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„Jetzt ist er aufgewacht. Wenn Sie auch so unrund gehen“, sagte Benno vorwurfsvoll, während Ruben blinzelnd seinen Kopf aus der Tasche streckte.

„Keine Woche könnt ich hier wohnen. Da! Erst fünf Schritte, aber schon die achte Platte. Wie soll man da zurechtkommen?“

Verena hatte – mit verkürzter Schrittlänge – vor Benno die Haustür erreicht. Agnes Eisele, las sie auf dem unteren Klingelknopf, und auf dem darüberliegenden Winter. Hier klingelte sie.

„Es gibt halt keine Harmonie mehr auf dieser Welt, gell, Ruben“, sagte Benno, während er den Kopf des Hundes streichelte, der, statt zu antworten, mit einem Satz aus der Tasche sprang und auf einen Wacholderbusch zulief.

Verena fiel zuerst die birnenförmige Körperform des Mannes auf, der jetzt in der offenen Haustür stand. Birnen – Herbst – Winter. Könnte funktionieren.

„Sie sind Herr Winter?“, fragte sie.

Der Mann nickte.

„Kripo Reutlingen. Wir haben ein paar Fragen an Sie.“ Mit vorgehaltenem Ausweis trat Verena näher an ihn heran.

„Worum geht’s?“ Winter wich keinen Millimeter zur Seite.

„Wir ermitteln in einer Mordsache. Es sind nur ein paar Fragen.“

„Eine Mordsache?“ Winter zog die Augenbrauen hoch, nickte und bedeutete mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Er ging voran in die erste Etage, wo sich seine Wohnung befand. Das spärliche Mobiliar aus Chrom und Leder strahlte eine wohltuende Kühle aus. Den freien Blick auf kahle Wände störte lediglich ein Regal, das außer einer Handvoll Bücher nichts enthielt. Wiglaf ging zum Fenster, zog die Jalousien hoch und öffnete es. Er beugte sich hinaus und rief: „Wirst du wohl verschwinden!“

Verena schaute Benno vorwurfsvoll an.

„Total vergessen“, murmelte der und lief hinaus.

„Ist Wiglaf Winter Ihr richtiger Name?“, fragte Verena. Stabreime machen misstrauisch.

„Ein Pseudonym. Mein richtiger Name ist ... Detlef Wengerter. Aber wie klingt das im Zusammenhang mit sublimen Versen?“

Da Verena nicht annahm, dass Winter eine Antwort erwartete, hob sie lediglich die Augenbrauen.

Dann saßen sie sich auf der Couchgarnitur gegenüber. Verena spürte das kühle Leder durch den Stoff ihrer Hose.

Die Wohnung eines Schriftstellers hatte sie sich anders vorgestellt.

Schon eher hätte sie Hildebrandts Zeitschriften- und Bücherchaos erwartet. Dieser farblose, kühle Raum hier erinnerte an das Innere eines Iglus. Und Wiglaf Winter – hellhäutig, gut im Futter und tapsig – an einen Eisbären.

„Ich trenne Wohn- und Arbeitsbereich strikt“, sagte Wiglaf, der Verenas Blick aufgefangen hatte.

„Verstehe“, sagte Verena. „Können Sie von Ihrer Schreiberei leben?“

„Meine Karriere steckt in den Startlöchern und wartet nur auf den richtigen ... Impuls.“

„Also nein.“

„Es reicht, um die Miete zu bezahlen.“

„Und wovon leben Sie, wenn ich fragen darf?“

„Sagten Sie nicht, es gehe um Mord?“

„Klaas Hildebrandt, Kulturredakteur bei der Lokalzeitung, wurde gestern Morgen tot aufgefunden.“

Wiglaf nahm die Nachricht ungerührt auf. „Ich kann nicht sagen, dass ich besonders betrübt bin“, sagte er. „Aber was hab ich mit der Sache zu tun?“

„Im Moment klopfen wir lediglich sein Umfeld ab. Reine Routine. Wie gut kannten Sie ihn?“

„Überhaupt nicht. Ich könnte nicht mal sagen, wie er aussieht ... oder besser: aussah. Bis auf diese unverschämten, ja fast schon rufschädigenden Kritiken hatten wir keinerlei Verbindung. Werden denn die Redakteure nicht auf ihre Tauglichkeit geprüft, bevor man sie ...“

„Hatten Sie nach Ihrer Lesung vorgestern Kontakt mit ihm?“

„Ich sag doch, dass ich ihn nicht kannte“, gab Wiglaf unwirsch zurück. „Sein Glück, dass er sich mir nie vorgestellt hat, ich hätte sonst für nichts garantiert.“

Wiglaf hatte die Fäuste geballt. Und in diesem Moment schien ihm ein Licht aufzugehen. „Sie glauben doch nicht im Ernst, ich hätte mit dieser Sache etwas zu tun? Schauen Sie ...“ Er streckte seine Hände aus, die Finger waren unerwartet schlank. „Diese Finger können nichts als schreiben. Ja! Wenn Worte töten könnten, dann hätte ich es wohl getan.“

„Sie haben mir noch nicht gesagt, wovon Sie leben, Herr Wengerter“, sagte Verena unbeeindruckt.

Wiglaf ließ die Hände sinken und steckte sie in die Hosentaschen, als jemand mit dem Schlüssel die Wohnungstür öffnete. Eine junge Frau von auffallender Schönheit kam herein. Ihr Haar, weich und glänzend wie Chiffon, umrahmte in sanften Wellen ihr ebenmäßiges Gesicht, das aus Porzellan zu sein schien. Ruben, den sie auf dem Arm trug, ließ sie nicht aus den Augen. Hingebungsvoll schleckte er ihr Kinn.

„Guck mal, Schbatz, so einen möcht ich auch!“, rief sie.

Benno, der hinter ihr die Wohnung betreten hatte, nahm ihr Ruben vom Arm und setzte ihn in die Tasche. Ruben knurrte leise.

„Darf ich vorstellen“, sagte Wiglaf, „Beatrice Kracht, meine Lebensgefährtin. Wir wohnen hier zusammen, und ... sie unterstützt mich. Auch finanziell, um endlich Ihre Frage zu beantworten.“

Jetzt saßen sie sich zu viert gegenüber.

„Was machen Sie beruflich, Frau Kracht?“, fragte Verena.

„Die sind von der Polizei, Bea-Darling, die dürfen das fragen“, sagte Wiglaf, der an ihrem Gesichtsausdruck abzulesen schien, dass sie gar nichts verstand.

„Ich arbeite im Spendhaus. Als Assistentin des Museumsleiters. Und zeitweise im Sekretariat. Na ja, und manchmal helf ich in der Verwaltung aus.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Zu mehr hat’s nicht gereicht nach dem abgebrochenen Musikstudium.“

„Wo waren Sie in der Nacht von vorgestern auf gestern?“, fragte Verena und sah abwechselnd Wiglaf und Beatrice an.

„Das war der Abend meiner Lesung“, sagte Wiglaf, „die übrigens nicht so schlecht war, wie’s die Mäkelschrift glauben machen möchte. Die Zuhörer waren ergriffen von der Atmosphäre, die meine Gedichte gezaubert hat. Es war totenstill, alle lauschten gebannt ...“

„Nach Ihrer Lesung?“

„Nach der Lesung sind wir in die Bier- und Weinakademie gegangen. Wir haben einen Schwarzwurstsalat mit Bauernbrot gegessen und ein Bier dazu getrunken.“

„Wer ist wir?“, fragte Benno.

„Frau Eisele hat Beatrice und mich begleitet. Sie ist meine Agentin. Ihr gehört auch das Haus. Sie hat ihre Wohnung und ihr Büro im Erdgeschoss. Über Hildebrandts Kritiken hat sie sich genauso geärgert. Von übelster Sorte und ...“

„Wie ging’s dann weiter an dem Abend?“ Verena sah Benno an, der nickte und die Wohnung verließ.

„Um drei viertel zwölf haben wir die Wirtschaft verlassen und sind zu Fuß nach Hause gelaufen. Es ist nicht bei einem Bier geblieben. Erfolg will gefeiert werden, versteht sich.“

„Ja, versteht sich. Wie kommt’s, dass Sie im Haus Ihrer Agentin wohnen?“

„Das hat sich so ergeben. Unsere damalige Wohnung in der Bahnhofstraße war zu klein, und diese hier wurde gerade frei, und so sind wir eingezogen. Natürlich zahlen wir Miete. Und wenn der Erfolg sich zuweilen nicht ... in barer Münze auszahlt, kommt Agnes uns ein bisschen entgegen.“

„Wie ging der Abend weiter?“

„Kurz nach Mitternacht waren wir zu Hause, und jeder ist in seine Wohnung gegangen, Agnes in ihre und wir in unsere.“

Wiglaf nickte seiner Freundin zu, die still neben ihm auf dem Sofa saß.

„Alles war so, wie du gesagt hast, Schbatz“, sagte sie.

Ruben bellte zweimal.

„Entschuldigen Sie“, sagte Verena und holte ihr Handy aus der Tasche.

„Wir kommen, Doc“, sagte sie und steckte das Handy zurück.

Unten im Garten traf sie auf Benno, der inzwischen mit der Agentin gesprochen und den Ablauf des Abends mehr oder weniger identisch geschildert bekommen hatte.

„Könnte mir einen besseren Platz zum Lesen vorstellen als in einem Auto in praller Sonne“, sagte Benno, als sie sich auf den Weg in das Pathologische Institut machten. Er wies mit dem Kinn auf den Kleinwagen, der mit geschlossenen Fenstern unweit am Straßenrand stand und in dem eine Frau in ihr Buch vertieft zu sein schien, das vor ihr auf dem Lenkrad lag. Ihren Kopf hatte sie auf beide Hände gestützt, das Gesicht war nicht zu sehen. Für einen Moment hob sie jetzt den Blick, um sofort wieder in ihr Buch zu versinken.

„Merkwürdig allemal. Vier Meter weiter hinten hätte sie Schatten“, sagte Verena stirnrunzelnd.

Als sie den Wagen erreicht hatten, richtete die Fremde sich auf und sah Verena ins Gesicht. Mit Augen wie aus Porzellan: undurchdringlich, starr, ... entseelt.

Trotz der herrschenden Hitze fröstelte Verena plötzlich.

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