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Kapitel 5

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Schon als Kind lernt man einige elementare Regeln für das tägliche Überleben. Schau nach beiden Seiten, bevor du über die Straße gehst. Leg dich in der Schule nicht mit den Größeren an. Finger weg von Drogen. Und lass niemals, niemals einen Fremden in deine Wohnung.

Vielleicht war es weingetränkter Fatalismus, der Matthew dazu brachte, letztere Regel zu ignorieren. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er die letzten vier Monate sowieso mit einer scheinbar völlig Fremden zusammengelebt hatte.

Matthew hatte nicht lange nachgedacht, bevor er ihn hierher gebracht hatte. Er hätte den Mann natürlich in ein Krankenhaus bringen können, aber es schien ihm weiter nichts zu fehlen. Die Polizei wollte er ebenso wenig rufen. Der Fremde wirkte leicht desorientiert, aber nicht auf eine bedenkliche Art – er konnte geradeaus laufen, deutlich sprechen und wusste zumindest, dass er in Paris war. Wie alt mochte er sein? Vielleicht fünfzig? Egal, auf alle Fälle wirkte er altmodisch. Er erinnerte Matthew an die Leute aus den verstaubten Politik-Gesprächsrunden im Fernsehen der Siebziger, die beige gemusterte Anzüge trugen, dazu überdimensionierte Brillen mit ständig kränklich wirkenden gelbgetönten Gläsern, und bei denen die bemitleidenswerten Kameraleute sich stets heroisch bemühten, die dicken Nebelbänke aus Zigarettenrauch im Studio überhaupt zu durchdringen.

Entscheidend war, dass der Mann sich viel zu schnell für irgendein Alter bewegt hatte. Nur Sekunden, bevor Matthew aufstand, war er nirgendwo in der Nähe der Bank zu sehen gewesen. Er war förmlich aus der Sitzfläche gewachsen. Das allein genügte, um Matthews Interesse zu wecken. Sein Job war ihm unwichtiger als jemals zuvor – hier gab es ein Rätsel zu lösen. Er konnte wahrlich etwas Abwechslung gebrauchen.

Matthews Wohnung lag in Petit-Montrouge, gerade fünfzehn Minuten Fußweg von der Bank entfernt. Es war eine Altbauwohnung im dritten Stock eines ruhigen Hinterhauses. Der Weg führte durch einen Innenhof, in dem sich Unkraut einen unablässigen Kampf mit den steinernen Bodenplatten lieferte und zwei längst reifenlose Fahrräder selig vor sich hin rosteten, während sie von besseren Zeiten träumten. Hinter der schweren Eingangstür führte eine enge Treppe nach oben. Essensgeruch hing in dem dunklen Flur.

Eigentlich konnte Matthew Altbauwohnungen nicht ausstehen. Selbst bei voll aufgedrehter Heizung schienen sie im Winter niemals richtig warm zu werden und die hohen Decken ließen jeden Raum wesentlich schmaler und enger erscheinen, was bei ihm regelmäßig ein beklemmendes Gefühl hervorrief. Irgendjemand auf Matthews Abschiedsfeier in London hatte behauptet, solche Wohnungen wären très chic und würden den Bewohner als dynamisch und geschmackvoll auszeichnen. Der selbe Jemand hatte auch behauptet, Prag sei die Hauptstadt Bulgariens. Nach allem, was Matthew wusste, war dieser Jemand ein Vollidiot.

Als er die Tür öffnete und nach ein paar Schritten das halbleere Wohnzimmer betrat, kroch Ernüchterung in sein Bewusstsein. Mary hatte ihren Auszug schnell und gründlich abgewickelt. Einer der beiden grauen Sessel war ebenso verschwunden wie die zwei Stehlampen und die Vorhänge. Statt des Regals, in dem sie ihre wenigen Bücher und CDs aufbewahrt hatte, stand nur ein schiefer Stapel alter Zeitschriften neben dem Sofa. Und ohne nachzusehen hatte er die Gewissheit, dass sie die exakte Zahl an Getränkegläsern mitgenommen hatte, die beim Einzug in ihren Kartons gewesen waren.

Matthew bat den Fremden, auf dem Sofa Platz zu nehmen und ging in die Küche. Er zog eine Flasche Wasser aus dem Korb neben dem Kühlschrank und holte ein Glas aus dem Schrank. Fast wieder im Flur, drehte er sich noch einmal um, streckte seinen Arm zum obersten Fach des Hängeregals und tastete das Brett ab. In der hintersten Ecke fand er tatsächlich noch eine Packung Kekse, bekam sie mit zwei Fingern zu greifen und balancierte sie langsam über den Handrücken auf sichere Höhe. Er war überzeugt, dass er einen bescheuerten Anblick lieferte, aber gemessen an der Menge des konsumierten Weins kam er sich doch recht geschickt vor.

Im Wohnzimmer saß der Fremde auf dem Sofa und blickte das gegenüberliegende Regal mit den verbliebenen Büchern an. Matthew stellte alles auf dem Tisch ab und goss seinem Gast ein Glas Wasser ein. Der Mann dankte ihm, hob das Glas an den Mund und nahm einen Schluck. Er verharrte einen Augenblick, stürzte das restliche Wasser dann aber gierig in einem Zug hinunter und stellte das Glas auf die Tischplatte.

»Das ist ganz sicher das Beste, was ich seit langer Zeit getrunken habe«, sagte der Mann lächelnd. Er schenkte sich selbst ein weiteres Glas ein, ließ es aber noch auf dem Tisch stehen.

»Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, Monsieur. Ich hätte wirklich nicht gewusst, wo ich hin sollte.«

»Gern geschehen«, antwortete Matthew und ließ sich in dem verbliebenen Sessel nieder. Nachdem er sich selbst etwas Wasser eingeschenkt hatte, beugte er sich vor, zog den Aschenbecher vom anderen Ende des Tisches zu sich heran und begann, in seiner Tasche nach den Zigaretten zu wühlen. »Übrigens, ich heiße Matthew Harlington.«

»Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt.« Der Mann lachte. »Da lassen Sie mich in Ihre Wohnung und kennen nicht einmal meinen Namen. Ich bin Henri Dupoit.«

Matthew fand die Zigaretten, zog eine aus der etwas zerknüllten Packung und zündete sie sich an. Er lehnte sich zurück. »Stammen Sie aus Paris?«

»Ja. Ich wohne nicht weit von hier, auf der anderen Seite der Seine.« Seine Stirn legte sich in Falten, als ob ihm gerade ein rätselhafter Gedanke in den Sinn kam. »Genaugenommen wohnte ich da«, fuhr er fort. »Entschuldigen Sie, aber welches Jahr haben wir?«

Matthew verschluckte sich an dem Wasser, das er gerade trinken wollte. Der folgende Hustenanfall bewahrte ihn zumindest davor, sofort antworten zu müssen. War der Mann vielleicht doch nicht mehr ganz richtig im Kopf? Oder hatte sich das Leben gerade in einen Science-Fiction-Film verwandelt? Matthew erwartete fast, dass Dupoit ihn als nächstes nach Sarah Connor fragen würde.

»Ist das Ihr Ernst?«, entfuhr es ihm, und noch im selben Augenblick biss er sich auf die Lippe und bereute die Frage. »Ich meine: Wissen Sie das nicht? Können Sie sich nicht erinnern?«

»Nein, leider nicht.« Dupoit wirkte keinesfalls gekränkt. Wahrscheinlich hatte er solch eine Reaktion erwartet. Das sprach zumindest dafür, dass er nicht völlig verrückt sein konnte.

»Es ist 2012.« Matthew warf einen Blick auf die Datumsanzeige seiner Uhr. »Mittwoch, der 6. Juni, um genau zu sein«, fügte er hinzu.

Der nachdenkliche Ausdruck in Dupoits Augen wich nun blankem Entsetzen. »Mein Gott«, flüsterte er und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. »Dreißig Jahre schon.«

Nun beugte Matthew sich vor. »Was meinen Sie?«, fragte er.

Der Mann blickte auf. Er war merklich bleich im Gesicht und konnte kaum verbergen, dass ihm Tränen in den Augen standen. Als er sprach, klang seine Stimme plötzlich sehr brüchig.

»Ich kann Ihnen das nicht erzählen. Sie werden es mir sowieso nicht glauben.« Seine Lippen zitterten leicht. »Ich kann es ja selbst kaum glauben.«

Jetzt wollte Matthew die Geschichte natürlich unbedingt hören. »Nun, nach dem, was ich die letzten Tage durchgemacht habe«, sagte er, »bin ich mir sicher, dass mich nichts mehr wirklich schockieren wird.« Er musste unwillkürlich lächeln. Erinnerungen blitzten auf, wie seine Mutter ihm Lewis Carroll vorgelesen hatte, als er noch klein war. »Und sollte man nicht noch vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge glauben?«

Matthew meinte, ein leichtes Lächeln um Dupoits Mund spielen zu sehen. Zumindest wirkte er jetzt nicht mehr so, als ob er jeden Augenblick bewusstlos werden könnte.

»Nun, vielleicht schulde ich Ihnen tatsächlich eine Erklärung. Vor dem Morgen kann ich sowieso nichts unternehmen.« Er zögerte. »Aber sind Sie sich da ganz sicher? Es wird lange dauern.«

Matthew lehnte sich wieder zurück und lachte. »Wissen Sie, mein Leben hier hat sich sowieso schon in Nichts aufgelöst. Meine Freundin ist weg und mit ihr auch mein kleiner Freundeskreis hier, auf den wird sie nämlich genauso Anspruch erheben wie auf ihre scheußliche Bettwäsche. Morgen werde ich also meinen furchtbaren Job kündigen. Ich werde alles packen, meine Erinnerungen an diese Stadt so gut wie nur möglich begraben und den Umzug nach London vorbereiten.« Oh ja, in eine moderne Wohnung mit niedrigen Decken und einer echten Heizung.

Er schlug die Beine übereinander und zündete sich noch eine Zigarette an.

»Was mich angeht – ich habe die ganze Nacht Zeit.«

***

Über dem weiten Hügelland versinkt die Sonne allabendlich mit der Konsequenz eines wiederkehrenden Traumes. Die wenigen Wolken glimmen in zarten Rottönen vor einem Himmel, dessen klares Blau sich dunkelnd der Nacht entgegenschleicht. Die ersten Sterne stehen schon hoch, aber ihre Konstellationen sind ihm vollkommen unbekannt.

Von einer Anhöhe aus – seiner Anhöhe, denn er sitzt hier an jedem einzelnen dieser unzähligen Abende – beobachtet er, wie der Nebel über die hohen Gräser zieht und die Ruine eines kleinen Turmes erreicht. Er war nur ein einziges Mal zu diesem Turm hinabgestiegen, im freundlichen Licht eines Vormittags, nachdem der Nebel versunken und die Sicht wieder klar war. Aber es war tatsächlich nur eine Ruine. Das Dach war längst eingefallen und bis auf einige faulende Holzmöbel konnte er nichts hinter den bröckelnden Mauern finden. Die Zeit hatte gleichgültig an Steinen und Holz gearbeitet. Und das an einem Ort, an dem es sonst keine Zeit zu geben scheint. Wie lange ist er schon hier? Und was genau bedeutet hier?

Abgesehen von dem Turm gibt es keine Gebäude in der Umgebung. Er hat viele ausgedehnte Wanderungen unternommen, aber stets darauf geachtet, bei Einbruch der Nacht wieder auf der Anhöhe zu sein. Zwischen den Grashalmen zu sitzen, den Rücken an einen großen und angenehm flachen Stein gelehnt, gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit, das er auf seinen Erkundungsgängen niemals spürt. Seltsam in diesem kargen und so leeren Land.

Der Wind frischt auf und es wird merklich kühler. Er würde gerne ein Feuer machen, aber es gibt in der näheren Umgebung kein Holz und den Turm möchte er nicht noch einmal betreten. Er tröstet sich mit dem Gedanken, dass er sowieso keine Streichhölzer hat. Sicher, er könnte lernen, wie man ein Feuer auf andere Art entfachen kann. Zeit genug hätte er.

Es gibt auch kein Essen oder wenigstens Wasser. Seit er hier ist, plagen ihn ein nie gekannter Hunger und Durst, auch wenn es seinem Körper nichts auszumachen scheint, dass er weder das eine noch das andere stillen kann. Manchmal – wenn er Glück hat an zwei, drei Tagen die Woche – regnet es, und obwohl er durchnässt noch stärker friert, öffnet er begierig den Mund, um wenigstens den schlimmsten Durst zu löschen. Wenn er doch nur ein paar Eimer oder Flaschen hätte ...

Alte Zeilen kommen ihm in den Sinn: ein gemaltes Schiff auf einem gemalten Ozean. Der sanfte Wind täuscht nicht über die Flaute hinweg.

Die Nächte sind lang unter dem unbekannten Sternenhimmel. Allein der Alabastermond wirkt vertraut, auch wenn er jede Nacht als Vollmond kommt und nur eine flache Bahn über den Himmel zieht, niemals hoch über dem Horizont. Er verbringt die dunklen Stunden mehr dämmernd als schlafend, mit halbgeöffneten Augen in den Himmel blickend, wo sich manchmal eine Sternschnuppe zeigt, silbern blitzend oder in einem kräftigen Jadegrün. Dann sinkt er etwas tiefer in den Halbschlaf, während er auf den Morgen wartet.

Er ist allein und ohne Kompass.

Der Weltenschreiber

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