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Die Jalousien waren heruntergelassen und hielten die tief stehende Abendsonne draußen. Ein Tisch und sechs Stühle waren neben der Teeküche links der Fensterfront einziges Mobiliar im Besprechungsraum.

Die Kaffeemaschine röchelte.

Für 18.00 Uhr hatte Verena die erste Besprechung angesetzt. Jetzt war es zehn vor. Noch war sie allein. Sie holte fünf Tassen aus dem Hängeschrank und stellte sie auf die Spüle. Ihre Tasche hing über einem Stuhl. Ruben war nicht zu sehen, er schlief.

Die Worte von Frau Glöckle, der neuen Abteilungssekretärin, einer nicht mehr jungen, unfrohen Frau, klangen Verena noch in den Ohren:

„Das ist eine fachfremde Tätigkeit und steht nicht in meinem Stellenprofil!“

Dabei hatte Verena sehr freundlich gefragt, ob sie so nett sein könnte, für die Besprechung eine Kleinigkeit zu essen zu besorgen.

Verena durchsuchte die Schränke und fand eine angebrochene Keksrolle. Sie nahm einen heraus, biss ab und hatte sofort das Gefühl, ein Stück einer Schuhsohle im Mund zu haben, die den Schweiß ausgedehnter Wüstenmärsche aufgesogen hat. Angewidert spuckte sie aus.

Sie setzte sich an ihren gewohnten Platz am Kopfende des Tisches und öffnete die Mappe, die den vorläufigen Obduktionsbericht enthielt.

„... kleinste Stichwunde auf der Haut über der Arteria ...“ Hier folgte eine Reihe lateinischer Fachausdrücke, die Verena überflog. „... Keine weiteren äußeren Verletzungszeichen. Keine Abwehrspuren. Keine Fremdpartikel unter den Fingernägeln.“

Benno kam herein. Er ging auf die Kaffeemaschine zu und schenkte sich ein. Dann nahm er einen Keks aus der Packung, biss ab und verzog das Gesicht.

„Auch schon probiert?“, fragte er die Handtasche an Verenas Stuhl. Dabei stoben ihm ein paar Krümel aus dem Mund. Ungerührt beobachtete Ruben, der ausgeschlafen hatte und wieder zum Vorschein gekommen war, wie die Krümel zu Boden sanken. Benno setzte sich Verena gegenüber an das andere Kopfende des Tisches und schaltete den Computer ein.

Willsch und Wagner betraten den Besprechungsraum. Mit der vollen Kaffeetasse in der Hand und mit der Zunge angewidert die Reste des eben probierten Kekses aus der Mundhöhle räumend, setzte sich Wagner an seinen gewohnten Platz.

„Wenn keiner will ...“, Willsch nahm die ganze Packung und setzte sich neben Wagner.

„Ich fasse kurz zusammen, was wir haben“, begann Verena ohne Umschweife. Es war jetzt viertel sieben und von Dr. Meininger weit und breit keine Spur.

„Da ist der Tote, Klaas Hildebrandt, zuletzt wohnhaft in der Klopstockstraße. Todeszeitpunkt zwischen halb eins und halb drei heute Nacht.“

Verena schaute zu Benno, der mit einem Nicken bedeutete, dass er verstanden hatte, sofort Bescheid zu geben, wenn Schmalhans neue Ergebnisse per Intranet herüberschickte.

„Dann haben wir die Briefe seiner Frau, Bernadette Hildebrandt.“

Verena hatte heute Mittag schon Kopien des letzten Briefes, der sich inhaltlich von den anderen nicht unterschied, an alle verteilt.

„Das Kopieren steht zwar in meinem Stellenprofil. Ich hab jetzt aber überhaupt keine Zeit“, hatte Frau Glöckle Verenas Bitte abgeschmettert, die Kopien anzufertigen.

Willschs Aufgabe war es gewesen, Informationen über die Verfasserin des Briefes zu recherchieren. Willsch, der gerade den letzten Bissen im Mund bearbeitete, nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Kaffeetasse, um den eingedickten Keksbrei gleitfähig zu machen.

„Bernadette Hildebrandt ist am 26. Juni 1978 in Radolfzell am Bodensee geboren und dort aufgewachsen. 1997 hat sie Abitur gemacht und ...“

„Das Wesentliche! Den Rest können wir später nachlesen“, unterbrach ihn Verena.

„Seit ihrer Ausreise nach Kolumbien vor fünf Jahren hat ihr Mann keinen Cent für seinen Sohn bezahlt“, fuhr Willsch fort. „Warum sie allein nach Kolumbien geflogen ist, krieg ich auch noch raus.“

„War das alles?“, fragte Verena, als Willsch ins Stocken geriet.

„In der Kürze der Zeit ...“, gab Willsch zurück.

„Was ist mit den Passagierlisten der Transatlantikflüge aus Kolumbien.“

„Mach ich gleich morgen früh.“

„Nicht morgen früh. Jetzt! – Konnten Sie ein Bild von ihr auftreiben?“

Mit Schwung schob Verena ihr Handy, mit dem sie die Schaulustigen am Tatort fotografiert hatte, über den Tisch in Richtung Benno, als wäre es ein Whiskeyglas auf einem Tresen in einem schäbigen Saloon in Wyoming.

„Noch nicht. Vielleicht ist ja eines auf dem Rechner des Journalisten?“, sagte Willsch.

„Was hat die Befragung der Nachbarn ergeben, Benno?“

„Nichts. Keiner hat was gehört oder gesehen“, antwortete er, während er die Bilder auf den Computer kopierte. „Ich geh nachher noch mal los und befrag die, die heute Morgen nicht zu Hause waren.“

Verena nickte und wandte sich an Wagner: „Was haben wir über Klaas Hildebrandt?“

„Er scheint ein ruheloser Mensch gewesen zu sein.“ Wagner strich mit Daumen und Zeigefinger über seinen schmalen Schnauzbart, was ihm beim Denken half, wobei sich die Finger von der Mitte ausgehend in die entgegengesetzte Richtung bewegten. „Arbeit und Wohnung in Reutlingen hatte er seit einem halben Jahr. Davor hat er in Sigmaringen gewohnt. War lange arbeitslos. Bankkonto massiv überzogen, Dispo bis zum Anschlag. Keine auffälligen Geldtransfers. Arbeitslosengeld, hier und da ein kleinerer Betrag. Und seit einem halben Jahr regelmäßiges Gehalt von der Lokalzeitung.“

„Freunde? Familie? Geschwister?“

„Fehlanzeige. Sein Adressbuch weist jede Menge geschäftliche Adressen und Telefonnummern auf, alles Agenturen, Firmen, Redaktionen und so weiter. An seiner Vita bin ich grade dran. Es war ja nicht mehr viel Zeit heute“, sagte Wagner mit einem Seitenblick auf seinen Kollegen, der ihn auch im Sitzen um Haupteslänge überragte.

„Die Vernissage kann beginnen!“ Benno drehte den Monitor so, dass alle mühelos einen Blick darauf werfen konnten. Ein repräsentativer Querschnitt durch Reutlingens Einwohnerschaft war auf den Fotos zu sehen. Junge, Alte, Mütter, Väter, Kinder, die, wenn nicht Ferien gewesen wären, auf die Schulbank gehört hätten. Hier beugte sich eine junge Frau über einen Kinderwagen, da gab eine andere ihrem Kind zu trinken, daneben zeigte jemand mit dem Arm in die Richtung, in die sich alle Köpfe gedreht hatten: dorthin, wo das Schreckliche passiert war.

Nichts eint Menschen mehr als gemeinsames Schaudern über eine Katastrophe, von der sie selber verschont geblieben sind.

„Ich brauche von jedem Gesicht einen Abzug“, sagte Verena.

Benno nickte. „Ich hab hier noch was Interessantes“, sagte er und drehte den Monitor wieder zu sich. Er öffnete eine Datei.

„Ich hab Hildebrandts Kritiken recherchiert, die er in letzter Zeit verfasst hat. Die eine hier bezieht sich auf eine Theateraufführung vor fünf Tagen im Theater in der Tonne: Kasimir und Karoline von Horváth.“ Benno las laut vor: „Der Regisseur – ein halbgebildeter Autodidakt, die Schauspieler – lustlos herumstaksende Amateure.“

Benno scrollte den Text nach unten. „Und hier eine Lesung gestern Abend in der Aula im Spitalhof. Ein Lyrikabend. Der Kritiker, also Hildebrandt, schreibt: Der Autor mag seine lyrischen Ergüsse am wenigsten verstanden haben. Einfältig daherkommende Worthülsen; törichte Phrasen, gewaltsam aneinandergezwängt.“

Benno sah auf. „Das könnte das Telefonat gestern Abend um zehn nach halb elf mit seiner Redaktion erklären. Wahrscheinlich hat er seine Kritik telefonisch durchgegeben, damit sie heute in der Zeitung erscheint. Aber es gibt noch mehr davon. Alle gnadenlos und vernichtend. Und was in ebensolcher Regelmäßigkeit folgte, waren empörte Leserbriefe.“

„Wer weiß schon, was sich in einer gedemütigten Künstlerseele abspielt“, sagte Verena.

„Hildebrandt wurde heute Nacht ermordet. Wie kann die gedemütigte Künstlerseele da schon gewusst haben, was morgen in der Zeitung steht?“, bemerkte Wagner, sichtlich stolz auf seinen Verweis.

„Über diesen wie über andere Reutlinger Künstler hat Hildebrandt schon oft gerichtet, es war nicht der erste Verriss“, gab Benno zurück, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

Die Tür ging auf und Frau Glöckles Kopf erschien.

„Dr. Meininger möchte Sie sehen, Frau Paul“, sagte sie, ohne den Besprechungsraum zu betreten. Dann schloss sie die Tür wieder.

Verena schaute auf die Uhr. Halb acht. „Machen wir Schluss für heute. Willsch, morgen erwarte ich einen umfassenden Bericht über Bernadette Hildebrandt. Mit derzeitigem Aufenthaltsort.“

Willsch nickte.

„Wagner, Sie bleiben an Klaas Hildebrandt dran.“

Verena tastete vorsichtig in ihre Handtasche. Ruben schlief.

Wieder einmal hatte Meininger bei einer Besprechung gefehlt. Froh, in Verena einen Menschen zu haben, der ihm den Alltag vom Leib hielt, schien Yeti sich in die Gebirgsketten des Himalaja zurückgezogen zu haben.

Wenig später stand Verena ein Stockwerk höher vor Meiningers Büro. Als sie die Hand hob, um anzuklopfen, vernahm sie seine Stimme. Er schien zu telefonieren. Oder mit sich selbst zu sprechen. Verena zögerte. Aus den Räumen der Bereitschaft im Erdgeschoss drang das Zirpen der Funkgeräte zu ihr herauf. In irgendeinem Zimmer in der ersten Etage waren Stimmen zu hören, die unaufgeregt miteinander sprachen. Ansonsten war es still im Haus. Verena wartete noch einige Momente und klopfte dann an die Tür.

„Ja!“, rief Meininger.

Verena trat ein. „Sie wollten mich sprechen?“

„Richtig.“ Ohne sich zu erheben, deutete er auf einen der beiden Stühle, die ihm gegenüberstanden. Vor ihm auf seinem blank polierten Schreibtisch lag ein Füllfederhalter, daneben ein Blatt Papier, auf dem Meininger Notizen gemacht hatte. Verena setzte sich und wartete, bis er sprach.

„Was ist das für eine Sache mit dem toten Journalisten?“, begann er.

„Es gab Zeiten, da haben Sie sich an unseren Besprechungen beteiligt, Chef“, gab Verena zurück. Sie fixierte sein Gesicht und suchte nach Spuren des Menschen, der einmal mitfühlend gewesen war, der ihr den Rücken freigehalten hatte. Doch sie fand die harten Züge eines Mannes, der an seinen Mitmenschen nicht mehr interessiert zu sein schien.

„Im Moment genügt mir die Essenz dessen, was Sie besprochen haben“, antwortete Meininger. Für einen kurzen Augenblick schien es, als ob er weitersprechen wollte. Doch dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust

„Klaas Hildebrandt. Kulturredakteur bei der Lokalzeitung. Er wurde heute früh vor seinem Haus unter einem Holunderbusch tot aufgefunden. Äußerlich unversehrt, bis auf eine kleine Stichwunde am Hals“, begann Verena ihren Rapport.

„Schon erste Spuren?“

„In seiner Wohnung haben wir Briefe gefunden. Von seiner Frau. Bernadette Hildebrandt. Er schuldet ihr eine Menge Geld. Sie ist vor fünf Jahren mit dem gemeinsamen Sohn nach Kolumbien ausgewandert.“

„Warum allein?“

„Das wissen wir noch nicht. Willsch ist an der Sache dran. Jedenfalls hat er seither keinen Cent Unterhalt gezahlt. Es scheint ihr nicht gut zu gehen in Kolumbien. Und sie ist ziemlich wütend auf ihn.“

„Könnte ein Motiv sein.“

„Wir wissen noch zu wenig. Die wichtigste Frage im Moment ist: Wo ist Bernadette Hildebrandt?“

Meininger nickte. „Sonst noch was?“

„Hildebrandt war als Kritiker nicht gerade zimperlich. Um nicht zu sagen erbarmungslos. Auch aus dieser Ecke ist ein Motiv zumindest vorstellbar.“

„Ich möchte über jeden Ihrer Schritte Bescheid wissen. Und regelmäßig über den Stand der Ermittlungen unterrichtet werden.“

„Sicher, Chef.“

Meininger zog die Verschlusskappe von seinem Füllfederhalter und schrieb etwas auf das Blatt, das vor ihm lag. Verena sah aus dem Fenster. Zwei Amselmännchen in überaus gereizter Stimmung saßen auf einem Ast und versuchten, sich mit Drohgebärden gegenseitig zu beeindrucken. Bisweilen flogen sie in wildem Flügelschlag auf, um in der Luft ihre Körper aneinanderzuschlagen.

„Was haben Sie in der Altenheimsache unternommen?“, fragte Meininger, nachdem er die Verschlusskappe wieder auf den Füller gesteckt hatte.

„Die Altenheimsache?“ Verena verstand nicht ganz. „Wir haben einen Mord aufzuklären, Chef. Kann das nicht ...“

„Nein, kann es nicht. Den anonymen Brief sollten wir nicht auf die leichte Schulter nehmen. Nur mal angenommen, die Geschichte wird publik. Es genügt ja schon ein Gerücht. Was wirft das für ein Bild auf uns? Und auf unser Land? In dem alte Leute unter ungeklärten Umständen sterben, ohne dass sich jemand darum kümmert. Ich seh die Schlagzeilen schon vor mir ...“ Mit einer ausholenden Armbewegung markierte er die Stelle in der Luft, an der er die Schlagzeile vor sich sah: „Tod im Altersheim. Die Polizei schaut weg. Leben wir in einer Wegwerfgesellschaft? Oder so ähnlich. Die Sache ist politisch hochbrisant!“

„Natürlich“, sagte Verena und verdrehte innerlich die Augen.

„Ich habe heute einen Anruf aus Stuttgart bekommen. Vom Landeskriminaldirektor höchstpersönlich. Er legt allergrößten Wert darauf, dass wir die Sache so schnell und vor allem so diskret wie möglich klären.“

„Verstehe“, sagte Verena. „In einem halben Jahr ist Landtagswahl. Haben da ein paar Herrschaften Angst um ihre Wählerstimmen?“

„Reden Sie kein dummes Zeug! Es geht hier lediglich um die verständliche Sorge Ihrer und meiner Vorgesetzten um das Wohl der alten Menschen in unserem Land.“

Meinte er, was er da sagte?

„Politisch hochbrisant, sagen Sie? Die Politik hat hier schon längst versagt. Wo sind denn die Gesetze, die Einrichtungen wie Krankenhäusern oder Altersheimen schlichtweg verbieten, Gewinn bringend zu arbeiten? Was Gewinnmaximierung auf Teufel komm raus anrichten kann, weiß doch ...“

„Schluss jetzt!“, fuhr Meininger dazwischen. „Ich habe die Gesetze nicht gemacht. Ich habe nur dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden. Sie übrigens auch, Frau Paul. Also: Wie wollen Sie vorgehen?“

Seine Miene war unmissverständlich. Verena hielt seinem Blick stand und begann, in Gedanken zu zählen. Von zehn rückwärts bis null. Schön langsam. Bis der Herzschlag im Hals nicht mehr zu spüren war.

„Ich hatte daran gedacht, Benno als Pfleger einzuschleusen“, begann sie jetzt. „So kann er sich umsehen, ohne Verdacht zu erregen. Aber unter den gegebenen Umständen brauche ich jeden verfügbaren ...“

„Sehr gut“, sagte Meininger mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Die Heimleitung müssen Sie natürlich um Erlaubnis fragen.“

„Natürlich, aber ...“

„Und nehmen Sie Willsch oder Wagner dafür. Benno ist an Ihrer Seite effektiver.“

„Kann nicht jemand aus der Bereitschaft ...?“

„Keine Widerrede. An die Arbeit!“

Meininger erhob sich zum Zeichen, dass die Unterredung für ihn beendet war. Die Amselmännchen, die jetzt friedlich nebeneinandersaßen und ihr Gefieder putzten, schienen einen Waffenstillstand geschlossen zu haben.

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