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Kapitel 9

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Sie brauchten mehr Zeit für die Suche im Archiv, als Matthew erwartet hatte. Anscheinend hatte ein André Dupoit mehrere Jahre für Le Mercure geschrieben und sie mussten sich durch dutzende Seiten arbeiten, auf denen seine Artikel als Ergebnis angezeigt wurden.

Der Regen hatte inzwischen an Kraft verloren und sich in ein sanftes Nieseln verwandelt. Dafür vertrieb jetzt ein kalter Wind auch die letzten Passanten aus den engen Gassen. Matthew und Monsieur Dupoit saßen alleine in dem Café. Die junge Frau hinter dem Tresen war in ein Buch vertieft und sah höchstens auf, um nach einem Keks aus der Packung neben ihr zu greifen.

Auf Seite 72 angekommen, fanden sie endlich, wonach sie suchten. Matthew führte den Mauszeiger über das Suchergebnis und es erschien ein kurzer Text vom 17. Juni 1982. Eine Vermisstenmeldung der Polizei, erst fünf Wochen nach Dupoits Verschwinden gedruckt, die aber keinerlei Hinweis auf seine Familie enthielt.

Dupoit seufzte und rieb sich die Augen, unter denen sich dunkle Schatten abzeichneten.

»Ich habe damals nicht einmal realisiert, dass sie auszogen, so vertieft war ich in meine Suche.« Er deutete auf den Bildschirm. »Denken Sie, dass wir noch etwas anderes finden können? Einen weiteren Artikel aus einer späteren Ausgabe vielleicht?«

Matthew hatte eigentlich längst die Hoffnung aufgegeben, aber ihnen blieb im Grunde nichts anderes übrig. Er blätterte weiter durch die Seiten. Zumindest im Moment mangelte es ihm an weiteren Ideen, was er auf die Müdigkeit schob. Wie lange hatte er nicht mehr richtig entspannt geschlafen? Zwei Monate? Sein Schlaf war schon seit geraumer Zeit nur noch ein unruhiges Dösen, durchsetzt mit wirren Träumen. Wenn er im Bett lag und durch das Fenster in den Nachthimmel blickte, spürte er oft, wie er rasch in Richtung Schlaf sank, manchmal so schnell, dass er das Gefühl hatte zu fallen. An der Schwelle des Schlafes trieben dann seltsame Gedanken durch seinen Geist, so schwer zu fassen wie Bilder im Augenwinkel. Sie schienen so lange ganz natürlich und vollkommen logisch zu sein, bis er versuchte, sich auf sie zu konzentrieren; dann zerplatzten sie und er blieb verwirrt zurück. Verwirrt, aber wieder hellwach. Wann hatte das angefangen?

Und dann wurde Matthews Aufmerksamkeit schlagartig wieder auf den Bildschirm gelenkt, auf dem eine Meldung von vor fünf Jahren erschienen war. Er spürte sein Herz im Hals pulsieren und die Finger seiner rechten Hand umklammerten die Maus unwillkürlich fester. Das Geräusch des Regens verstummte mit einem Mal für seine Ohren, aber der Wind schien nun umso lauter zu sein. Er hatte eine Traueranzeige für Marie Dupoit gefunden.

Matthew starrte eine gefühlte Ewigkeit ungläubig auf die Buchstaben. Dann blickte er nach rechts, aber Dupoit war bereits aufgestanden. Als er an der teilnahmslosen Frau vorbei zur Tür hinausging, stützte er sich kurz an einem der Tische ab.

Matthew wollte schon aufspringen, blickte aber nochmal auf die Anzeige (geliebte Schwester und Mutter) und dann sah er ihn, den Hinweis, den sie brauchten inmitten dieser furchtbaren Nachricht. Dupoit hatte erwähnt, dass seine Tochter Michelle hieß. Michelle Leconte mit Sarah. In Windeseile öffnete er ein neues Fenster, tippte eine kurze Suche ein und schrieb ein paar Wörter auf einen hastig aus seiner Tasche gekramten Zettel. Dann klemmte er sich seine Tasche unter den Arm, warf der jungen Frau auf dem Weg zur Tür einen Geldschein auf den Tresen und eilte auf die Straße hinaus.

***

»Wer einen Weg hinein findet, kommt auch wieder hinaus«, sagt die Frau und lacht. Sie zieht kräftig an dem Schlauch ihrer Wasserpfeife, aber das Gurgeln des Wassers geht in dem Stimmenorchester, das aus dem großen Zelt dringt, unter. Sie öffnet ihre dunklen Augen und lässt milde lächelnd Nebelschwaden aus ihrem Mund in die warme Nachtluft aufsteigen. Über dem sandigen Marktplatz hängt träge der Vollmond am Himmel. Dupoit rutscht tiefer in die Kissen und fühlt, wie seine Augen schwer werden. Sein Bauch ist prall gefüllt mit den fremdartigsten und wohlschmeckendsten Gerichten, die er in seinem Leben gekostet hat. Neben ihm steht eine halb geleerte Karaffe Wasser und in seiner Hand liegt kühl eine Flasche Wein. Er hat Essen in all der Zeit, die er auf seinem Hügel festsaß, vermisst, aber erst jetzt, nach der ersten Mahlzeit, wird ihm klar, wie sehr es ihm gefehlt hat.

Der Anführer der Karawane hat ihn zu Melinda gebracht; hier soll er Antworten finden. Die Fremde scheint noch jung zu sein, höchstens in den frühen Zwanzigern. Unter einem farbenreichen Kopftuch fallen dunkle Locken bis auf ihre Schultern, die nur ansatzweise von ihrem ebenso bunten Kleid bedeckt werden. Sie ließ ihn erst ausgiebig von den aufgetischten Speisen kosten – »Ich sehe den Hunger in deinen Augen, und Hunger ist ein schlechter Gesprächspartner« – bevor die Unterhaltung begann. Melinda hörte schweigend zu und bereitete ihre Pfeife vor, während er erzählte. Jetzt, da er fertig ist, fühlt er sich müde und schwer. Der Lärm tritt zunehmend in den Hintergrund und Dupoit glaubt, langsam durch die Nacht zu treiben. Melindas leise Stimme jedoch dringt klar verständlich durch den Schleier. Sie spricht Französisch, aber es scheint ihm mit einem leichten Akzent, den er nicht klar ausmachen kann.

»Wer einen Weg hinein findet ... Aber wo lag dein Weg?« Melinda schüttelt kaum merklich den Kopf. »Du bist keiner der indigènes, aber du hast auch keine Verbindung zur Gilde, so viel ist klar.« Sie lächelt wieder. »Ein verirrter Wanderer; und dann auch noch im wahrhaft verlassensten Teil dieser Welt gestrandet.«

Als Dupoit spricht, kommt ihm seine eigene Stimme seltsam unwirklich vor. »Wenn Custodio mich nicht mit seiner Karawane gefunden hätte, wäre ich auf diesem Hügel gestorben.«

»Ja, möglich. Aber so wie die Zeit hier rinnt, hätte das noch eine Weile gedauert. Dir wäre es sicherlich wie zweihundert Jahre vorgekommen.« Für einen Augenblick werden ihre Augen ernst. »Manche Dinge hier können einem den Verstand rauben, und es müssen nicht immer bösartige sein. Der zähe Fluss der Zeit reicht vollkommen aus.« Das Lächeln kehrt langsam zurück auf ihre Lippen. »Das ist wahrscheinlich am schwersten, wenn man hier ankommt. Der größte Unterschied zu unserer Welt.«

Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche. Der süße Wein fühlt sich angenehm warm in seiner Kehle an. »Bist du auch von der...« Er will Erde sagen und kommt sich noch im selben Moment vollkommen idiotisch vor.

Melinda lacht. »Limoges. Allerdings wurde ich in Budapest geboren. Meine Eltern und ich wanderten erst aus, als ich zwölf war.« Sie zieht an der Pfeife. »Das war 1907. Ich habe mich ganz gut gehalten, findest du nicht?«, fügt sie zwinkernd hinzu.

Dupoit nickt schläfrig. Speisen und Wein fordern ihren Tribut am Ende dieses Tages und er sinkt noch etwas tiefer in die Kissen. Seine Augen schließen sich und auf den letzten Schritten Richtung Schlaf hört er Melindas Stimme aus der Ferne.

»Es gibt immer einen Weg hinaus.«

Sein Kopf senkt sich auf seine Brust. Der Platz, das Zelt, der Lärm in der Nacht schleichen sich aus seinem Bewusstsein.

»Wir müssen dir nur zuerst eine Karte finden.«

Der Weltenschreiber

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