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„Hier werde ich also meine nächsten Tage verbringen“, sagte Willsch mit säuerlicher Miene, als er neben Verena auf einen Gebäudekomplex zuging, der aus drei versetzt angeordneten Betonquadern bestand. Die Fenster waren gleich groß, quadratisch und lagen in symmetrischen Abständen zueinander. Es gab keine Balkone. Hinter dem Häuserblock erhob sich knapp 700 Meter hoch der Urselberg, ein Hügel, der an einer schmalen Stelle mit der Schwäbischen Alb zusammenhing, und warf seinen Schatten über das Tal.

„Mehr Mut zur Farbe, und wir hätten hier drei überdimensionale Zauberwürfel“, sagte Willsch.

„Stimmt. Ein Ausbund an Kreativität ist das nicht gerade. Aber wer weiß, vielleicht bringen Sie frischen Wind in den Laden, wenn Ihnen neben den Nachforschungen noch Zeit bleibt“, sagte Verena. „Und je schneller Sie etwas finden, desto eher sind Sie wieder zurück.“

Sie drehte den Kopf zu Willsch herüber, der durch die am frühen Morgen schon brütende Hitze und wohl auch durch den bevorstehenden Auftrag ins Schwitzen geraten war. Wie Benno hatte auch er nach dem Abitur seinen Zivildienst absolviert – in einem Altenheim, was ihm jetzt zugutekam.

Willkommen im Haus Neckartal stand auf der linken Seite der Eingangstüre, die – mit einem Knauf versehen – von außen nicht zu öffnen war. Verena drückte auf eine Klingel, und nach wenigen Momenten summte der Türöffner. Die Empfangshalle, von der mehrere Türen abgingen und die auf einer Seite durch eine Glaswand den Blick in einen Gemeinschaftsraum freigab, war angenehm temperiert. Rechts neben der Treppe befand sich ein Aufzug, aus dem gerade eine junge Frau mit osteuropäischen Gesichtszügen und türkisfarbener Arbeitskleidung einen Putzwagen schob und hinter einer der Türen verschwand. Am Treppengeländer, von wo aus man den Eingangsbereich und den Vorplatz vor dem Gebäude gut im Blick hatte, stand ein gekrümmter, alter Mann in Wintermantel, Schal und Mütze. Mit der rechten Hand stützte er sich auf einen Stock, mit der linken hielt er den Griff eines ausgebeulten Koffers fest umschlossen. Sein Kopf wackelte unaufhörlich.

„Meine Tochter kommt mich holen“, sagte er mit brüchiger Stimme, die Augen fest auf den Ausgang gerichtet. Verena lächelte ihm zu.

Als sie vor der Tür mit der Aufschrift Sekretariat Heimleitung standen, klopfte Verena an, öffnete die Tür und ließ Willsch den Vortritt. Dann standen sie in einem knapp bemessenen, quadratischen Raum. Eine rote Plastikmohnblume in einer schlanken Vase auf dem Schreibtisch bildete neben dem bunten Sommerkleid der Frau, die jetzt hinter dem Schreibtisch hervorkam und auf Verena und Willsch zuging, den einzigen Farbtupfer im Einheitsgrau des Mobiliars. Ihre klobigen Turnschuhe standen in krassem Kontrast zu ihrem Kleid, das muskulöse Waden umspielte. Sie mochte kaum älter als 30 sein.

„Manchmal muss es schnell gehen“, sagte die Frau lächelnd, als sei es ihr mittlerweile zur Routine geworden, die Turnschuhe immer und immer wieder erklären zu müssen. „Wenn einer unserer Bewohner ausbüchst, müssen wir ihn einholen, bevor er die Straße erreicht. Für einen Zaun fehlt leider das Geld. Ich heiße Anita Mockenhaupt und bin die Sekretärin von Frau Irmscher, der Heimleiterin.“

„Reiner Willsch. Und das ist meine ... Chefin. Kriminalhauptkommissarin Verena Paul.“

Frau Mockenhaupt nickte lächelnd, während sie den Telefonhörer abnahm und der Heimleiterin den Besuch ankündigte.

„Frau Irmscher bittet Sie herein“, sagte sie und legte auf. Dann ging sie auf eine weitere Tür zu, öffnete sie und ließ die beiden in das Büro ihrer Chefin eintreten.

Eine Frau in den Fünfzigern in eng anliegendem Kostüm und Pumps, aus denen die Füße herausquollen wie Muffins aus der Backform, kam ihnen entgegen. Ihr Händedruck war kurz und kräftig. Ihre Körpersprache wirkte kontrolliert und auf das Nötigste reduziert.

„Ich bin nicht begeistert über das, was Sie vorhaben“, sagte Frau Irmscher, als sie wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte. „Sie erwähnten bereits am Telefon einen anonymen Brief, der angeblich hier aus dem Haus kommen soll?“

„Richtig“, antwortete Verena. „Er enthält recht konkrete Details, sodass wir der Sache nachgehen müssen. Mein Assistent wird sich völlig unauffällig verhalten.“

„Haben Sie Erfahrung in der Altenpflege?“, fragte sie Willsch nun direkt.

„Ich habe meinen Zivildienst in einem Altersheim gemacht. Ist allerdings schon einige Jahre her“, entgegnete Willsch.

„Zur besseren Plausibilität sagen wir, dass er eine Strafe absitzen muss, die in Sozialstunden umgewandelt wurde. Klingt logisch und erklärt seine mangelnden Sachkenntnisse“, sagte Verena. „Es kann doch nur in Ihrem Interesse sein, dass wir die Sache aufklären, falls was dran ist. Oder möchten Sie weitere Todesfälle riskieren?“

„Dürfte ich den Brief lesen?“, fragte Frau Irmscher, anstatt zu antworten.

Verena nahm das Schreiben aus ihrer Tasche – Ruben hatte sie im Auto gelassen – und schob es über den Tisch.

Während die Frau las, zog sie die Brauen zusammen und bewegte kaum merklich die Lippen. Als ihr Kopf in einer kurzen, ruckartigen Bewegung hochfuhr und ihre Augen sich für Sekundenbruchteile weiteten, war sie auf die Namen der Verstorbenen gestoßen, wie Verena annahm.

„Das kann ich nur als hanebüchen bezeichnen“, sagte Frau Irmscher, als sie den Brief auf den Tisch zurücklegte und ihn von sich wegschob, als könne sie sich so auch von seinem Inhalt distanzieren. „Ich kann Ihnen versichern, dass bei keinem der drei hier genannten Todesfälle irgendetwas nicht gestimmt hat.“

„Dann dürfte ein Blick in die Krankenunterlagen kein Problem für Sie sein.“ Verena nahm den Brief und steckte ihn in die Tasche zurück.

„Die Schweigepflicht erlischt nach dem Tod eines Patienten nicht automatisch. Sie gilt posthum. Ich muss mich also zuerst mit den Angehörigen in Verbindung setzen. Es sei denn, Sie haben eine richterliche Verfügung.“

„Hätten wir eine richterliche Verfügung, hieße das, die Sache läge bereits bei der Staatsanwaltschaft – mit allen Konsequenzen für Sie und Ihr Haus. Aber so weit möchten wir im Moment noch nicht gehen.“

Verena lehnte sich zurück und versuchte einen gönnerhaften Blick.

Nachdem Frau Irmscher für einige Sekunden Verenas Blick standgehalten hatte, nahm sie einen Stift und schrieb etwas auf einen Notizblock.

„Ich werde dafür sorgen, dass Sie ...“, hier hob sie den Kopf und sah zu Willsch, „in den nächsten Tagen die Unterlagen einsehen können. Meine Sekretärin wird Ihnen Bescheid geben, wenn es so weit ist. Sie ist als Einzige in die Angelegenheit eingeweiht. Ich muss aber darauf bestehen, dass Sie die Akten nach der Arbeit und hier in den Büroräumen lesen. Das ist meine Bedingung.“

„In Ordnung.“ Willsch nickte.

„Melden Sie sich morgen früh um sieben bei Schwester Klara. Sie ist die Stationsleitung der 2A. Ihrer Station. Und der Station, auf der die drei im Brief erwähnten Senioren gelegen haben. Arbeitskleidung bekommen Sie von uns.“ Mit geübtem Blick überflog sie Willschs Gestalt und nahm den Telefonhörer von der Gabel. „Sorgen Sie dafür, dass morgen früh zwei Garnituren Arbeitskleidung Größe XXL auf der 2A bereitliegen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie wieder auf. „Ich erwarte eine professionelle Einstellung. Sie fügen sich reibungslos in unseren Ablauf und folgen den Anweisungen der Stationsleitung.“

Willsch nickte.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte er.

„Ich mache mir keine Sorgen! Sie werden sehen, die Sache wird sich in Luft auflösen.“ Frau Irmscher erhob sich und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. „Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich habe noch zu tun.“

Verena und Willsch standen ebenfalls auf und verließen den Raum, nachdem sie Frau Irmscher die Hand gegeben und sich bedankt hatten. Sie durchquerten das Büro der Sekretärin, die in ihrem farbenprächtigen Sommerkleid wirkte wie ein Schmetterling, der sich in der Jahreszeit geirrt hatte. Im Foyer stand der Alte in Mantel und Schal noch immer am Treppengeländer und hielt den Koffer fest umklammert.

„Sie wird gleich da sein“, sagte er, als Verena und Willsch an ihm vorbeigingen. Im Hinausgehen hörten sie die Stimme der Sekretärin, die in beruhigendem Ton auf den Alten einsprach: „Gehen wir in den Frühstücksraum, Herr Schultheiß. Sie haben noch nichts gegessen. Ihre Tochter findet Sie dort auch.“

Zurück auf dem Parkplatz, öffnete Verena beide Türen ihres Käfers, um die Hitze entweichen zu lassen, die sich trotz der einen Spaltbreit geöffneten Fenster im Wageninneren angesammelt hatte. Ruben lag auf der Rückbank und schlief.

„Man kann diesen Einsatz auch als eine Art Abwechslung im Polizeialltag betrachten“, sagte Verena wenig später zu Willsch, als sie auf der Marktstraße stadteinwärts fuhren. ‚Und als Sprungfeder aus deiner Trägheit’, ergänzte sie im Geiste, sprach es aber nicht aus.

„Ich habe fest vor, es genauso zu sehen, Chefin“, gab Willsch zurück.

Sie kamen nur im Schritttempo voran. Weiter vorne war das Blaulicht eines Polizeiwagens zu sehen.

„Da muss es gekracht haben“, sagte Willsch.

Verena nickte.

„Es würde mich interessieren, warum Sie Polizist geworden sind“, sagte sie nach einer Weile. Ihr war klar, dass diese Frage – für sich betrachtet ohne besondere Brisanz – angesichts seiner körperlichen und geistigen Trägheit, die ihm selbst sicher auch bewusst war, eine indiskrete Frage war. Eine Frage, die geeignet war, mangelnden Respekt zu signalisieren. Und doch war es in diesem Moment pures Interesse, das Verena antrieb.

Sie drehte den Kopf zu ihm herüber und begegnete seinem Blick. In seinen buschigen Augenbrauen fanden sich erste Grautöne. Sein Haar, das kaum zwei Zentimeter lang war, hüllte seinen Kopf in einen goldgelben Schimmer. Über seiner Oberlippe glänzte ein Heer von Schweißperlen.

„Sie hätten mich vor 25 Jahren sehen sollen. Ich war schlank, drahtig. Auf Zack, wie man so schön sagt“, gab er zurück und sah wieder auf die Straße, wo die Autofahrer begannen, sich in die rechte Spur einzufädeln, da weiter vorne ein Polizeiwagen die linke blockierte. Diejenigen, die mit sturem Blick die Einfädelversuche der Linksfahrenden vereitelten, wurden von jenen angehupt, die sich durch das Reißverschlusssystem nicht übervorteilt fühlten und den Nutzen aller längst erkannt hatten.

„Aber wenn Sie mich so direkt fragen ...“, fuhr Willsch fort, nahm dabei ein Taschentuch aus der Hosentasche und fuhr sich über Stirn, Oberlippe und Kinn, „... ich bin in einem ‚Weiberhaushalt’ groß geworden.“ Er lächelte. „Mutter. Tante. Drei Schwestern. Alles schön und gut. Ich will nicht klagen. Aber irgendwann braucht man den Gegenpart. Ob Sie’s glauben, oder nicht. Ich habe mich nach einer Männerwelt gesehnt. Nach echten Kerlen.“ Er steckte das Taschentuch wieder in die Hosentasche und rückte den Sicherheitsgurt zurecht. „Meine Mutter hat mich umsorgt, behütet, war immer für mich da. Sie hat mich nie zu etwas gezwungen.“ Willsch schwieg für einen Moment, sprach dann weiter: „Ein bisschen mehr Nachdruck hier und da hätte mir bestimmt nicht geschadet. Beim Bund haben sie mich dann ausgemustert. Ich weiß nicht mehr, warum. Hab’s wahrscheinlich verdrängt. Und so bin ich bei der Polizei gelandet.“

Verena dachte an ihre eigenen Anfänge. Durch ihre stattliche Körpergröße, die wohl auf eine gewisse Wehrhaftigkeit schließen ließ, war sie zwar keinen größeren Repressalien ausgesetzt gewesen. Doch kannte sie auch Fälle, bei denen es Kolleginnen erheblich schwerer hatten, sich zurechtzufinden.

Willsch schüttelte den Kopf, als er weitersprach: „Und was soll ich sagen? Mit der Zeit gingen mir meine Geschlechtsgenossen gehörig auf die Nerven mit ihrem ständigen Kräftemessen, mit ihrem gockelhaften Benehmen, mit dem Was-mich-nicht-umbringt-macht-mich-härter-Gehabe. Ich fand das ziemlich armselig.“

„Warum sind Sie geblieben?“

„Ich wollte mich durchbeißen. Wollte nicht aufgeben. Nicht so schnell jedenfalls. Ich hatte den Polizeiberuf zwar gründlich unterschätzt, zugegeben. Aber für einen Absprung fehlte mir dann doch der Mut. Und so bin ich geblieben. Und mittlerweile sind drei Jahrzehnte vergangen. Es sind ja auch immer mehr Frauen in die sogenannte Männerwelt vorgedrungen und haben uns ein wenig domestiziert.“

Verena grinste, während sie den Blinker setzte, um in die rechte Fahrspur einzufädeln. Gerade hatte sich eine Lücke aufgetan.

„Und heutzutage hat so manch eine ihren männlichen Mitstreitern den Rang abgelaufen und ist ihnen zumindest in Sachen Strenge ebenbürtig“, meinte Willsch und sah seine Chefin grinsend an.

Verena überging seine Anspielung und überlegte stattdessen, ob sie ihn auf seine Arbeitsleistung ansprechen sollte, auf seinen mangelnden Ehrgeiz, sein uninspiriertes Wesen. Doch sie ließ es. Besser, sie machte das später in einem offiziellen Mitarbeitergespräch. „Sie scheinen einiges aus sich herausgeholt zu haben“, sagte sie nur. „Meinen Sie, es ist noch Luft nach oben?“

,A bisserl was geht immer’, pflegte der Monaco Franze zu sagen.“

„Wer?“

„Der ewige Stenz. Kennen Sie den nicht? Eine tolle Serie in den 80ern. Mit Helmut Fischer.“

Verena nickte. „A bisserl was geht immer.“

Im Schritttempo näherten sie sich der Unfallstelle. Ein Fiat stand entgegen der Fahrtrichtung auf der Straße und wies im Heck einen gewaltigen Blechschaden auf. Lediglich durch eine Schramme am vorderen Stoßdämpfer als Kontrahent auszumachen, stand eine Limousine hinter dem Kleinwagen. Ein Uniformierter, der gerade dabei war, mit Kreide die Stellung der beiden Autos zueinander auf den Asphalt zu zeichnen, grüßte Verena, als er sie sah.

Zurück im Büro, wartete Benno bereits auf ihre Rückkehr. Er sagte, dass sie gleich einen Termin beim Chefredakteur der Lokalzeitung hätten. Bei einem gewissen Herrn Krautacker.

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