepasst. Diese beziehen sich seit eh und je auf die fruchtbare Natur. Die Feste sind daher Geschenke an die Leben und Nahrung spendende Erde und gleichzeitig Bitten um Regen, um den es in heißen Ländern immer geht. Darum muss ein Überfluss an Speisen, Getränken und Blumen vorhanden sein, eine verborgene, erotische Symbolik begleitet die Feste und Umzüge, und jede Frau verkörpert in ihrer Erscheinung die fruchtbare Natur persönlich. In Volksliedern wird die Göttin noch besungen, wie sie als gütige Mutter die Menschen nach dem Tod wieder in ihre Arme nimmt. In ihr ist die altmexikanische Erdgöttin und Mutter aller Wesen, die unter vielen Namen verehrt wird, noch zu erkennen. Bei den Zapoteken hieß sie »Nohuichana« und hatte auch Verbindung zu den Gewässern und zur Fischerei. Während der christlichen Missionierung durch die spanischen Eroberer wurden viele mexikanische Erdgöttinnen mit der Jungfrau Maria identifiziert, auch Nohuichana. So ist es wohl kein Zufall, dass die kleine Kirche in Juchitán »Kirche der Fischer« heißt, in der die Frauen für Maria Kerzen anzünden.
Die amtlichen, katholischen Priester wechseln ständig, denn sie können sich mit ihren offiziellen Kirchen-Dogmen nicht gegen die Leute durchsetzen. Sie hängen für die Durchführung der kirchlichen Feste von den Frauen ab, die auch hier als Mayordomas die Kosten übernehmen. Priester, die gegen die Ansichten der Frauen predigen, haben keine lange Bleibe in Juchitán. Die Messen, die sie halten, finden häufig nicht in der Kirche statt, sondern in den Häusern der Frauen, als Verschönerung ihrer eigenen großen Feste. Abgesehen davon ist jede Frau bei den familialen Riten der Lebensstadienfeste die unangefochtene Priesterin in ihrem eigenen Haus. So feiern sie in Juchitán zwei Tauf- und Hochzeitszeremonien, nämlich die eine in der Kirche und die andere zu Hause. Die schamanischen Hebammen und Heilerinnen der Stadt sind ebenfalls sehr geachtet, sie kommen in die Häuser und führen ihre Heilrituale vor den Hausaltären durch. Dabei folgen sie nach wie vor den Prinzipien und Riten der traditionellen indianischen Kosmologie.55
Wie sieht unter diesen Voraussetzungen die Politik in Juchitán aus? Die reale Politik machen die Frauen, die formale Politik der Parteien und des Gemeinderates hingegen die Männer. Es ist der männliche Bereich für Prestigegewinn. Aber es kann kein Mann Lokalpolitiker werden, den die respektabelsten Frauen der Stadt nicht unterstützen und dem die Mutter, die Schwestern und die Gattin nicht beistehen. Diese Frauen werben für ihn, und die anderen Frauen geben ihnen die Stimme, nicht aber dem Mann direkt.
Die Männer haben kein eigenes Geld, und es ist schwierig für sie, an das Geld der Frauen heranzukommen. Bürgermeistern, die den Leuten in Juchitán von der zentralistischen Staatsregierung vorgesetzt wurden, gelang es nie ihr Amt auszuüben. Das ging in einem Fall sogar so weit, dass die Marktfrauen solch einen unliebsamen Menschen nicht ins Rathaus hineinließen und ihn hinderten, seinen Sessel zu erklimmen. Erst nach einer militärischen Auseinandersetzung folgte eine Einigung, nach welcher jetzt nur einheimische Bürgermeister zugelassen werden. Diese versuchten über Marktgebühren und Steuern an Geld zu kommen, aber wieder wurden die Frauen rebellisch, und es war kein Geld aus der Stadt zu gewinnen. Daher können Männer nur etwas unternehmen, wenn sie Geld von der mexikanischen Staatsregierung erhalten, und dies stellt zusammen mit einer falschen Idee von »Entwicklung« durchaus eine Gefahr für die indigene Ökonomie von Juchitán dar.
Die Situation in Juchitán ist dennoch erstaunlich, weil die matriarchale Lebensweise hier nicht in einem Rückzugsgebiet, sondern in einem stark frequentierten Durchgangsland beibehalten wurde. Das zeigt, dass matriarchale Gesellschaften heute nicht einfach naiv-naturwüchsig existieren, sondern ihre Muster vom Volk immer wieder aktiv hergestellt und nach jeder Herausforderung und Krise bewusst erneuert werden. In Juchitán trägt die starke Solidarität der Frauen untereinander und ihre Widerspenstigkeit nach außen erheblich dazu bei, ebenso ihre ständige Einmischung in die Politik der Männer. So wird in den vergangenen Jahrhunderten von fortwährenden Konfrontationen zwischen der spanischen Kolonialmacht und dieser Stadt berichtet: Aufstände kamen häufig vor, und stets waren die Frauen präsent, um mit den Männern zusammen zu kämpfen. Die Spanier mussten nicht nur die führenden Männer, sondern auch die wichtigen Frauen verbannen, um den Ort zu »befrieden«. Noch heute beteiligen sich die Frauen in vorderster Reihe an politischen Aktionen, zum Beispiel wenn es darum geht, den »Panamerican Highway« zu blockieren; oder einen Marsch gegen die Politik der Provinzhauptstadt zu unternehmen; oder einen Aufstand gegen die mexikanische Zentralregierung zu machen. Innenpolitisch behandeln sie jeden Vorgesetzten ohne jeden Respekt, und bisher ist es noch keinem Mann gelungen, ihr Marktwesen zu »reformieren« oder Steuern zu erheben.56
Die Tiefebene des Golfes von Tehuantepec umfasst noch weitere kleine Städte, deren Bevölkerung insgesamt 250.000 Leute ausmacht. Sie funktionieren als unabhängige Stadtrepubliken, genauso wie Juchitán, und dies ist ein altes politisches Muster, das weit vor die Zeit der indianischen Reichsbildungen zurückreicht. Matriarchale Elemente wie die beschriebenen findet man auch in diesen anderen Städten, wobei Juchitán die konservativste und rebellischste Stadt ist. Mit dem wiedererwachenden indianischen Selbstbewusstsein in Mexiko übernehmen die Frauen der benachbarten Städte gegenwärtig vermehrt Handlungsstrategien von den erfolgreichen Frauen von Juchitán. –
Wir haben damit im Süden Mittelamerikas und in seiner Mitte letzte Inseln der einst weit verbreiteten matriarchalen Kultur gefunden, doch es gibt sie auch in seinem äußersten Norden. In der nordwestlichen Ecke von Mexiko, versteckt im Kalifornischen Golf auf der Insel Tiburón, leben die Seri. Im Jahr 1956 wurden sie von ihrer Heimatinsel vertrieben und zwangsweise an die Küste umgesiedelt, doch 1975 erhielten sie die Insel als ihr Eigentum zurück. Heute leben von ihrem einst großen Stamm nur noch einige hundert Menschen (siehe Karte 3).57
Ihre Lebensweise ist extrem, denn trotz äußerst mutiger Gegenwehr befanden sie sich ständig auf der Flucht vor den Eroberern, bis zu ihrem letzten Rückzug in die Sonora-Wüste in der Küstenregion und auf die Insel Tiburón. Dabei ist ihre materielle Kultur stark abgesunken, aber nur durch rigorose Abgrenzung konnten sie sich allen fremden Einflüssen entziehen. Ihre Ackerbaukultur haben sie längst verloren, heute leben sie ausschließlich vom Fischfang der Männer. Dennoch haben sie die matriarchale Sozialordnung bewahrt, die sich in ihrer Matrilinearität, Matrilokalität und der großen Bedeutung des Mutterclans, der das Gemeinschaftsleben bestimmt, manifestiert. Die Gegenseitigkeit ist unumstößliche Regel, ohne welche die Seri in ihrer Extremsituation kaum hätten überleben können.
Von ihrer Religion ist sehr wenig bekannt: Sie feiern ein ausführliches Initiationsfest für die Mädchen, bei dem das Gesicht mit symbolischen Linien bemalt wird, und der besondere Schutz ihrer Ahninnen begleitet sie dabei (Abb. 10). Die Ahninnen führen jede verstorbene Person in die Unterwelt und geleiten sie auf der Jenseitsreise, bis sie wiedergeboren wird. In der Schöpfungsgeschichte der Seri heißt es, dass zu Beginn die heiligen Tiere Schildkröte und Pelikan die Menschen aus der Unterwelt heraufbrachten. Die Schildkröte tauchte, symbolisch für die Erde selbst, aus dem Urmeer auf und gab ihnen Wohnstätte, und der Pelikan gab ihnen mütterlichen Schutz. Seine Federn und seine Haut wurden früher zu prächtigen Kleidern für die Seri-Frauen verarbeitet. Die Insel Tiburón und eine kleine, vorgelagerte Insel sind der Schildkröte und dem Pelikan geweiht, und die ältesten Muttersippen der Seri tragen noch heute die Namen dieser Tiere.58
Abb. 10: Jugendliche der Seri während ihres Initiationsfestes (aus: Bild der Völker, Bd. 4, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 180)
Diese kleine, indigene Volksgruppe stellt ein weiteres Beispiel von matriarchalen Kulturen dar, die sich einst von Süden nach Norden über ganz Mittelamerika erstreckten und auf diese Weise Süd- und Nordamerika verbanden. Denn nicht weit von ihnen entfernt, in den Wüstengebieten Arizonas und New Mexikos im Südwesten von Nordamerika (Staatsgebiet der USA) liegen die Wohngebiete der Pueblo-Kulturen, die allesamt auf Ackerbau beruhen und einstmals volle matriarchale Sozialordnung besaßen (siehe Karte 3).
Heute wird die Isolation der Seri, die eins der letzten, wirklich autonomen Völker in Mexiko sind, durch mexikanische Tourismus-Projekte auf die Probe gestellt. Hotels werden an der Küste aus dem Boden schießen, ganz nahe an der Heimatinsel der Seri, was sie vor schwierige Fragen hinsichtlich ihrer Zukunft stellen wird.59