Читать книгу Mitgift - Heidrun Scholz - Страница 8
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ОглавлениеAls Wiglaf Winter vier Stunden zuvor den schweren Vorhang einen Spaltbreit öffnete, um einen Blick in den kaum besetzten Zuschauerraum zu werfen, konnte einer der dort Sitzenden noch nicht ahnen, dass sein Leben in vier Stunden zu Ende sein würde. Er hätte sie möglicherweise dazu genutzt, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen oder sein Testament zu machen, vielleicht galt es, jemanden um Verzeihung zu bitten oder etwas zu gestehen. So aber wartete er in zurückgelehnter Haltung und mit ausgestreckten Beinen darauf, dass sich der Vorhang öffnete.
‚Noch zwei Minuten. Es können immer noch Leute kommen‘, dachte Wiglaf Winter, als er seinen Blick über die spärliche Zuschauermenge schweifen ließ.
Links in der zweiten Reihe sah er Beatrice, Bea-Darling, wie er sie nannte.
Beatrice, die ihren Kopf langsam wendete, um so zu tun, als schaue sie auf die Uhr, die im hinteren Teil des Raumes schräg unter der Decke hing. Doch wusste er, dass sie sich unauffällig einen Überblick über die Zuschauermenge verschaffte, mit einem kummervollen Zug um den Mund.
‚Keine Sorge, Darling, die wenigen werden begeistert sein. Lieber fünf, die meine Kunst würdigen, als fünfzig Kretins.‘
Von Anfang an war Wiglaf nicht mit dem Vorschlag einverstanden gewesen, die Lesung in der Aula des Gymnasiums, das im Spitalhof untergebracht war, zu veranstalten; zu groß, zu nüchtern, zu wenig würdevoll. So kommt vielleicht noch ein bisschen Laufkundschaft dazu, denk an die zentrale Lage, hatte Agnes, seine Agentin, entgegengesetzt. Willst du etwa durch Hinterzimmer tingeln?
Und wie meistens hatte Agnes sich durchgesetzt.
Agnes, die Wert darauf legte, dass das „gn“ in ihrem Namen weich gesprochen wurde – wie in „Cognac“.
Agnes, die neben Beatrice saß und ihr den Ellenbogen in die Seite stupste, damit diese den Blick fest nach vorn richtete, scheinbar unbeeindruckt vom ausbleibenden Publikum.
Zeitgleich mit einem durchdringenden Hupton, der die Anwesenden daran erinnerte, dass sie sich in einer Schulaula befanden, und der Wiglaf körperlichen Schmerz bereitete, kam noch ein greises Paar herein, das sich zuerst unschlüssig den Stuhlreihen näherte und dann neben einem Mann mittleren Alters in Jeans und zerschlissenem Jackett Platz nahm. Der Mann hing mit ausgestreckten Beinen im Stuhl. Seine nackten Füße steckten in Sandalen.
Wiglaf schloss den Vorhang. Nervös ging er auf und ab, rieb sich die kalten Hände und dehnte die Finger, bis sich die Gelenke durch Knackgeräusche in Erinnerung riefen.
‚Wenn nur die Presse da ist. Sie braucht nur endlich mein Genie zu erkennen, mehr nicht‘, dachte er, blieb dann in der Mitte der Bühne stehen, nahm einen tiefen Atemzug, schaute nach rechts und nickte. Der Vorhang teilte sich in der Mitte und ging in ruckartigen Bewegungen auf. Schütterer Applaus setzte ein. Wiglaf trat an den Tisch, auf dem sich ein Buch, eine Flasche Wasser und ein Glas befanden, räusperte sich kurz, und als der Applaus abebbte, begann er seine kleine Ansprache:
„Schönen guten Abend, liebes Publikum. Ich begrüße Sie ganz herzlich zu meinem heutigen Lyrikabend.“
Wie zum Gebet legte er die Handinnenflächen aneinander.
„Sie werden heute Abend Zeugen einer Premiere sein. Ich lese zum ersten Mal aus meinem Gedichtband Der bestellte Acker und wo zum Teufel bleibt Godot. Und Sie sind dabei!“
Er breitete die Arme aus.
Er sah, wie Agnes entsetzt die Augen schloss und Beatrice ihn anhimmelte.
„Sie werden meine Seele darin finden“, fuhr er fort.
Er deutete eine Verbeugung an und machte eine abwehrende Handbewegung, als zögernd geklatscht wurde.
„Der bestellte Acker und wo zum Teufel bleibt Godot ist eine Trilogie, die ...“
In diesem Moment wurde geräuschvoll die Aulatür geöffnet. Eine überaus hochgewachsene, hagere Frau kam herein. Leicht geduckt ging sie mit kleinen, schnellen Schritten auf den nächstbesten Stuhl in der letzten Reihe zu und setzte sich.
Wiglaf hob die Augenbrauen, schüttelte dann kaum merklich den Kopf und setzte seine Ansprache fort.
Während er sprach, war es im Zuschauerraum totenstill. Der Mann ohne Socken schrieb etwas auf einen Block. Wiglaf bildete sich ein, das Kratzen des Bleistifts auf dem Papier hören zu können.
,Der ist sicher von der Presse! ʼ
„Jetzt will ich Sie nicht länger auf die Folter spannen!“, schloss er seine Rede, machte ein paar Schritte zurück und setzte sich auf den Stuhl, der in dem Moment ächzte. Dass Agnes ihm ständig in den Ohren lag, weniger Prosecco zu trinken, ging ihm durch den Kopf, und dass elegantere Körperformen seinen Genius besser unterstreichen würden. Wiglaf schüttelte die Gedanken ab, setzte die Brille auf und begann zu lesen:
„Ein helles Lächeln, dünn wie Pergament,
das die Wendeltreppe der Gezeiten
auf und nieder rennt – alles fließt – alles bleibt ...“
Völlig in seinen Text vertieft, bemerkte er nicht die fragenden Blicke, die durch den Raum huschten wie Blätter im Herbstwind und hier und da einander trafen. Er sah nicht die beiden Alten, die an ihren Hörgeräten fingerten, nicht den zornigen Blick der hageren Frau, der dem Mann galt, als dieser mit Block und Bleistift in der Tasche seiner abgewetzten Jacke vorzeitig den Saal verließ.
Nach dem letzten Satz hob Wiglaf langsam den Kopf und kehrte in die Gegenwart zurück. Er stand auf und verneigte sich.
Verhaltener Applaus!
Dass ihr Stuhl in der letzten Reihe wieder leer war, beruhigte ihn. Aber leider fehlte auch der Mann ohne Socken!
Die Gelegenheit, vom Künstler signierte Werke zu erwerben, nahm niemand wahr, was Wiglaf einigermaßen verärgerte. So viel Zeit konnte man sich auch als viel schaffender Schwabe doch wirklich nehmen.