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Kapitel 11

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Sarah stand in ihrer kleinen Küche und lauschte dem ungewohnten Klang der Türglocke hinterher. In der einen Hand hielt sie eine Mülltüte und in der anderen einen großen weißen Teller, den sie gerade erst von einigen undefinierbaren Überbleibseln befreit hatte. Das helle Geräusch war längst verklungen, aber Sarah brauchte einen Moment, um überhaupt zu begreifen, wo der Ton hergekommen war. Dass sie jemand in ihrer Wohnung besucht hatte, war schon sehr lange her. Ein Leben lang. Sarah seufzte und stellte Mülltüte und Teller beiseite. Dann würde sie eben mal nachsehen, wer da aus einer anderen Zeit vor ihrer Tür auftauchte.

Auf ihrem Weg durch den Flur ertönte die Türklingel ein zweites Mal. Sarah zuckte unwillkürlich zusammen. So laut war das nervige Ding also, wenn man direkt davorstand! Um einer weiteren Ruhestörung zuvorzukommen, legte sie die letzten beiden Schritte schneller zurück und riss die Wohnungstür auf, ohne weiter über die ungewöhnliche Einmischung in ihr Einsiedlerdasein nachzudenken.

Vor der Tür stand eine kleine ältere Dame, eingehüllt in einen dunkelbraunen Mantel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Auf dem Kopf trug sie einen rundlichen braunen Hut. Damit wirkte sie noch kleiner, als sie es sowieso schon war. Von Sarahs stürmischem Auftritt überrascht, wich die Frau erschrocken einen hastigen Schritt zurück, wobei sich ihre schwarzen Schnallenschuhe beinahe in dem grünen Fußabtreter verheddert hätten, der Sarahs Eingangstür schmückte.

Sarah musterte die ältere Frau, konnte sie aber beim besten Willen nicht einordnen. Falls sie diese Dame schon einmal gesehen hatte, dann sicherlich in einem Moment, in dem sie nicht wirklich am Leben teilgenommen hatte. Vielleicht war sie gerade dabei gewesen, ein Buch zu lesen. Das war zumindest sehr gut möglich. Ein kleines Lächeln machte sich bei diesem Gedanken auf Sarahs Lippen breit. Derart ermutigt entschloss sich die kleine ältere Dame zu einem Frontalangriff.

»Ich möchte zu Marie-Belle«, forderte sie mit hoher, aber nichtsdestotrotz entschlossener Stimme. Sarahs Lächeln verschwand, während sich ihre Augenbrauen verwirrt zusammenzogen. »Zu wem?«

Die Frau vor der Tür musterte sie aus verwaschenen blauen Augen mit einem Ausdruck, der Sarah klar machte, dass sie sich selbst mit dieser dämlichen Frage ins Abseits gespielt hatte. Schluss mit dem Überraschungsangriff, den sie mit ihrem stürmischen Auftreten in der Tür eröffnet hatte.

»Zu Marie-Belle!« Der herablassende Tonfall wurde durch die hohe Stimme noch verstärkt.

Sarah öffnete schon den Mund, um ein weiteres Mal ihr Unverständnis kundzutun, als ihr Gedächtnis auf eine Episode aus der Vergangenheit stieß. Ach was – Vergangenheit! Etwa zwei Wochen war es her, dass sie im Treppenhaus beinahe mit einer Nachbarin zusammengestoßen war.

Sarah erinnerte sich dunkel an eine ebenfalls recht kleine Person, die mit zwei braunen Einkaufstüten beladen gewesen war, die ihr komplett die Sicht versperrten. Eigentlich erinnerte sie sich nur an die beiden braunen Tüten und an Beine, die unter ihnen hervorlugten. Die Tüten waren auf dem Weg nach unten gewesen, während Sarah von eben dort kam. Ihre eigene Entschuldigung dafür, dass sie von dem nahenden Unheil nichts mitbekommen hatte, war – wie sollte es anders sein – ein Buch, das sie aus ihrem Briefkasten geholt hatte. Ungeduldig wie sie war, hatte sie es bereits auf dem Weg nach oben zu ihrer Wohnung aus seinem Kartongefängnis befreit und angefangen, in ihm zu blättern. Dass sie beide – ihre Nachbarin und sie selbst – vor dem unvermeidlichen Zusammenprall gerettet worden waren, hatten sie einem älteren Mann zu verdanken, der die Gefahr erkannt und sich daraufhin heldenhaft von oben über die Brüstung gelehnt hatte. Der tiefe, rauchige Warnruf hatte nicht nur die Einkaufstütenbeine zum Halten gebracht, sondern auch Sarah gerade noch rechtzeitig aus ihrem Buch gerissen und zurück in die Welt mit all ihren anderen Menschen und Gefahren katapultiert. Die heisere Stimme des Mannes hatte nur den Namen der Frau hinter den Tüten gerufen: »Marie-Belle…!«

Sarah lächelte. Und schon war das Rätsel gelöst. Natürlich konnte sie die kleine Frau, die da vor ihrer Wohnungstür stand, nirgendwo einordnen. Sie hatte sie noch nie zuvor gesehen! Sarah spürte, wie ihre Überlegenheit zurückkehrte. Neuer Angriff, Schuss und Tor!

Mit einem überaus freundlichen Lächeln schüttelte sie also den Kopf und erklärte der verirrten Besucherin, dass sie es an einer anderen Tür probieren müsse. Ohne abzuwarten, ob die Dame ihr auch Glauben schenkte, schloss Sarah die Wohnungstür und kehrte zurück in ihre Küche und zu der unangenehmen Aufgabe, die sie dort noch immer erwartete.

*

Der frühabendliche Verkehr hatte sich nur als halb so schlimm herausgestellt wie ursprünglich erwartet – was in Matthews Augen immer noch übel genug war. Sie ließen sich vom Taxifahrer am Eingang zur Rue de Grenelle absetzen. Matthew hielt es für eine gute Idee, noch ein paar Meter zu laufen, bevor sie endlich das Haus betreten würden. Er hoffte, dass die Frau überhaupt in ihrer Wohnung war. Und insgeheim hoffte er auch, dass sie Kaffee hatte.

Sie gingen zwischen den hoch aufragenden Häusern entlang. Die Straße war schmal und auf der gegenüberliegenden Seite parkte eine lange Reihe Autos. Nur wenige Menschen waren unterwegs; vereinzelt standen zwei oder drei Leute vor den Eingängen von Geschäften zusammen und unterhielten sich, aber der kalte scharfe Wind zwischen den Gebäuden lud nicht unbedingt zu Spaziergängen ein.

Dann hatten sie die richtige Adresse gefunden. Die Haustür lag neben dem Eingang eines Geschäfts mit ausladenden roten Markisen, passend zu den roten Blumen, die die direkt darüber liegenden Fenster zierten. Die helle Fassade des Gebäudes reihte sich unscheinbar in den gleichförmigen Anblick der anderen Häuser ein, der nur von einem Baugerüst einige Meter die Straße hinunter unterbrochen wurde.

Matthew drehte den Kopf, um Dupoit anzusehen. Dieser stand wie versteinert neben ihm und blickte zu den Fenstern hinauf. Er murmelte etwas – nur ein Wort – aber Matthew konnte es nicht verstehen. Dann stürmte er plötzlich los und kreuzte den Weg eines Rollerfahrers, der wütend hupend einen Schlenker fuhr und alle Mühe hatte, nicht auf dem Gehsteig zu landen. Matthew hob entschuldigend die Hand und rannte dann selbst über die Straße. Als er die offene Tür erreichte, stand Dupoit bereits im Eingang und musterte die Klingelschilder.

»Der oberste Stock«, sagte er, und die Aufregung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Hier steht ihr Name!«

Er blickte Matthew an und seine Augen waren voller Erwartung. Im Taxi hatte noch drückende Stille geherrscht, unterbrochen nur von den gelegentlichen Flüchen des Fahrers, aber jetzt war etwas in Dupoit erwacht. Hoffnung, meinte Matthew zu erkennen, ein neuer Lebensfunke.

Er nickte und deutete auf die Treppe.

»Nach Ihnen.«

*

Als es das nächste Mal an der Tür klingelte, stand Sarah inmitten der Küche in einem Durcheinander von Geschirr, Abfall und Notizen, das einfach unbeschreiblich war.

Sie hatte sich selbst mit einem inneren Vortrag davon überzeugt, dass eine solch chaotische Ordnung, wie sie in ihrer Wohnung bis dato geherrscht hatte, durch das Aufräumen eben nun mal zuerst noch schlimmer werden musste. Schließlich nahm sie dem Ganzen die Ordnung und hinterließ nur das Chaos.

Aber als sie nun durch das Läuten an ihrer Wohnungstür erneut in ihrer Arbeit gestört wurde und einen etwas objektiveren Blick auf das Durcheinander werfen konnte, das sie umgab, war sie sich ihrer so vernünftig klingenden Argumente nicht mehr sicher. Ausschlaggebend für ihre Zweifel war auch die unpraktische Tatsache, dass ihr der Weg aus der Küche, der zuvor, wenn nicht frei, so doch begehbar gewesen war, nun durch die verschiedensten Stapel und Haufen versperrt wurde.

Sarah seufzte. Wieso nur klingelte es an diesem seltsamen Tag schon wieder an ihrer Tür? Ob es noch einmal die alte Dame war, die sich ein zweites Mal verlaufen hatte? Aber was sollte sie dann in der Zwischenzeit getrieben haben? Sie hätte locker alle anderen Türen durchprobieren und deren Bewohner kennenlernen können. So viele Leute wohnten nicht in diesem Haus!

Sarah schüttelte den Kopf. Das war nun wirklich zu weit hergeholt. Obwohl sie auch die nächstgelegenste Erklärung, dass nämlich jemand anderes an ihrer Tür klingelte, nicht wirklich zufriedenstellte. Erstens konnte sie sich nicht im Entferntesten vorstellen, wer sie da besuchen wollte. Und zweitens würde das die durchschnittliche Anzahl von Personen, die täglich an ihrer Tür klingelten, einfach allzu dramatisch in die Höhe treiben. Zwei Personen an einem einzigen Tag? Sarah war sich nicht sicher, ob sie ihre Entscheidung, wieder am realen Leben teilzunehmen, nicht bereits anfing zu bereuen. Und wie bitteschön hatte sich das dort draußen so schnell herumgesprochen?

Die junge Frau merkte, dass sie nicht weiter kam. Sie würde sich wohl einen Weg aus der Küche und zur Wohnungstür bahnen müssen, um zu erfahren, wer sie da erneut bei ihrer Aufräumaktion störte.

Gedacht, getan. Aber als Sarah die Tür öffnete und zwei Männer vor ihr standen, die sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte, bedauerte sie ihren Eifer fast ein wenig. Gleich zwei Besucher! Das ging ihr eindeutig zu schnell! Hastig ließ sie ihren Blick über die beiden Unbekannten schweifen. Einer der beiden war wohl ungefähr in ihrem Alter, also Anfang dreißig. Seine Haare waren braun und Sarah hatte den Eindruck, als suchten sie sich selbst die Richtung, in die sie am liebsten standen, ohne von ihrem Besitzer allzu oft daran gehindert zu werden. Das gab dem jungen Mann ein zerstreutes, aber sympathisches Aussehen. Auch seine Augen waren braun. Der andere Mann war schwieriger einzuordnen. Der Ausdruck in seinen Augen zeugte von einem fortgeschrittenen Alter, aber sein Gesicht widersprach dieser Zuordnung. Keine einzige Falte war darauf zu entdecken. Stattdessen wirkte es wie eine sorgfältig angelegte Maske auf eine unbekannte Art und Weise zeitlos.

Sarah war vollkommen überfordert mit diesen Besuchern, die sie nicht einzuordnen wusste. Sie wartete darauf, dass einer von ihnen irgendetwas sagte, ihr vielleicht den Grund für diese Störung verriet, aber es verging eine lange Zeit, in der sie einander einfach nur gegenüberstanden. Es war, als wollte keiner der Anwesenden diesen Moment stören oder als wüsste keiner von ihnen einen Anfang, den ein darauf folgendes Gespräch jedoch gebraucht hätte.

*

Matthew hatte im Taxi lange überlegt, wie sie am besten dieses Gespräch anfangen sollten. Keine der Möglichkeiten, die er sich zurechtgelegt hatte, klang in seinen Ohren wirklich überzeugend. Was sollte die Frau also davon abhalten, ihnen gleich die Tür vor der Nase zuzuschlagen oder sogar die Polizei zu rufen? Mit jeder Treppenstufe nach oben waren seine Zweifel an dem Erfolg ihres Unternehmens gewachsen.

Der Türgriff drehte sich, als Matthew noch hastig nach einem passenden Einstiegssatz suchte. Gerade glaubte er, etwas gefunden zu haben, da wurden die Worte auch schon hinweggerissen von dem Anblick, der sich ihm bot. Nicht etwa von dem Anblick der jungen Frau, die mit einem zu gleichen Teilen fragenden wie genervten Gesichtsausdruck vor ihnen stand. Nein, Matthews erster Blick fiel an ihr vorbei auf die der Tür gegenüberliegende Wand. Dort ächzte eine kaum zu erahnende Holzpinnwand unter der Last eines aberwitzigen Kunstwerks aus dutzenden kleinen Zetteln und Haftnotizen, die in mehreren Lagen übereinander befestigt waren. Auf der linken Seite bildeten gut zehn aneinander geklebte Zettel einen Ausläufer, der nach unten bis zu einem schiefen Stapel leerer Pizzakartons reichte.

Matthew wurde sich bewusst, dass jetzt schon viel zu lange Stille herrschte.

Er blickte die junge Frau kurz an und drehte sich dann zu Dupoit, aber auch der stand nur wie versteinert da. Also blieb es wohl doch an ihm hängen, das unangenehme Schweigen zu brechen.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ist Ihr Name…« Großartig, vergiss ruhig ihren Namen. Matthew kramte hastig in seiner Hosentasche und brachte den zerknüllten Zettel ans Licht. »…Sarah?«

Ein Nicken mit zunehmend skeptischem Blick folgte.

Matthew versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln, aber er spürte, dass sein Mund das nicht problemlos umsetzte.

»Könnten wir vielleicht kurz reinkommen?« Er biss sich auf die Lippe. Ja, genau, frag die Fremde, ob du ihre Wohnung betreten darfst. Du wirkst jetzt sicher sehr vertrauenswürdig.

Sarah zögerte und Matthew konnte sehen, dass die Finger ihrer linken Hand, mit der sie die Tür offen hielt, fester das Holz umklammerten. Sie würde sicher gleich die Tür schließen.

Wieder blickte er zu Dupoit, verzweifelt auf ein helfendes Wort des Mannes hoffend, aber der stand immer noch festgewachsen, wie in Trance.

Die Frau räusperte sich. »Ich denke, Sie haben gerade einen schlechten Zeitpunkt...«, begann sie.

Matthew holte tief Luft und entschied sich, alle Versuche eines sinnvollen Einstiegs über Bord zu werfen. Sicherlich gab es keinen passenden Weg, das auszusprechen, was an sich schon verrückt genug war.

Er legte die Hand auf die Schulter des Mannes neben ihm.

»Sarah, das hier ist Henri Dupoit. Es tut mir leid, dass wir Sie so überfallen, aber ich denke es wäre gut, wenn wir drinnen in Ruhe reden könnten.«

*

Sarah hörte den jungen Mann irgendetwas sagen, aber es war so unglaublich, dass sich ihr Verstand schlichtweg weigerte, es überhaupt in Erwägung zu ziehen. Sie stand nur da und sah die beiden Besucher an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Ihr Blick ging an ihnen vorbei in die Ferne, während sie einen inneren Kampf ausfocht.

Er hat etwas Wichtiges gesagt. Du solltest ihm zuhören!, verlangte ein inneres Gefühl. Unsinn!, widersprach die Vernunft. Das ist alles Unsinn! Da will dir jemand einen riesengroßen Bären aufbinden!

Es dauerte lange, sehr lange, bis Sarah endlich in der Lage war, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen und erneut mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Ach was, Umwelt! Mit diesen beiden Eindringlingen vor ihrer Wohnungstür, die drohten, ihre ganze kleine Welt komplett durcheinander zu bringen!

Sarah merkte, dass der jüngere Mann anfing, Zeichen von Ungeduld zu zeigen. Das alles ging ihm wohl zu langsam! Hah! Sollte man ihn doch mal mit einem Geist aus seiner Vergangenheit konfrontieren, einem Geist, der sein ganzes Leben bestimmte! Sie war drauf und dran, ihm aus lauter Irritation einen wütenden Blick zuzuwerfen, als ihr auf einmal etwas klar wurde. Der junge Mann wusste Bescheid! Er wusste von ihrem Großvater und kannte auch ihren Namen. Vielleicht war er ja bereits mitten in einer Geistergeschichte gefangen und war sich dessen auch bewusst?

Und was hatte es mit diesem anderen Mann auf sich, der angeblich ihr lange verschollener Großvater sein sollte? Sarah wagte einen vorsichtigen Blick in seine Richtung. Zwei blaue Augen trafen sie völlig unerwartet. Blau. Ihre eigenen Augen waren auch blau, wenn auch in einem dunkleren Ton als die des Fremden. Die junge Frau verspürte den stürmischen Drang, diesem Mann ein Wort zu entreißen. Irgendeines. War er wirklich ihr Großvater? Warum sprach er dann nicht mit ihr? Warum ließ er das seinen Begleiter erledigen, der ihr doch völlig unbekannt war?

Und auf einmal begriff Sarah, dass es diesem Fremden genauso ging wie ihr. Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Vielleicht sprach gerade das dafür, dass er wirklich ihr Großvater war.

Die junge Frau sah ein, dass sie so nicht weiterkommen würden. Es lag wohl an ihr, auf die unerwartete Enthüllung zu reagieren. Weil sie sich ihrer Stimme nicht sicher war, räusperte sie sich ausführlich. Die banale Handlung gab ihr ein willkommenes Gefühl für die Wirklichkeit zurück. Dann blickte sie die beiden Männer mit entschlossenem Gesichtsausdruck an. Sie würde nicht herausfinden, ob die beiden die Wahrheit sprachen, wenn sie nicht erst einmal auf ihre Geschichte einging!

»Kommen Sie doch bitte herein«, lud sie die Fremden mit einer fahrigen Handbewegung zum Betreten ihrer Wohnung ein und trat einen Schritt zur Seite, um sie hindurchzulassen. Ganz kurz meinte sie eine kleine innere Stimme fragen zu hören, ob das denn wirklich so klug sei, aber sie gab dieser Stimme keine Möglichkeit, zu ihr durchzudringen. Sie hatte sich dazu entschieden, das Wagnis einzugehen. Also würde sie einfach abwarten müssen, was dabei herauskam.

Die beiden Männer schienen überrascht darüber, dass sie keine weiteren Erklärungen zwischen Tür und Angel abgeben mussten, um sie zu dieser Einladung zu überreden. Sarah bemerkte mit innerer Belustigung, dass der jüngere Mann dem Älteren einen leichten Schubs versetzen musste, damit sich dieser aus seiner Erstarrung löste und in Bewegung setzte.

Erst als die beiden in ihrem kleinen Flur standen und nicht so recht wussten, wohin mit sich selbst, fiel Sarah wieder ein, dass es noch einen anderen Grund gegeben hätte, die Fremden nicht hereinzubitten. Sie spürte, wie sich eine brennende Röte auf ihrem Gesicht breitmachte, als ihr bewusst wurde, wie schlimm es für Außenstehende in ihrer Wohnung eigentlich aussehen musste. Sie selbst war daran gewöhnt und nahm die chaotische Unordnung gar nicht mehr wahr, aber diese beiden Fremden …

Sarah räusperte sich erneut. Dann ertappte sie sich bei einer weiteren fahrigen Handbewegung, die den Flur und irgendwie auch die noch unsichtbare restliche Wohnung mit einschloss.

»Verzeihen Sie das Chaos. Ich war gerade dabei, ein wenig Ordnung…« Ihre Stimme driftete ab. Wozu der Aufwand. Diese Ausrede hätte nun wirklich jeder in einer solchen Situation gebraucht.

*

Drinnen. Wir sind wirklich drinnen.

Matthew konnte es noch nicht vollkommen glauben. Irgendwie hatte er sich das alles schwieriger vorgestellt und sich schon gefragt, wie sie es nur schaffen könnten, die Frau davon zu überzeugen, dass es sich bei Dupoit tatsächlich um ihren Großvater handelte. Gerade sein Aussehen ließ ja nicht sein Alter erahnen.

Doch sogleich wurde Matthews Aufmerksamkeit wieder weg von der Fremden und hin zu ihrer Wohnung gelenkt. Das bizarre Zettelkunstwerk am Eingang war eindeutig nur ein Vorgeschmack gewesen. Auf beiden Seiten des kleinen Flurs drängten sich schiefe Stapel kopierter Blätter, auf denen leere Wasserflaschen balancierten. Ein runder Papierkorb hatte wohl schon vor Tagen ächzend unter der Last rechteckiger Pizzakartons kapituliert, die als wütende Horde über ihn hergefallen sein mussten. Gleich daneben bemühte sich eine Plastiktüte, die leeren Verpackungen von Fertigsuppen und einigen Schokoriegeln im Zaum zu halten. Der Blick in das Wohnzimmer war nicht wesentlich besser. Überall im Raum war schmutziges Geschirr verteilt, aber zahlreicher noch waren die unzähligen Türme aus Büchern und Notizzetteln, die sich auf schier unmögliche Weise der Schwerkraft trotzend in die Höhe wanden. Sie belegten sämtliche Tische sowie die Sitzflächen der meisten Stühle, das Sofa und auch einen Teil des Bodens. Jetzt bekam Matthew eine Vorstellung davon, warum die Wohnung so aussah und sich überall die Spuren von Fertignahrung stückchenweise durch die Räume zogen. Sarah war nicht etwa von Natur aus zu unordentlich oder zu faul zum Kochen. Nein, die Bücher und Blätter sprachen deutlich: Das hier war die Wohnung einer Person, die wie besessen an einer Sache arbeitete und darüber die Welt um sich herum vergaß. Noch etwas fiel ihm auf. Diese Wohnung bildete das beste Abbild seines eigenen Geistes, das er sich zur Zeit vorstellen konnte.

Die Bücher und Notizen waren es auch, die Dupoit ins Auge sprangen. Als sie seiner Enkelin ins Wohnzimmer folgten, fiel sein Blick auf drei Notizzettel auf einer Kommode, und obwohl er die hastig hingekritzelten Worte nur überflog, legte sich eine düstere Ahnung auf sein Herz. Es war genauso wie damals. Sie war auf der gleichen Spur, der er einst gefolgt war. Sie war wie er...

Dupoit hob den Kopf und blickte Sarah an.

*

Sarah spürte den Blick des älteren Mannes in ihrem Nacken und drehte sich zu ihm um. Stahlblaue Augen sahen sie an. Sarah hatte das Gefühl, als blickten sie ihr direkt in die Seele.

Sie schluckte hart und bemerkte hinter dem Mann die drei eingerahmten Notizzettel, die inmitten des unsäglichen Chaos, das in ihrer Wohnung herrschte, seltsam ordentlich an der Wand hingen.

Ihre Augen wanderten zurück zu dem inquisitorischen blauen Blick, der kompromisslos ihr Innerstes nach außen kehrte.

Sie wusste plötzlich, dass dieser Mann das Chaos in ihrer Wohnung verstand. Und wenn sie vorher noch an seiner Identität gezweifelt hatte, nun war sie sich ihrer sicher. Dieser Mann mit dem dichten Haar, das an den Schläfen bereits grau wurde, den blauen Augen und dem faltenlosen, maskenhaften Gesicht, war ihr Großvater! Dieser scheinbar Fremde war trotz seines zeitlosen Aussehens Henri Dupoit, der vor über dreißig Jahren spurlos verschwunden war.

Sarah öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber die Worte verharrten ihr im Hals und wollten nicht heraus. Stahlblaue Augen beobachteten sie, als sie sich mühsam räusperte und einen erneuten Anlauf unternahm. Die Worte kamen. Leise und begleitet von einem unsicheren Zittern, aber sie fanden ihren Weg hinaus in die Welt und in die Wirklichkeit:

»Ich habe dich gesucht, grand-père.«

//Müde ... es war so ... müde. Es musste ... sich konzentrieren. Die Antwort ... sie war da, beinahe greifbar. Verschwunden. Dort ... hinter der nächsten Seite. Ganz unten. Das Kapitel ... was machte es hier? Es kam doch erst später. Die Zeilen ... sie verschwammen vor seinen Augen. In dem Moment, in dem es sie ansah, verschoben und versteckten sie sich. Es hätte sich auch gerne versteckt. Denn es konnte spüren, wie der Moment näher kam. Der Moment, in dem das Böse gewinnen würde. Es würde letztendlich triumphieren. Länger ... länger konnte es diesem Druck einfach nicht mehr standhalten. Schon jetzt kam es ihm so vor, als hätte es nie einen anderen Zustand gegeben. Dieser hier würde ewig dauern. Hatte bereits ewig gedauert. Blieb nur ... der Weg. Bis Hilfe eintraf, würde es zu spät sein. Es konnte das Böse nicht länger abwehren. Es würde zerbrechen. Heute, vielleicht morgen. Dennoch musste es die Möglichkeit wahrnehmen. Musste seinem anderen Ich mitteilen, wo es zu finden war. Wo es den Kampf gegen das Böse verloren hatte. Wo sein Innerstes vernichtet worden war. Die Antwort lag ... in seiner Art. Seinem Ursprung. Seiner Herkunft. Den Büchern.//

Der Weltenschreiber

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