Читать книгу Mitgift - Heidrun Scholz - Страница 16
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ОглавлениеSie drückte auf REC.
„Wo bist du? Quäl mich nicht so lange. Ich muss dich sehen ... Ach, wie soll ich die Zeit überstehen, bis du wieder ... Ja, glaube es nur, bis du wieder ... bis wir wieder vereint sind. Du glaubst es nicht? Du wirst sehen.“
Sie drückte auf STOP.
Sie zupfte die hartnäckig klebenden Zelltuchfasern von der Haut, die das Papiertaschentuch beim Abwischen des schweißnassen Gesichts hinterlassen hatte. Im Rückspiegel kontrollierte sie das Ergebnis.
Sie drückte auf REC.
„Welcher Teufel hat dich bloß geritten, in diese spießige Gegend zu ziehen? Wie ausgestorben. Totenstill. Du brauchst Inspiration, Liebster. Anregungen. Eine Umgebung, die deinem Genie entspricht ... Verdammte Brut!“
Sie drückte auf STOP.
Eben waren Schulkinder der nahe gelegenen Waldorfschule lärmend an ihrem Auto vorbeigerannt und hatten sich in die umliegenden Häuser verteilt. Von irgendwoher kam Schlagermusik. Ein Hund kläffte. Klara öffnete das Fenster der Beifahrertür in der Hoffnung auf einen Luftzug, doch die Hitze im Wageninneren stand heiß und flirrend.
Sie nahm ein Buch aus dem Handschuhfach und schlug es auf.
Sie drückte auf REC.
„,Im Schimmer der Endlichkeit verlass ich dich nimmer, so brüchig die Zeit, oh Heiterkeit.’ Meisterlich!“
Sie drückte auf STOP.
Sie griff hinter den Sitz, holte eine Sprudelflasche hervor und nahm einen kräftigen Schluck. Die Kohlensäure trieb ihr Tränen in die Augen. Ein leiser Rülpser entwich ihren Lippen.
Sie drückte auf REC.
„,Das Zeitliche meint das Göttliche und weiß doch um die zerfallenden Früchte.’ ... Wiglaf ...“
Sie drückte auf STOP.
Sie wischte mit dem Ärmel ihrer Bluse die Tränen ab, als sie eine Frau und einen Mann auf Wiglafs Haus zugehen sah. Die Frau war hochgewachsen und hatte strohblondes Haar. Aus ihrer Umhängetasche ragte ein Hund heraus. Der Mann, einen halben Kopf kleiner, in Hemd und Krawatte, sah aus wie aus dem Katalog. Er folgte der Frau durch Wiglafs Garten und sprach mit dem Hund in der Handtasche. An der Haustür angekommen, drückte die Frau auf den Klingelknopf, woraufhin Wiglaf die Haustür öffnete.
Sie drückte auf REC.
„Da bist du! Ich sehe dich. Sehe dich deutlich vor mir. Nur ein paar Schritte trennen uns, Wiglaf, die zu gehen weder dir noch mir schwerfallen würden. Und doch ... bist du so weit ... Jetzt bist du mit diesen Leuten im Haus verschwunden. Warum kann ich nicht durch Wände sehen? Du bist da, bist in meiner Nähe ... Ich spüre dich ...“
Sie drückte auf STOP.
Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Sie drückte auf REC.
„,Sind Sie auch Literatin?’ Das waren deine ersten Worte, die du zu mir gesprochen hast, mit deiner einschmeichelnden und, jaa ... auch erwartungsvollen Stimme. Nach dieser Lesung vor genau vier Jahren, acht Monaten und neunzehn Tagen ... Als ob es gestern gewesen wäre. Der Schlussapplaus war gerade verebbt. Das Licht war angegangen. Meine Augen hatten sich noch nicht an die Helligkeit gewöhnt. Und ich blickte in ein hellblaues Augenpaar, ich sah dein Grübchen am Kinn, wie ich ein hinreißenderes noch nicht gesehen hatte. Und alles war verschwommen, bis auf deine Augen und dein Grübchen.
Unglaublich, Liebster! Da hast du die ganze Zeit neben mir gesessen und ich habe nichts gespürt. Kein Kribbeln. Keine sachten Stromstöße. Keinen Hauch von Ahnung, dass mein Leben gerade im Begriff war, sich von Grund auf zu verändern.
‚Nun. Ich selbst mache gerade meine ersten Gehversuche als Lyriker. Kleine Gedichte über das Leben. Über das Sein an sich. Nichts Besonderes ... eigentlich’, hast du gesagt, und: ‚Aber ... auch nicht so schlecht.’ – ‚Nein, ich mache nicht in Literatur’, hab ich dir geantwortet, Wiglaf. Allmählich bekam die Umgebung wieder Konturen. Und deine Augen und dein Grübchen einen dazugehörigen Leib. Und ich schwöre dir, Wiglaf, es hat mir nichts ausgemacht, dass du eine winzige Idee kleiner warst als ich. Und dass du, sagen wir mal, etwas füllig warst ... Aber dann hast du dich verabschiedet. ‚Na dann, bis vielleicht irgendwann einmal’, hast du gesagt. Was sollte das heißen? Ich hatte hinter dir hergerufen. ‚Warten Sie! Vielleicht könnten wir ... einen Kaffee trinken ... gehen?’ Doch du hast dich nicht mehr umgedreht, hast abgewunken. – ‚Was machst du da? Läufst einem Wildfremden hinterher? Halb so alt und halb so groß wie du? Bist du noch bei Trost?’ Ich schwöre dir, Wiglaf, als ich das gedacht hatte, als du so ... entschlossen von mir weggingst ... Ich hab’s nicht so gemeint, Liebster.
‚Ich bin sicher, Ihre Gedichte sind hinreißend und ... genial’, hab ich dir auch hinterhergerufen ... Und dann, mein Leben, bist du stehen geblieben. Hast dich umgedreht. Hast mich angeschaut. Mit deinen wunderbaren Augen hast du mich angeschaut und gesagt: ‚Sie kennen mich doch gar nicht. Aber in der Tat – manchmal staune ich über mich selbst und kann kaum glauben, dass ich das geschrieben haben soll.’ Ich weiß es noch wie heute. Und dann hast du noch gesagt: ‚Auf einen Kaffee?’“
Sie drückte auf STOP.
Und lächelte.