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Kapitel 3

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Im Nachhinein wusste Sarah gar nicht mehr, wie sie an diesen Punkt gekommen war. Sie hatte doch eigentlich nur ein Gespräch mit ihrem Professor führen und die in eine Sackgasse geratene Doktorarbeit für alle Zeiten hinter sich lassen wollen. Und nun stand sie in diesem leeren Raum inmitten der von Studenten bevölkerten Universität und jagte einem ... ja – wem oder was jagte sie da eigentlich nach...?

Als sie am späten Vormittag die Universität erreicht hatte, war sie kurz davor gewesen, einfach wieder kehrtzumachen und ihre ganze Mission abzublasen. Das Gebäude an sich genügte schon, um sie eingeschüchtert in ihrem Schritt stocken und in ehrfürchtiger Entfernung anhalten zu lassen. Nicht nur die wuchtigen Säulen und Türmchen machten die Universität zu einem so eindrucksvollen Ort. Sarahs Zögern war vor allem dem Zwiegespräch geschuldet, das sie in Gedanken mit den vielen Statuen führte. Wie ein Bataillon waren sie aufmarschiert und hatten sich auf alle erdenklichen Vorsprünge und Zinnen verteilt, um von ihren erhabenen Aussichtspunkten kopfschüttelnd auf sie herabzublicken, während Arroganz ihre kalten steinernen Augen verdunkelte und ein hämisches Lächeln um ihre festgefrorenen Lippen spielte. Es war offensichtlich, dass sie wussten, weshalb Sarah hier war. Sie wussten um ihr Vorhaben, das Studium in diesen heiligen Hallen zu beenden. Sarah war ihrer weiteren Fürsorge nicht wert.

Und als wäre dieser Aufmarsch an Marmor nicht schon genug gewesen, stieß Sarah dazu noch an eine ganz andere – und weitaus realere – Barriere. Unzählige Stimmen, die sich in ihren lärmentwöhnten Ohren zu einem undefinierbaren Summen und Dröhnen verdichteten und zu ebenso vielen jungen Menschen gehörten, deren unbeirrbar wogender Strom in Sarah das Bild der Seine hervorrief. An manchen Stellen war sich das Wasser einig. Es floss schneller und zielgerichteter. An anderen jedoch traf es auf unerwartete Hindernisse, eine Untiefe, bestehend aus einem Grüppchen Studenten oder einem der kultivierten Bäume, die den Platz vor dem Universitätsgebäude schmückten.

Sarah stand da und ließ das unheimliche Bild auf sich wirken. Nach der Einsamkeit, in die sie sich während der vergangenen Monate regelrecht vergraben hatte, stieß sie das lärmende Leben gleichermaßen ab und faszinierte sie. Überall standen und saßen Studenten. Unter den in Reih und Glied gepflanzten Bäumen, zwischen den Säulen der Universitätskapelle, auf den Umrandungen der Springbrunnen. Vom munteren Plätschern der Fontänen war kein Laut zu hören, so sehr sich das Wasser auch anstrengte, seine Vorherrschaft an diesem von Menschen gezähmten Studienort wiederzuerlangen.

Später wusste Sarah gar nicht, wie lange sie einfach nur da gestanden und versucht hatte, mit den ungewohnten Menschenmassen und dem zermürbenden Lärmpegel zurechtzukommen. Ohne dass es ihr gelang. Also entschied sie sich dazu, ihre Aufgabe so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, um diesem Ort entfliehen und in die Abgeschiedenheit ihrer Wohnung zurückkehren zu können. Sie war noch nicht wieder bereit für dieses bunte, lärmende Leben, das den jungen Menschen hier so leicht von der Hand ging. Sie hoffte, sie würde eines Tages wieder zu ihnen gehören – hatte sie denn jemals zu ihnen gehört? – aber selbst wenn ihr das gelänge, war dieser Tag noch fern.

Mit dieser Erkenntnis holte sie einmal tief Luft und lief dann zielstrebig über den Platz in Richtung eines kleineren Eingangs. Zielstrebigkeit hatte in diesem Fall sehr viel mit Slalomlaufen gemein, aber Sarah schaffte es tatsächlich, in relativ kurzer Zeit den Platz zu überqueren, ohne allzu oft angerempelt zu werden oder gar andere Studenten mit einem versehentlichen Stoß aus deren philosophischen Gedanken und Diskussionen zurück in die Wirklichkeit zu holen. Das würde der Beginn der nächsten Vorlesung schon früh genug erledigen.

Sarah manövrierte sich also erfolgreich von dem Gedränge auf dem Vorplatz in das Gedränge innerhalb der Universität. Ein kurzer Blick hinaus auf den Innenhof hielt sie davon ab, diesen Weg einzuschlagen.

Auf dem Hof, der nicht allzu groß war und eingekesselt zwischen hohen Sandsteingebäuden mit grau gedeckten Zinnen lag, hatte sie sich sowieso immer gefangen gefühlt. Wie in einer von Türmen und Giebeln geschmückten, ausweglosen Falle. Und nun – vollgepackt mit Studenten – erweckte der Innenhof erst recht den Eindruck, als wäre er das geöffnete hungrige Maul einer riesigen unterirdischen Kreatur, die sich gerade ausgiebig am universitären Buffet bedient hatte. Der erschreckende Anblick genügte, um Sarah davon abzubringen, sich über den Hof auf die andere Seite des Universitätsgeländes zu kämpfen.

Sie hatte sich auch schon oft gefragt, ob man die hohen weißen Sprossenfenster in die umliegenden Sandsteingebäude eingesetzt hatte, um das Gefühl des Eingesperrtseins auf dem rechteckigen Innenhof zu verringern. Hätte sie jemals jemand nach ihrer Meinung dazu gefragt, hätte sie nicht gezögert, ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass dieses Ansinnen gründlich fehlgeschlagen war. Die vielen Fenster vermittelten eher den Eindruck, als würden unsichtbare Gestalten den armen hilflosen Tropf, der sich da so wehrlos und ungeschützt über den Hof bewegte, von allen Seiten beobachten und kontrollieren.

Also blieb nur der Weg durch das Gebäude selbst. Sarah begann, sich zwischen den jungen Leuten im Inneren der Universität hindurch einen Weg zu bahnen. Das stellte sich als einfacher heraus als gedacht. Anscheinend hatte das angenehm frühsommerliche Wetter den Großteil der Studenten nach draußen gelockt.

Sarah erklomm weitläufige Treppen, schritt durch hallende Flure und erreichte schließlich ihr Ziel, das Büro ihres Doktorvaters.

Sie meldete sich im Sekretariat an. Professor Valière leitete noch ein Seminar und tauchte erst einige Minuten später vor seinem Büro auf. Die folgende Unterredung würde nicht in die Liste der wenigen tiefsinnigen Gespräche, die Sarah bisher in ihrem Leben geführt hatte, eingehen. Fast hatte es sogar den Anschein, als wäre auch Professor Valière froh darüber, die leidige Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und die sowieso nur mündliche Vereinbarung über die Anfertigung und Korrektur einer Doktorarbeit ad acta zu legen. So einfach löste sich eine Aufgabe in Luft auf.

Nach dem sehr kurzen Gespräch schüttelten sie sich einvernehmlich die Hand und gingen beide ihrer Wege. Der Professor auf zu neuen Taten und Ufern, Sarah hinaus aus dem Büro in einen langen Flur, dessen Nacktheit ihr auf einmal Angst machte.

Ziellos folgte sie dem Flur, nicht so recht wissend, was sie als nächstes tun sollte. Zurück in ihre Wohnung? Aber zu welchem Zweck? Na schön, sie könnte zum Beispiel mit dem Aufräumen und Saubermachen anfangen, aber immerhin hatte sie heute bereits die Generalüberholung ihres Lebens hinter sich gebracht. Die ihrer Wohnung konnte da ruhig noch bis morgen warten.

Ehe Sarah sich versah, landete sie in einem ganz anderen Teil der Universität. Vollkommen unbewusst fand sie ihren Weg zu dem Ort, der ihr der Liebste war: die Bibliothek. Und warum eigentlich nicht? Hier hatte sie schon immer Zeit zum Nachdenken gefunden. Also würde sie das auch heute tun können. Und vielleicht würde sie diesen Raum sogar – wie so oft in der Vergangenheit – mit einem Plan verlassen. Einem neuen Ziel.

Sarah schlenderte langsam durch die Reihen der Bücher. Zog manchen Band heraus, blätterte in ihm, stellte ihn wieder zurück. Ließ ein Regal hinter sich, um sich einem anderen, interessanteren zuzuwenden. Zog hier ein Buch heraus, stellte dort ein Buch wieder auf seinen vorgesehenen Platz inmitten der bibliothekarischen Kameraderie zurück.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie dort zwischen ihren Freunden verbrachte. Und sie wusste auch nicht, wie lange sie das eine Buch in der Hand hielt. Sie hielt es in der Hand, aufgeschlagen, und starrte mit blinden Augen auf die Seite, die sich zufällig für sie geöffnet hatte. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie das Geschriebene auch wirklich bewusst las. Aber dann kamen ihr die Zeilen sofort wunderbar vertraut vor: Coleridges Rime of the Ancient Mariner. Die gesammelten Werke von Samuel Taylor Coleridge waren unter den Büchern gewesen, die sie vor einigen Jahren auf dem Dachboden ihrer Mutter entdeckt hatte. Schulterzuckend hatte diese erlaubt, dass Sarah die komplette Kiste mit Büchern einfach an sich nahm. Anscheinend handelte es sich dabei um Überbleibsel aus der Wohnung ihres Großvaters und waren nach dessen Verschwinden bei seiner Frau, Sarahs Großmutter gelandet. Nach deren Tod hatten sie ihren Weg auf den Dachboden von Sarahs Mutter gefunden.

Sarah erinnerte sich nur zu gut daran, dass sie all diese Bücher durchforstet hatte, in der Hoffnung, einen Hinweis auf das seltsame Verschwinden ihres Großvaters zu entdecken. Coleridges Gedichte hatten ihr so gut gefallen, dass sie einen Großteil von ihnen mehrmals gelesen hatte.

Sarahs Blick fiel wieder auf die Worte vor ihr: Like one, that on a lonesome road/ Doth walk in fear and dread,/ And having once turned round walks on,/ And turns no more his head;/ Because he knows, a frightful fiend/ Doth close behind him tread. Einsamkeit, Furcht und ein Gefühl der Ausweglosigkeit. Sarah war sofort versucht, das vollständige Gedicht erneut zu lesen, als sie auf einmal stutzig wurde.

Sie wusste nicht wieso, aber einzelne Wörter des gelesenen Absatzes schienen ihr auf einmal deutlicher als die übrigen. Immer wenn Sarah sich auf sie konzentrierte und den Absatz direkt ansah, fiel es nicht weiter auf. Die Worte fügten sich alle wunderbar zusammen und formten in eifriger Selbstverständlichkeit den kompletten Text. Aber als sie dann ihre Gedanken erneut wandern ließ und das Gedicht – die Worte, Verse, Strophen – vor ihren Augen unscharf zu werden begann und langsam verschwamm, so passierte dies nur mit einem Großteil des Textes. Einzelne Worte hingegen standen ihr nach wie vor deutlich umrissen vor Augen: lonesome, fear, dread, frightful fiend, close.

Sarah holte tief Luft. Wie war das möglich? Und was sollte das? Sie zögerte noch kurz und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass sie eigentlich wichtigere Dinge zu tun hatte – zum Beispiel sich um ihr komplettes Leben zu kümmern – aber die Neugier siegte.

Bevor sie am heutigen Vormittag den Schritt aus der Einsamkeit ihrer Wohnung hinaus in die Welt gewagt hatte, hatte sie sich die Zeit genommen, nach ihrem verschollenen schwarzen Notizbuch zu suchen. Und das Glück war ihr hold gewesen. Unter einem unordentlichen Stapel Papier, das dem schiefen Turm von Pisa Konkurrenz machen konnte, hatte sie das kleine Büchlein entdeckt. Es einzustecken und wieder bei sich zu tragen, gab ihr seltsamerweise in der hektischen Welt, die vor ihrer Wohnung auf sie wartete, ein Gefühl der Sicherheit. Das Notizbuch war wie ein Anker, das sie noch immer mit ihrem bisherigen Lebensinhalt verband. Und nun konnte es sich sogar wieder nützlich machen.

Sarah griff in ihre Jackentasche und zog das schwarze Büchlein hervor, um die Worte darin festzuhalten, die in Coleridges Rime so seltsam hervorgehoben wurden.

Dann machte sie sich an den Rest des Textes. Ein paar Seiten weiter vorne stieß sie noch einmal auf einen Absatz, der auf die gleiche unerklärliche Weise mit den Wörtern spielte: Day after day, day after day,/ We stuck, nor breath nor motion;/ As idle as a painted ship/ Upon a painted ocean. Aufgeregt stellte sie fest, dass ihr der ganze Absatz vor Augen erschien, wenn sie die Worte nicht direkt ansah und las. Rasch wanderten die Sätze in ihr Notizbuch und die nächste Stunde verbrachte Sarah damit, den restlichen Text des Buches systematisch nach weiteren Hinweisen abzusuchen. Aber Fehlanzeige. Die bereits notierten Teile des Rime of the Ancient Mariner waren die einzigen, die sich so seltsam verhielten.

Sarah stellte sich mit ihrem Notizbuch ans Fenster und sah nachdenklich nach draußen. Der Tag war inzwischen schon fortgeschritten. Der Wind hatte an Stärke zugenommen und den Himmel mit Wolken bedeckt. Grauen Wolken. Regenwolken. Vor der Universität waren nur noch vereinzelte Studenten zu sehen. Irgendwie wirkten sie ziellos. Oder übertrug sie da nur ihre eigenen Gefühle auf unbeteiligte Dritte? Sie kamen ihr vor wie Nachzügler, die der Haupttrupp der studentischen Armee zurückgelassen und vergessen hatte, als er sich aufgemacht hatte, in Richtung Pariser Innenstadt zu rollen, um dort erst in den Abend und anschließend ins Nachtleben zu starten.

Sarah grübelte über den Sätzen aus ihrem Notizbuch ohne so recht zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Das Ganze klang wie eine Warnung oder ... ein Hilferuf. So, als hätte jemand versucht, vor etwas wegzulaufen, das ihn verfolgte. Derjenige war einsam, hatte Angst und wurde von etwas Bösem gejagt, das ihm schon sehr nahe gekommen war. Oder war dieser Teil eine Warnung an eine andere Person und das Böse war diesem nahe gekommen? Oder stand es ihm vielleicht nahe? Sarah spürte, wie ihr bei diesen Überlegungen richtiggehend kalt wurde. Irgendwie berührte sie das, was sie aus den angegebenen Worten zu lesen glaubte. Aber weiter brachte es sie nicht.

Also wandte sie sich dem anderen Abschnitt zu. Hier waren nicht nur einzelne Worte hervorgehoben. Eher handelte es sich um die Beschreibung eines Zustandes. Eines immer gleichen Zustandes. Derjenige, der um Hilfe rief, steckte fest. Tagelang. Ohne sich bewegen zu können. War er etwa ein Gefangener? Hatte ihn das Böse aus dem anderen Teil des Gedichtes eingeholt? Aber ... der andere Abschnitt folgte eigentlich erst später in dem Gedicht. Also beschrieb jemand hier seine Gefangenschaft und warnte dann eine andere Person vor der Gefahr, die dieser von jemandem drohte, der ihr nahe stand?

Sarah stand so lange grübelnd am Fenster der Universitätsbibliothek, bis sie eine Dame mittleren Alters höflich aber bestimmt hinauskomplimentierte.

Immer noch nachdenklich ging sie die Flure entlang, ohne viel von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Der Vergleich mit dem gemalten Schiff auf einem gemalten Ozean stellte sie vor ein Rätsel. Sollte hier nur die Gefangenschaft, die Bewegungsunfähigkeit verdeutlicht werden oder steckte noch mehr dahinter? Irgendwo in dem Text musste es doch auch einen konkreten Hinweis geben!

Und dann fiel es ihr so plötzlich ein, dass sie beinahe gegen eine unsichtbar vor ihr auftauchende Glastür gelaufen wäre. Natürlich! Das Bild war der Hinweis! Ein gemaltes Schiff auf einem gemalten Ozean! Wieso war ihr das nicht früher eingefallen?

Sarah hatte während ihres Studiums genug Zeit in diesen Fluren und Räumen verbracht und aufgrund ihrer Neigung, während des Lernens kurze oder auch lange Spaziergänge durch die Flure zu unternehmen, doch sehr viele Ecken und versteckte Winkel des Gebäudes kennen gelernt. Und dieses Bild ... sie hatte es schon einmal gesehen! Ein Schiff auf einem Ozean.

Rasch wandte sie sich um und eilte in die andere Richtung. Zwei Treppen nach oben, durch einen weiteren Gang und um eine Biegung. Dann blieb sie schweratmend vor dem Gemälde stehen, das ihr soeben wieder eingefallen war. Ein Schiff auf einem Ozean.

Ihrer Meinung nach handelte es sich um kein besonders gutes Gemälde, die Farben waren viel zu kitschig gewählt, so dass der beabsichtigte romantische Sonnenuntergang eher zu einem Stelldichein der unterschiedlichsten Lila- und Rosatöne wurde. Aber da war es! In einem verstaubten, goldenen Rahmen zeigte es ein Schiff, das über ein von Wellen zerrissenes Meer fuhr, hinein in den wartenden rosaroten Sonnenuntergang.

Sarah stand vor dem Bild und starrte die kitschige Farbgebung an. Da war sie also. Aber was nun?

Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass sie den Hinweis richtig verstanden hatte und sich an genau dem Ort befand, an den sie irgendwer bringen wollte. Wer?, fragte eine kleine Stimme irgendwo in ihrem Inneren, die sie erst einmal erfolgreich verdrängte. Alles zu seiner Zeit. Die junge Frau machte sich daran, das Bild genau unter die Lupe zu nehmen.

Da waren die sturmgepeitschten Wellen, deren Schaumkronen sich in perfekt arrangierter Harmonie rings um das Schiff brachen. Das Boot selbst war eines jener alten Segelschiffe, die einem sofort vor Augen standen, wenn man an eine romantisch verklärte Vergangenheit dachte, in der Piraterie nicht brutal und habgierig, sondern verwegen und ehrenhaft war. Aber das, was das gesamte Bild dominierte, war der Himmel. Der stürmische Sonnenuntergang, der bereits in den Wellen zu erahnen war, fand hier seinen Höhepunkt.

Zerrissene Wolken, die von den letzten Lichtfetzen des Tages durchdrungen wurden. Die allgegenwärtige Farbe war Rosa in unterschiedlichen – und oft auch undenkbaren – Variationen, von einem Rosa mit leichtem Blaustich bis hin zu einem mit orangenem oder rostbraunem Schimmer. Nicht nur, dass diese unglaubwürdige Farbgebung den Himmel in ihrer Gewalt hatte. Sie spiegelte sich auch in den Wellen wider und – in Sarahs Augen die größte Ungerechtigkeit – selbst die armen Matrosen auf ihrem hölzernen Segelschiff blieben nicht von ihr verschont.

Die junge Frau ließ ihren aufmerksamen Blick mitleidig über die schemenhaft dargestellten Matrosen wandern, die sich auf verschiedenste Weise an Bord des Schiffes betätigten und tapfer versuchten, nicht nur mit der grauenhaft überwältigenden Farbgebung, sondern auch mit Wind und Wetter zurecht zu kommen. Ihre Augen blieben schließlich an dem Matrosen hängen, der ihrer Meinung nach die schlimmste Aufgabe zu erfüllen hatte: In dem Korb am oberen Ende des größten Mastes stand er dem rosaroten Himmel am nächsten und war dafür verantwortlich, in der kitschigen Umgebung nach so realen Gefahren wie Untiefen oder feindlichen Schiffen Ausschau zu halten.

Der nur verschwommen gemalte Mann schien seine Arbeit aber dennoch ernst zu nehmen und auch gut darin zu sein – denn sein ausgestreckter rechter Arm wies warnend in die Ferne. Besser gesagt, nach hinten. Sarah stutzte. Der gemalte Arm zeigte nach rechts aus dem Bild, während das Schiff ganz offensichtlich nach links unterwegs war. Was nur hatte das zu bedeuten? Wurden die armen Matrosen etwa auch noch verfolgt? Oder steckte da womöglich noch etwas anderes dahinter?

Auf einmal spürte Sarah, wie sich Aufregung in ihr breitmachte. Das war er! Der Hinweis, nach dem sie hier gesucht hatte! Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, ließ sie ihre Finger über den rechten Rand des Bildes gleiten, genau dort, wohin sie der ausgestreckte Arm des kleinen gemalten Matrosen führte.

An der Seite des Bilderrahmens fand sich nichts, aber als Sarah ihre Finger vorsichtig hinter das Bild gleiten ließ, stießen sie auf einen winzigen Hebel, der dort an der Wand befestigt war. Ein kurzes Zögern, dann zog die junge Frau den kleinen Widerstand zu sich nach vorne, entgegengesetzt zu der Richtung, in die er bis dahin gezeigt hatte.

Für einen kleinen, unsicheren Moment dachte Sarah, sie hätte sich geirrt. Hätte sich verrannt in seltsamen Hinweisen, die sie gemeint hatte, aus Büchern herauszulesen. Aber dann hörte sie es. Ein leises, gleitendes Geräusch, das seinen Ursprung irgendwo hinter der Wand zu haben schien, in der sich zu Sarahs Erstaunen eine schmale dunkle Öffnung zu bilden begann. Rein gar nichts hatte vorher darauf hingewiesen, dass sich hinter dieser Tapete ein geheimer Durchgang befand. Ein geheimer Durchgang – wohin?

Sarah hielt sich nicht lange mit dieser Überlegung auf und auch innere Mahnungen zur Vorsicht schob sie rigoros beiseite. Nun war sie schon hier. Sie war endlich auf irgendetwas gestoßen, nachdem sie so lange Zeit einem Phantom hinterher gerannt war. Nun wollte sie gefälligst auch wissen, was hinter dieser geheimen Tür lag! Mit einem tiefen, entschlossenen Atemzug näherte sie sich dem Durchgang und betrat gebückt den dahinter liegenden Raum.

//Es war in Bewegung. Nicht aus freiem Willen. Irgendetwas zerrte es vorwärts, ließ keinen Zweifel daran, dass es zu folgen hatte. Nie zuvor war es einem solchen Zwang ausgesetzt gewesen. Zwischen ihm und seinem anderen Ich hatte eine stille Verbundenheit geherrscht, begründet auf Respekt, Treue und Freundschaft. Es war eine gleichberechtigte Partnerschaft gewesen. Aber hier ... hier war alles anders. Drohungen, Schmerz, Hass. Es wurde nicht gefragt, sondern gezwungen. Nicht gebeten, sondern befohlen. Alles war trüb, sinnlos und leer. Bar jeden positiven Gefühls. Es wurde als Sklave gehalten. Wusste er denn nicht, was es in Wirklichkeit war?//

Der Weltenschreiber

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