Читать книгу Der Weltenschreiber - Heike Schwender - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеAls Sarahs Telefon das nächste Mal klingelte, war sie gerade dabei, die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zu ziehen. Mit gerunzelter Stirn verhielt sie mitten im Schritt und starrte zurück in die läutende Wohnung. »Das darf doch nicht wahr sein«, dachte sie verärgert. Da hatte sie sich nun endlich dazu aufgerafft, ihre Wohnung zu verlassen und nun dachte dieses verflixte Telefon, es könne sie davon abhalten.
»Aber nicht mit mir!«, beschloss Sarah siegessicher, trat durch die Wohnungstür hinaus in das Treppenhaus und zog die Tür heftiger hinter sich zu, als nötig gewesen wäre.
Ihr Weg führte durch den nur spärlich beleuchteten Hausflur, während das Klingeln hinter ihr bei jedem ihrer Schritte leiser wurde und schließlich ganz verklang. Nachdem Sarah die weit ausladenden, knarzenden Holztreppen hinter sich gebracht hatte, stand sie im Erdgeschoss neben den säuberlich in einer Reihe befestigten Briefkästen. Nun trennte sie nur noch die zweiflügelige schwere Eingangstür von der Welt dort draußen. Sarah atmete einmal tief ein und wieder aus. Sie war wirklich schon zu lange nicht mehr hier gewesen.
Mit dieser gruseligen Feststellung griff sie nach dem goldfarbenen massiven Türknauf und zog die Eingangstür nach innen. Als sie so das letzte Hindernis aus dem Weg geräumt hatte, machte sie zwei große Schritte und stand in der Welt der Lebenden.
Die Welt der Lebenden begann in einem kleinen Nebensträßchen in Paris. Sarahs Wohnung lag zentral, aber ruhig in der Rue de Grenelle. Welchem glücklichen Umstand sie ihren bezahlbaren Mietpreis verdankte, wusste sie nicht. Im besten Fall war ihr Vermieter ein Philanthrop. Vielleicht war er aber auch nur äußerst zufrieden damit, eine derart ruhige Mieterin in einer seiner Wohnungen zu haben, die sich so gut wie nie außerhalb ihrer vier Wände blicken ließ.
Das Haus in ihrem Rücken, stand Sarah da und fühlte eine unerklärliche Angst in sich aufsteigen. So mussten sich Krieger gefühlt haben, die sich hinter ihren schützenden Barrikaden hervorwagten, um einem übermächtigen Feind entgegenzutreten. Sarah runzelte erneut die Stirn. Was zum Henker war nur los mit ihr? Wann genau hatte sie den Moment verpasst, in dem ihre Abneigung vor der hektischen Realität zu einem so starken Gefühl wie Furcht wurde? Fast schon wollte sie ob dieser Erkenntnis panisch werden, aber dann gab sie sich einen Ruck. Es half alles nichts. Sie musste sich diesen seltsamen Ängsten stellen. Es sei denn, sie hätte tatsächlich vor, den Rest ihres Lebens in ihrer kleinen Mansardenwohnung zu verbringen.
Sarah riss sich von dem Haus los, das ihr noch einen gewissen Schutz vor der wartenden Realität vorgegaukelt hatte, und ging die Straße hinunter in Richtung ihrer Universität.
Alles, was sie brauchte, war ein bisschen Zeit, um sich wieder in der eigentlichen Welt zurechtzufinden. Und um sich mit ihr abzufinden. Die Einsamkeit ihrer Wohnung schien sie in einem fast undurchdringlichen Kreislauf gefangen gehalten zu haben, aus dem sie nun erst wieder ausbrechen musste. Lange Zeit hatte sie sich vor der Welt dort draußen versteckt und zusammen mit unzähligen Büchern in ihrer Wohnung vergraben. Aber nun stand ihr Entschluss fest. Die Studien, die sie während der vergangenen Monate betrieben hatte, waren alle im Nichts verlaufen. Jetzt war es an der Zeit, sich wieder mit der Welt außerhalb ihrer vier Wände – ob sie damit ihre Wohnung oder ihren Verstand meinte, war Sarah selbst nicht ganz klar – zu befassen. Deshalb – zurück zu den Lebenden!
Sie verhielt ihren Schritt und sah sich um. Ihr Blick erfasste die lange, gerade Straße und die schnell an ihr vorbeirasenden Autos. Sie hörte euphorisches Gelächter und verfolgte es bis zu einer Gruppe Jugendlicher zurück, die inmitten des Gehwegs standen und sich unterhielten. Da waren Musikfetzen, die aus einer Seitenstraße drangen. Irgendwo vor ihr weinte ein Kind. Sie hatte ganz vergessen, wie laut und hektisch das eigentliche Leben war!
Ein raschelndes Geräusch machte sie auf den Wind aufmerksam, der neben ihr durch die Zweige eines Ahorns strich, der einer in Reih und Glied stehenden Ahornkompanie angehörte, die wohl dem grauen Gehsteig einen täuschend grünen Anstrich geben sollte. Eines der Ahornblätter löste sich vom Baum und segelte langsam nach unten. Sarah folgte dem herabfallenden Blatt mit den Augen. Es war ein seltsames Gebilde, das es nicht eilig hatte, seine Reise zu beenden und auf dem Boden der Tatsachen anzukommen. Kein einzelnes Ahornblatt, das zur Erde schwebte – stattdessen war es ein kleines Stückchen Ast, an dem noch zwei Ahornblätter saßen. Und diese Anordnung machte das Gebilde zu einer Kuriosität, die in unendlich langsamen Kreisen stetig tiefer sank. Immer rundherum. Rundherum. Tiefer und tiefer. Bevor es den Boden berühren konnte, wandte Sarah den Blick ab. Sie mochte den vorherbestimmten traurigen Ausgang dieses kreiselnden Dramas lieber nicht mitansehen. Zu sehr erinnerte er sie an ihr eigenes kleines Leben. Ihre eigenen kleinen Kreise.
Dieses Gebilde war anders. Aber dennoch würde es mit der gleichen unausweichlichen Gewissheit am Boden ankommen wie gewöhnliche Blätter, die der regelmäßig wehende Wind vom Baum rupfte. Nur ohne deren Leichtigkeit.
Sarah ließ ihren Blick über die Häuserzeile neben ihr gleiten. Die Gebäude waren fast durchgehend weiß gestrichen und strahlten eine renovierte Eleganz aus, die so manch anderem Häuserblock in dieser Gegend fehlte. Auch hier bestanden die Häuser weitgehend aus Wohnungen, nur im Erdgeschoss reihten sich mehrere Geschäfte aneinander. Sarah konnte ein kleines Café und ein Reisebüro ausmachen. Und dahinter – war das nicht eine Buchhandlung? Trotz ihres neu gefassten Vorsatzes, den Büchern keine so große Macht mehr über ihr Leben einzuräumen, fühlte sie sich von der Buchhandlung doch magisch angezogen. Die fünfzig Meter bis zu dem Schaufenster waren rasch zurückgelegt und sie sah hinein. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Eine von diesen Buchhandlungen war das also.
Sie starrte auf die Auslage, die aus nicht viel mehr bestand als dem derzeitigen Bestseller, der natürlich in den eindrucksvollsten Posen zwischen schreiend bunten Plakaten zur Geltung gebracht wurde. Den unschuldig vorbeigehenden Passanten wurde dabei eingetrichtert, dass an diesem Buch kein Weg vorbeiführte. Entweder sie ackerten sich von Anfang bis Ende durch, oder sie waren eben nicht auf dem Laufenden mit ihrer Belesenheit. Sarah beugte sich vor und las erschauernd den Titel des nicht allzu dünnen Wälzers: Das Dunkel der Finsternis.
Ihr höflich interessiertes Lächeln gefror zu einem ungläubigen Gesichtsausdruck. War das etwa ihr Ernst? Anscheinend. Und wie es aussah, verkaufte sich das Machwerk auch nicht schlecht. Oder warum wäre die Auslage sonst völlig frei von alternativen Werken? Eine eigenständig richtige Entscheidung im Sinne des Verkäufers schien man den Kunden hier nicht zuzutrauen.
Sarah spürte so etwas wie Trauer in sich aufsteigen. Ihr guter Vorsatz, sich künftig in weniger Büchern zu vergraben, begründete sich ausschließlich auf dem Wissen, dass sie sonst nicht wieder in diese reale Welt zurückfinden würde. Reiner Überlebensinstinkt. Aber es hatte nichts damit zu tun, dass sie Bücher nicht zu schätzen wüsste. Im Gegenteil – sie liebte Bücher! Aber sie liebte vor allem die Auswahl, die Möglichkeiten. Das nicht zu haben, hatte sie während ihrer Studien oft zur Verzweiflung getrieben. Vorgeschriebene Werke, in denen sie etwas zu finden hoffte, das sich nie blicken ließ. Was sie wollte, war eine komplette Buchhandlung voller Bücher, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Unbekannte, fantastische Welten, die sie vor ihrem geistigen Auge auferstehen lassen konnte. Abenteuer, Mysterien und ein romantisches Treffen mit jenem Fremden, den sie in der Realität bis heute noch nicht hatte finden können, aber von dem sie sicher war, dass er in den romantischen Passagen diverser Bücher auf sie wartete. Immer und immer wieder. Wann sie wollte. Wo sie wollte. Und wie sie wollte. Sarah lächelte.
Und sie erinnerte sich daran, warum sie eigentlich hier war. Hier, auf dem Gehweg vor diesem verstörenden Schaufenster. Hier, auf dem Weg zu ihrer Universität, um ihrem Professor mitzuteilen, dass aus ihrer Doktorandenkarriere nichts werden würde. Und wenn sie ehrlich mit sich selbst war, hätte ihr das eigentlich schon längst klar sein müssen. Ihr Promotionsthema hatte sie damals einfach allzu leicht ad acta gelegt und für etwas aufgegeben, das ihr wichtiger war. Unbestimmter. Zielloser. Aber wichtiger.
Sarah seufzte. Sie hatte das Gefühl, als bestünde ihr Leben aus unzähligen Abzweigungen, die sich aneinander reihten und von ihr Entscheidungen verlangten, die sie oft nicht zu treffen wusste. Und nach jeder Entscheidung taten sich neue Wahlmöglichkeiten auf, die sich der von ihr veränderten Wirklichkeit angepasst hatten. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Es war zu spät, um ihre Entscheidung für die Promotion rückgängig zu machen. Diese Abzweigung in ihrem Leben hatte sie genommen, war einige Zeit auf ihr entlanggegangen und dann abrupt auf einen anderen Pfad gewechselt, der ihre privaten Studien in den Mittelpunkt stellte. Dieser Pfad jedoch hatte sie auch nicht an das ersehnte Ziel gebracht. Welches Ziel?, fragte sich Sarah insgeheim. Hatte sie da überhaupt eines? Oder lag ihr Bestreben nur darin, ein lohnendes Ziel zu finden?
Stattdessen war sie auf diesem neuen, nicht unbedingt sehr gut ausgewiesenen kleinen Pfad immer im Kreis herumgelaufen, wie in einem Labyrinth ohne Ausweg. Und nun war sie unversehens auf ihren ganz persönlichen Minotaurus getroffen. Er hatte sie zum Anhalten gezwungen. Zum Nachdenken. In gewisser Weise hatte er ihr die Grenzen ihrer Suche aufgezeigt. Da stand sie nun also und versuchte, zu der Abzweigung von damals zurückzugelangen. Runter vom kreiselnden Pfad, die Promotionsstraße zurück und dann an der Kreuzung auf zu einer neuen Entscheidung! Keine weiteren Studien. Keine Doktorarbeit.
Sarah runzelte die Stirn, als sie in ihrem Bewusstsein auf Gedanken traf, die weniger euphorisch klangen und deshalb von ihr bis jetzt ausgeklammert und verdrängt worden waren. War sie sich denn wirklich sicher, dass sie mit dieser Entscheidung, die sie nun getroffen hatte, glücklich werden würde? Nicht ihre abgebrochene Doktorarbeit war das Problem. Aber das so rätselhafte Verschwinden ihres Großvaters beschäftigte sie immer noch. Egal wie sehr sie sich auch dagegen sträubte und versuchte, diesen Gedanken aus dem Weg zu gehen – was nicht leicht war, da sie nun einmal irgendwo in ihr selbst ihr Zuhause hatten. Und ihr Gewissen konnte sich einfach nicht so recht damit abfinden, dass sie die Suche nach ihrem Verwandten aufgeben und abhaken wollte.
Sarah stand versunken vor dem Schaufenster zu einer ihr unbekannten, oberflächlichen Welt und grübelte. Hatte sie denn die Suche wirklich einfach aufgegeben? Ihr kam es nicht so vor. Im Gegenteil – sie hatte viel Zeit mit einer Aufgabe verbracht, die ihr niemand aufgezwungen, aber zu der sie sich selbst verpflichtet gefühlt hatte. Nichts daran war einfach gewesen. Und einfach würde es jetzt auch nicht werden, wenn sie sich davon lossagte und Abstand von ihren Studien nahm. Aber ihr blieb keine Wahl. Wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie es nie tun! Schon jetzt würde es ihr verdammt schwer fallen, in ein möglichst normales Leben zurückzufinden. Je länger sie damit wartete, umso schwerer wäre es. Und nicht nur das. Sie konnte es sich auch einfach nicht länger leisten, völlig auf das Leben um sie herum zu verzichten. Nicht nur der emotionale Faktor – Sarah wusste, dass sie emotional ein Wrack war – spielte dabei eine Rolle. Auch ihre finanziell nicht mehr allzu rosige Lage fing an, ihr Sorgen zu bereiten.
Sarah stand inmitten des lärmenden Pariser Lebens auf dem unebenen Gehweg und starrte auf das knallig bunte Schaufenster der Buchhandlung, die nur diesen verflixten Bestseller ausstellte. In der Scheibe sah sie eine verwaschene Version ihres Selbst. Runzelte dieser Schatten tatsächlich die Stirn? Sarah seufzte. Ihr Leben war genau wie dieses Spiegelbild – nicht echt. Nur ein Abglanz von dem, was es sein könnte.
Am Ende wusste Sarah gar nicht, ob sie sich jemals wieder von dem Schaufenster der kleinen Buchhandlung hätte losreißen können, das ihr sowohl die Oberflächlichkeiten der Welt als auch ihr eigenes unzureichendes Leben vor Augen führte. Auf eine seltsame, nicht nachvollziehbare Art und Weise schien sie dieses leere, aber dennoch vielversprechende Fenster in eine andere, angeblich bessere Welt, magisch anzuziehen. Sarah ertappte sich ungläubig bei der Überlegung, ob sie nicht doch dem Inneren des Ladens einen Besuch abstatten sollte, um sich den ausgestellten Bestseller einmal näher anzusehen.
Wahrscheinlich konnte man es deshalb als glückliche Fügung betrachten, dass sie einer der Passanten bei dem Versuch, sich an ihr vorbeizuschieben, heftig anrempelte. Sarah spürte den Stoß in ihrer Seite und kam ins Taumeln. Benommen, wie sie sowieso schon war, schaffte sie es gerade noch, ihr Gleichgewicht zu halten und nicht auf dem grau gepflasterten Gehweg zu landen. Nur kurz begegneten ihre Augen denen des Mannes, der sie so unsanft gestreift hatte. Der Ausdruck darin kam ihr seltsam vor. Alt, traurig und ein bisschen besorgt. Sie fand nicht die richtigen Worte, weder um den Mann, noch um dessen Blick treffend zu beschreiben. Allzu schnell wandte sich der Fremde ab, murmelte irgendetwas und lief eilig weiter die Straße hinunter. Sarah starrte dem unauffällig gekleideten Mann wütend nach. Und erst in diesem Moment fühlte sie eine tiefe Erleichterung, die sich in ihr ausbreitete und darin begründet schien, dass sie nicht länger in der Welt des Schaufensters gefangen war.
Sarah atmete tief durch. Sie war drauf und dran, sich erneut der Auslage der kleinen Buchhandlung zuzuwenden, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Es war, als würde sie eine kleine Stimme in ihrem Kopf davor warnen, sich noch einmal in diesen unerklärlichen Bann ziehen zu lassen. Also ließ Sarah ihren Blick stattdessen nach vorne wandern, weiter die Straße hinunter. Hinter der nächsten Häuserzeile lag ihre Universität. Und dort würde sie nun hingehen, ihren Doktorvater suchen und ihm von ihrem Entschluss erzählen, die Sache mit der Promotion abzublasen. Dass sie sowieso schon seit Monaten anderen, unabhängigen Studien nachgegangen war, wollte sie aber lieber verschweigen.
//Ein harter unbeugsamer Griff umschloss es. Lückenlos und endgültig. Eine Brutalität ging davon aus, die unnötig und deshalb nur umso grausamer war. Noch nie hatte es etwas Derartiges gespürt. Noch nie war es auf solch abscheuliche Weise behandelt worden. Und hätte es auch nie für möglich gehalten, dass es einmal dazu kommen würde. Es erforschte seine Gefühle und fand Schmerz, Enttäuschung, Furcht und Verzweiflung. Es staunte ob dieser Ausbeute. Bis jetzt hatte es nicht gewusst, dass es überhaupt in der Lage war, solche Gefühle zu empfinden. Erneut versuchte es, eine Verbindung zu seinem anderen Ich herzustellen, aber vergeblich.//