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Kapitel 8

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Als Sarah die Tür zu ihrer Wohnung aufsperrte, war sie so müde, dass sie mehrere Anläufe brauchte, bis sie das Schloss endlich aufbekam. Sie wankte in den Flur, warf die Haustür mit einem lauten Knall, der ihr selbst nur gedämpft bewusst wurde, hinter sich zu und begab sich ohne weitere Umstände in ihr Schlafzimmer. Es hatte keinen Zweck, sich in ihrem Zustand noch weitere Gedanken zu machen. Erst einmal brauchte sie ein wenig Schlaf. Im letzten Moment dachte sie daran, sich ihren Wecker zu stellen, um nicht den ganzen Tag zu verschlafen und dann vollends die Tage und Nächte durcheinanderzubringen. Vier Stunden Schlaf sollten genügen. Dann würde sie sicher irgendwie bis zum Abend durchhalten und sich anschließend zu einer normalen Uhrzeit schlafen legen können.

Als der Wecker Sarah nach vier Stunden aus einem traumlosen Schlaf riss, überdachte sie griesgrämig ihre zuvor so vernünftig klingende Entscheidung. Hätte sie nicht einfach den ganzen Tag verschlafen und dafür die nächste Nacht durcharbeiten können? Es fiel ihr überraschend schwer, aufzustehen, um sich mit diesem neuen Tag abzugeben, aber sie riss sich zusammen und quälte sich stöhnend aus dem Bett – nichts, was eine ausgiebige Dusche und eine heiße Tasse schwarzer Kaffee nicht wieder in Ordnung bringen könnten!

Eine halbe Stunde später stand Sarah barfuß und mit nassen Haaren, nur eingehüllt in ihren abgetragenen dunkelgrünen Bademantel, vor den Notizen ihres Großvaters. In der Hand hielt sie eine dampfende Tasse Kaffee, dessen wohltuender Duft schon ausreichte, damit ihre Lebensgeister, nun ja, zumindest die Nasen unter der Bettdecke hervorstreckten.

Sarahs Blick hing an dem ersten Zettel, auf dem genau die Sätze standen, die sie in dem kleinen versteckten Raum inmitten der Universität so deutlich vor sich gesehen hatte. Die junge Frau nahm einen vorsichtigen Schluck von dem heißen Kaffee und wandte sich der nächsten Notiz zu.

Weltenschreiber sind alles,

stand dort in der Schrift ihres Großvaters,

- die Muse, der Wind, der die Harfe spielt, das innere Auge,

der Traum, die Eingebung.

Aber sie sind noch mehr. Sie schreiben selbst.

Über Gefühle, Gegebenheiten, Gespräche, Gedanken.

Es scheint, als würden sie schreibend das Schicksal

beeinflussen.

Zum Guten oder zum Schlechten?

Sarah las die Worte, die sie schon so oft gelesen hatte. Sie waren der Grund dafür, dass sie sich mit solch langweiligen Büchern wie der Biographie von Lizzy Körner herumschlug. Nicht, dass die ihr irgendwie weiter geholfen hätte. Aber die Frau war nun einmal der festen Überzeugung, dass irgendjemand ihr Schicksal bestimmte. Und Sarah – auf der Suche nach den Weltenschreibern, die ihr Großvater in seinen Notizen erwähnte – fühlte sich bemüßigt, der Sache nachzugehen. Diese Frau hatte demjenigen, der angeblich ihr gesamtes Leben lenkte, sogar einen Namen gegeben: Clifford. Sarah grinste belustigt. Als hätte eine Muse, ein Weltenschreiber, solch einen gewöhnlichen Namen!

Sie nippte erneut an ihrem Kaffee und blieb vor der Notiz stehen, während sich ihre Gedanken verselbständigten. Das, was ihr Großvater da aufgeschrieben hatte, brachte sie nicht weiter. Gut, sie hatte jetzt eine ungefähre Ahnung von dem, was ein Weltenschreiber vielleicht war. Na ja, auch das war schon übertrieben. Sie wusste ja nicht einmal, ob hier überhaupt noch von einem Menschen die Rede war. Vielleicht war das Ganze auch eine unsichtbare Macht, eine Droge, ein Außerirdischer?

Sarah seufzte. Sie kam einfach nicht weiter. Und dieses Mal fiel es ihr leicht, sich einzugestehen, dass das auch vorher bereits der Fall gewesen war. Die Notizen ihres Großvaters hatten vor einem halben Jahr ihr Interesse geweckt und ihr die Hoffnung vermittelt, sie könnte vielleicht herausfinden, was aus ihm geworden war. Was ihm zugestoßen war. Aber – Fehlanzeige!

Erst während der vergangenen Nacht war sie zufällig auf etwas gestoßen, das sie tatsächlich einen Schritt weitergebracht hatte. Und das – ganz nebenbei – neue Fragen aufgeworfen hatte. Was war das für eine Karte, die sie in dem kleinen versteckten Raum abgemalt hatte? Wo kam dieser Raum überhaupt auf einmal her? Wer hatte ihn genutzt? Und wer hatte in den Bibliotheksbüchern Hinweise darauf hinterlassen, was mit ihm geschehen war? Was wollte er damit bezwecken? Dass man ihn fand? Aber einen Hinweis auf den Verbleib des Gefangenen hatte Sarah beim besten Willen nicht entdecken können!

Wieder entrang sich ein Seufzer ihrer Brust. Sie nahm einen weiteren Schluck von dem Kaffee und verzog angewidert das Gesicht. Großartig! Jetzt hatte sie bei all den Überlegungen ihren Kaffee kalt werden lassen! Sie stand vor den Notizzetteln ihres Großvaters und spürte, wie die Sinnlosigkeit ihrer Überlegungen sie zu übermannen drohte. So kam sie nicht weiter! Sie würde sich anziehen und einen Spaziergang machen. Vielleicht konnte sie so wieder Ordnung in ihre Gedanken bringen!

Sarah verließ das Haus und wandte sich in Richtung des kleinen Parks, der in der Nähe ihrer Wohnung für ein bisschen Grün inmitten der Pariser Innenstadt sorgte. Der Tag war grau. Gegen ein Uhr hatte es geregnet und nun wehte ein ungemütlicher Wind, den Sarah insgeheim begrüßte, da er dafür sorgte, dass sie den kleinen Park fast für sich hatte.

Im geschäftigen Pariser Treiben fristete die unscheinbare grüne Oase ein Schattendasein. Sarah aber war das egal. Ihre Fantasie reichte aus, um sich aus dem kleinen Park einen natürlichen Rückzugsort zu basteln, in dem sie zusammen mit ihren Gedanken frei sein konnte. Den sie jetzt brauchte, um wieder mit ihren belastenden Überlegungen ins Reine zu kommen. So wurde aus dem lärmenden Verkehr, der sich mühsam unter der Brücke hindurchbewegte, die Sarah passieren musste, um in den Park zu gelangen, ein rauschender, lebendiger Fluss.

Tief in Gedanken versunken überquerte die junge Frau den Fluss, der sich gnadenlos durch den pulsierenden Pariser Tag schlängelte, mithilfe der massiven Steinbrücke, die sich aufrecht über dem sich windenden Wasser hielt.

Sarah musterte geistesabwesend den wolkenverhangenen Himmel. Obwohl noch nicht spät, schaffte es der grau bedeckte Tag, einen abendlichen Eindruck zu vermitteln.

Sie betrat den Park. Ihr Blick wanderte über das hohe Gras, das den Fußweg zu beiden Seiten umgab. Obwohl erst Juni, war es kein frisches, helles Grün mehr. Diese Wiesen waren bereits einige Male abgemäht worden und hatten sich jedes Mal aufs Neue mühsam wieder aufrichten müssen. Ihre Erschöpfung und Verärgerung ob dieser Ungerechtigkeit des Lebens sah man den dunkelgrünen und braunen Gräsern an.

Sarahs Gedanken spiegelten die grau verhangene und untätige Müdigkeit des Tages wider. Sie kämpfte innerlich mit dem dritten Notizzettel ihres Großvaters. Zuerst hatte sie den gar nicht aufhängen wollen. Aber irgendwie hatte sie doch das Bedürfnis dazu verspürt. Er gehörte nun einmal dazu. Genau wie die ersten beiden Blätter die kuriosen, zeitraubenden Studien ihres Großvaters wiedergaben, die Suche nach dem Gefangenen und die Frage nach der Existenz der Weltenschreiber, drückte der dritte Zettel das aus, was ihrem Großvater durch seine Studien verloren ging. Nein, berichtigte sich Sarah insgeheim, es ging ihm nicht verloren. Es war ganz allein seine Entscheidung gewesen. Er hatte sich dazu entschlossen, auf seine Familie, sein Leben, zu verzichten. Ihr, seiner Enkelin, hatte dieses dritte Blatt die meisten Schwierigkeiten bereitet. Denn es hatte die Frage aufgeworfen, was ihr Großvater eigentlich für ein Mensch gewesen war. Eigentlich war es erst dieses dritte Papier gewesen, das Sarah dazu verleitet hatte, die Zettel aus dem Archiv der Universitätsbibliothek zu entwenden und mit der Suche nach ihrem Großvater zu beginnen. Dabei standen auf dem Blatt Papier nur drei Worte:

Liebe Marie, verzeih.

Sarah hatte die Zettel zu spät gefunden. Ihre Großmutter war vor fünf Jahren gestorben und konnte ihrem Mann nicht mehr verzeihen. Ob sie dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre, wusste Sarah nicht. Aber sie selbst, mit ihrer Distanz zu den Geschehnissen in der Vergangenheit, mit ihrer Sehnsucht nach einem Menschen, der ihr ähnlich war und der sie verstand, hatte beschlossen, ihrem Großvater zu verzeihen. Und ihn zu suchen.

Unversehens sah sich Sarah aus ihrer Gedankenwelt gerissen. Die hohen Gräser, die sie blicklos angestarrt hatte, erwachten so plötzlich zum Leben, dass ihre ahnungslose Beobachterin erschrocken zusammenfuhr. Ein Flügelpaar, dann das nächste. Und auf einmal hatten sich wie auf Kommando hunderte Vögel aus dem hohen Gras erhoben und flatterten wie eine einzige riesige Wolke aus kleinen befiederten Körpern über das Land. Zogen kreischend ein paar Kreise und landeten in wortloser Übereinkunft nur ein paar Meter von ihrem vorherigen Startplatz entfernt.

Sie verschwanden so plötzlich zwischen den grünen Halmen, wie sie zuvor aufgetaucht waren. Sarah stand da und starrte auf die nun wieder leblos daliegende Landschaft – den Fußweg gesäumt von braun-grünen Frühsommerwiesen.

Aber sie ließ sich nun nicht mehr täuschen. Der ihr gegönnte Blick hinter die Kulissen hatte ihr gezeigt, dass diese Landschaft keineswegs so leblos war, wie sie es den eilig vorbeigehenden Menschen weismachen wollte. Nichts war so, wie es schien.

Als Sarah in ihre Wohnung zurückkehrte, hatte sie zwar noch immer keine Ahnung, wie ihre Suche weitergehen sollte, aber sie hatte ihre Gedanken wieder unter Kontrolle. Und sie war vernünftig genug, mit sich selbst einen Kompromiss zu schließen. Nach den Hinweisen der vergangenen Nacht würde sie die Suche nach ihrem Großvater doch noch nicht aufgeben. Aber sich selbst aufgeben würde sie auch nicht. Sie wollte, dass ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief. Sie musste sich darüber klar werden, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Welcher Arbeit sie nachgehen wollte. Was sie dann in ihrer Freizeit trieb, war allein ihre Sache. Und wenn sie – statt joggen zu gehen oder sich mit Freunden auf ein Eis zu treffen – lieber in alten Büchern seltsamen Hinweisen über den Verbleib ihres Großvaters nachjagte, dann war das ihre Entscheidung und ging niemanden etwas an.

Zufrieden mit sich selbst und ihrem vernünftigen Kompromiss, machte sich Sarah sogar daran, die Küche in ihrer kleinen Mansardenwohnung aufzuräumen. Sie war gerade dabei, ein paar überaus unappetitliche Essensreste zu entsorgen, als es an ihrer Wohnungstür klingelte.

//Es hatte einen Weg gefunden. Zumindest glaubte es das. Sein Geist war nicht mehr so zuverlässig wie einst. Dinge, Gefühle, Worte die es gestern noch kannte, hatte es heute vergessen. Alles floss ineinander, vermischte sich und trennte sich anders, als es ursprünglich gewesen war. Worte verbanden sich, die nichts miteinander zu tun hatten. Sätze tauschten ihren Platz ohne Rücksicht auf den sich dadurch verändernden Inhalt zu nehmen. Schwierig, in einem solchen Zustand seine Sinne beisammen zu halten und nach einer Möglichkeit zu suchen, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Schwierig. Aber nun hatte es einen Weg gefunden. Zumindest glaubte es das.//

Der Weltenschreiber

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