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Erster Teil - Paris

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2012

Kapitel 1

Das durchdringende Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Oder aus ihrem Schlaf? Sarah war sich nicht sicher. Ihr Kopf fühlte sich schwer an. Ob das in ihm aufgestaute Wissen daran schuld war? Die Biographie, die sie sich am vorherigen Tag zu Gemüte geführt hatte, war nicht unbedingt das gewesen, was sie als leicht verdauliche Kost bezeichnen würde. Andererseits konnte natürlich auch die Flasche Rotwein an ihrem vernebelten Verstand schuld sein. War es wirklich nur eine Flasche gewesen? Fast kam es ihr so vor, als hätte sie eine zweite geöffnet...

Das Läuten des Telefons verstummte und Sarah seufzte erleichtert auf. Wohlig ließ sie sich in die Kissen zurückfallen und begann, in einen neuen Traum abzudriften. In dem Traum klingelte das Telefon. Sarah fuhr zusammen. Nicht schon wieder! Wieso ließ man sie nicht einfach in Ruhe schlafen? Es konnte doch noch nicht so spät am Tag sein, oder? Sarah stellte insgeheim fest, dass sie im Laufe der letzten Tage – oder Wochen? – jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Sie öffnete mühsam ihre Augen und wurde mit einem grellen Licht belohnt, das es ohne Zweifel darauf abgesehen hatte, ihr für immer das Augenlicht zu rauben. Rasch ließ sie ihre Lider wieder zufallen und fühlte Erleichterung, als sie sich erneut der friedlichen Dunkelheit anvertrauen konnte. Wenigstens wusste sie jetzt, dass es in der Welt dort draußen Tag war.

Das nervtötende Klingeln des Telefons verstummte abermals, doch mit Sarahs innerer Ruhe war es vorbei. Nun lag sie angespannt im Bett und wartete nur darauf, dass das Läuten ein drittes Mal begann. Lange dauerte es nicht, dann erklang der rhythmische grelle Ton, der ihre Nackenhaare zu einem zitternden Tanz veranlasste, erneut. Sarah biss die Zähne zusammen. Das war es also mit ihrem Schlaf! Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sich dieser Anrufer nicht zufrieden geben würde, bis sie ihm persönlich gesagt hatte, was sie von dieser penetranten Störung und unerwünschten Einmischung in ihr gewohntes Einsiedlerdasein hielt.

Mit einem leichten Stöhnen richtete sich Sarah auf, strich sich ungeduldig die langen braunen Haare aus dem Gesicht und versuchte ihr Glück ein weiteres Mal mit dem grellen Licht, das durch ihr unverhülltes Schlafzimmerfenster drang. So viel Licht ... wie lange war es her, dass sie so viel Licht gesehen hatte? Wann war sie überhaupt das letzte Mal dort draußen gewesen? Nur gut, dass sie nun immerhin wusste, worauf sie sich einzustellen hatte. Sie war vorgewarnt. Und so schaffte sie es auch, die Augen einen Spalt breit zu öffnen. Diese Welt dort draußen war wirklich anstrengend; stellte ständig Ansprüche an sie und setzte sie Zwängen aus, die sie sich geschworen hatte, nicht weiter zu befolgen. Sarah runzelte missmutig die Stirn.

»Zu viel negative Energie am Morgen!«, entschied sie insgeheim. Jetzt brauchte sie erst einmal dieses verflixte Telefon!

Sie stolperte durch ihr Schlafzimmer, stieg vorsichtig über aufgeschlagene und durcheinander geworfene Bücher und betrat den Flur ihrer kleinen Wohnung. Dort, auf dem Tischchen neben der Garderobe, stand das Telefon. Zumindest stand es normalerweise dort. Jetzt allerdings war auf dem Tischchen nur ein weiterer Bücherstapel immerhin recht ordentlich drapiert. Sarah starrte ihn einen Augenblick lang verwirrt an. Dann registrierte sie etwas. Waren das die Memoiren von Lizzy Körner, die sie schon so lange gesucht hatte? Irgendetwas hatte sie darin nachschlagen wollen. Was war das noch gleich gewesen? Das durchdringende Läuten des Telefons, nein, der Basisstation, die auf dem Boden hinter dem Tischchen stand, riss sie aus ihren abschweifenden Gedanken. Wo zum Teufel war nur der dazugehörige Telefonhörer?

Sarah hielt einen Moment lang inne und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das Telefon zuletzt gebraucht hatte. Die Vermutung lag nahe, dass sie damit eine Pizza oder irgendein Nudelgericht bestellt hatte. Vielleicht auch asiatisch? Wieder ertappte sie ihre Gedanken dabei, wie sie sich verselbständigten und sich eigene, unabhängige Wege suchten. In ihrem Verstand musste es genauso chaotisch aussehen, wie in ihrer kleinen Mansardenwohnung. Seufzend schüttelte Sarah den Kopf. So kam sie nicht weiter. Stattdessen würde sie den Telefonhörer eben auf die altmodische Art suchen – nach dem Gehör und ohne dabei ihr Gehirn unnötig zu beanspruchen.

Sie wandte sich in dem kleinen Flur nach links und verhielt kurz vor der Tür zum Badezimmer. Alles ruhig. Dann blieben das Wohnzimmer und die Küche. Falls sie den Hörer tatsächlich im Wohnzimmer suchen musste, würde sich das überaus schwierig gestalten. Das Wohnzimmer war der Raum, in dem dieses ganze Chaos seinen Anfang genommen hatte. Dementsprechend sah es dort am Schlimmsten aus. Die gestapelten Bücher waren ein Anblick, den man in der ganzen Wohnung genießen konnte. Aber hier kamen noch scheinbar sinnlos durcheinander geworfene Zeitungen hinzu. Zwischen denen wiederum lagen handbeschriebene, lose Notizzettel. Sarah überlegte angestrengt. Hatte sie nicht auch einmal ein Notizbuch besessen? Sie erinnerte sich vage daran, dass ihr das Buch irgendwann zu klein geworden war und sie in ihrer Eile, verschiedene Dinge schriftlich festzuhalten, damit begonnen hatte, einfach Blätter aus einem Block herauszureißen und ihre Notizen darauf festzuhalten. Allerdings waren diese losen Zettel nun in der gesamten Wohnung verteilt und sie würde Tage brauchen, sie alle wieder einzusammeln und entsprechend der Reihenfolge ihrer Nachforschungen anzuordnen.

Sarah schüttelte grinsend den Kopf. Sie war wirklich der chaotischste Mensch, den sie kannte! Ihr Blick glitt über leere bis halbvolle Kaffeetassen und blieb an diversen Pizzakartons hängen.

»Ich muss unbedingt ein bisschen Ordnung in dieses Durcheinander bringen!«, dachte sie nicht zum ersten Mal.

Es war nicht so, dass sie sich nicht nach einem aufgeräumten Wohnzimmer sehnte. Nach einem Wohnzimmer, in dem man sich die gemütliche Couch nicht mit diversem Schreib- und Papierkram teilen musste – immer vorausgesetzt, man fand das Sitzmöbel unter dem ganzen Durcheinander überhaupt! Aber Sarah wusste auch, dass sie in der näheren Zukunft nicht zum Aufräumen kommen würde. Stattdessen käme es irgendeinem wichtigen Buch genau in einem solch seltenen Moment der Arbeitswut und Motivation in den Sinn, ihr in die Hände zu fallen. Dieses Buch würde ihr dann weismachen, dass es genau das eine wäre, auf das sie die ganze Zeit gewartet hatte und das ihr die finalen Erkenntnisse liefern würde, die sie so unbedingt brauchte und schon so lange suchte! Das Buch würde sie auf die Art und Weise für einige Zeit so sehr fesseln, dass sie alles andere darüber vergaß. Anschließend würde sie genau im falschen Moment das nächste Buch finden, und das nächste ... Aber ihre Nachforschungen waren es doch auch wert, alles andere darüber zu vergessen! Oder? In letzter Zeit allerdings waren ihr Zweifel an dieser Ansicht gekommen. Immer häufiger meldeten sie sich zu Wort und es fiel Sarah zunehmend schwerer, sie wieder verstummen zu lassen.

Die junge Frau riss sich von diesen Gedanken los. Gott sei Dank entschloss sich das Telefon just in diesem Augenblick zu einem vierten Klingelmarathon und nahm ihr damit die Möglichkeit, im ewigen Kreislauf des Zweifelns und Mutfassens zu versinken. Für heute war sie gerettet. Und noch etwas Positives konnte sie feststellen. Das Klingeln des Telefonhörers kam eindeutig nicht aus ihrem Wohnzimmer. Demnach blieb nur noch die Küche.

Sie wandte sich zur letzten Tür und öffnete sie vorsichtig. Erleichtert stellte sie fest, dass das Chaos vor ihrer Küche zwar nicht Halt gemacht hatte, aber doch weit weniger ausgeprägt war als im Rest der Wohnung. Und das Klingeln wurde lauter. Sarah atmete hörbar auf, als sie den Hörer auf ihrem Kühlschrank liegen sah, neben einem Teller, dessen undefinierbaren Inhalt sie lieber nicht allzu genau betrachten wollte. Rasch griff sie nach dem Telefon und nahm den Anruf entgegen: »Sarah Leconte.« Ihre schon in natura recht raue Stimme klang nach der tagelangen Zwangspause noch kratziger als sonst. Im Hörer herrschte kurz Stille, wahrscheinlich hatte sie den Anrufer damit, dass sie ihn nun doch persönlich sprechen wollte, aus dem Konzept gebracht.

Dann hörte Sarah die aufgeregte Stimme ihrer Mutter: »Sarah, Schatz, wir haben uns Sorgen gemacht! Geht es dir gut?« Die so Angesprochene schloss ergeben die Augen und unterdrückte einen Seufzer. »Ja, Mutter, es geht mir gut. Es ist alles in Ordnung.«

»Wir haben dich nun schon seit drei Monaten nicht mehr gesehen!« Drei Monate war es also her, dass sie die Welt dort draußen besucht hatte? »Und vor zwei Wochen haben wir das letzte Mal telefoniert. Hast du etwa unsere Abmachung vergessen? Du wolltest dich doch jede Woche melden und dafür würden wir dich in Ruhe deiner Arbeit nachgehen lassen.«

Die Art und Weise, wie sie das Wort Arbeit sagte, verriet Sarah, dass sie dabei pikiert die Nase rümpfte. Die Arbeit. Damit war Sarahs Doktorarbeit gemeint, die sie momentan an der Universität bei Professor Valière verfasste. Nun ja, die sie dort bis zu jenem schicksalshaften Moment verfasst hatte, in dem ihre Nachforschungen begannen, sich um einen anderen, ihr wichtigeren Gegenstand zu drehen. Seitdem befand sich ihre Doktorarbeit, freundlich ausgedrückt, in einem Zustand des Kräftesammelns. Aber davon wussten weder ihre Mutter noch ihr Stiefvater. Sie würden es auch nicht verstehen. Es gab Momente, in denen verstand Sarah es selbst nicht.

Sie ließ ihre Mutter am anderen Ende der Leitung weiter reden, hörte mit halbem Ohr zu und versuchte hin und wieder, möglichst in den passenden Momenten, eine verständnisvolle Zustimmung in das recht einseitige Gespräch einfließen zu lassen. Mit dem Hörer ging sie gemächlich zurück in den Flur und dachte insgeheim darüber nach, welchem Teil ihrer Nachforschungen sie heute weiter nachgehen sollte. Den Nachforschungen, die hiermit begonnen hatten ...

Sarah blieb vor drei Bilderrahmen stehen, die ihren Flur schmückten. Die darin eingefassten Notizblätter erschienen widersprüchlich im Vergleich zu dem Chaos, das in ihrer restlichen Wohnung herrschte. Aber dem war nicht so.

Diese Notizen hatten ihre ganz eigene Bedeutung. Sie waren der Anfang. Der Beginn.

Und während Sarah versuchte, ihrer Mutter das Gefühl zu geben, dass mit ihrer Tochter alles in Ordnung wäre und sie ein ganz normales Gespräch führen würden, war sie mit ihren Gedanken schon wieder weit weg, bei den Notizen ihres Großvaters, die sie vor gut einem halben Jahr in der Universitätsbibliothek gefunden und heimlich entwendet hatte. Heimlich, weil sie wusste, dass die Seiten offiziell der Bibliothek gehörten, aber auch irgendwie trotzig, da diese Notizen ursprünglich von ihrem Großvater stammten und sie das Gefühl hatte, dass sie ihr als Erbin eigentlich zustanden. Der Ursprung ihrer Nachforschungen befand sich in diesen drei Bilderrahmen, die so trügerisch unscheinbar den sonst kargen Flur ihrer kleinen Wohnung schmückten.

Die junge Frau stand in ihrem T-Shirt und den Boxershorts in dem chaotischen Flur ihrer kleinen Mansardenwohnung. Ihr Kopf war den drei Bilderrahmen zugewandt, aber ihre Augen blickten weit weg ins Leere. Dort sahen sie Notizen, Schriften, Buchstaben, Bücher und Zahlen.

Sarah gönnte ihrer Mutter ein verständnisvolles Knurren.

//Etwas geschah, was nicht hätte geschehen sollen. Was nicht hätte geschehen dürfen. Etwas Böses war dort draußen. Es breitete sich aus und kam näher. Und näher. Langsam, aber stetig. Und bei weitem nicht so vorsichtig, wie es sich für das Böse eigentlich gehört hätte. Hier war keine Unsicherheit zu spüren, nur ein furchtbares Wissen um das eigene Können und viel Selbstbewusstsein. Überheblichkeit fast. Das Böse kam näher und entpuppte sich als einer der anderen. Er kam näher und war nicht aufzuhalten. Es versuchte, eine Verbindung mit seinem anderen Ich einzugehen, aber irgendwie wurde es von dem Eindringling daran gehindert. Es war allein und das Böse kam näher.//

Der Weltenschreiber

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