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Kapitel 14

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Als Sarah in ihrer Erzählung zum Ende kam, fühlte sie sich, als wäre sie einen emotionalen Marathon gelaufen. Ihr Großvater hatte sie immer wieder aufgeregt unterbrochen, um Details aus ihrem Leben noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Er wollte alles darüber wissen, was sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte. Da Sarah selbst keine allzu enge Bindung zu ihrer Mutter hatte und den Kontakt nur noch lose pflegte, war es ihr nicht leicht gefallen, objektiv von den vergangenen Erlebnissen zu berichten.

Aber irgendwie gelangte sie an ein Ende, das sich in der Gegenwart befand. Ihr Blick traf sich mit dem ihres Großvaters. Auch er sah aus, als hätte ihn das Gehörte stark mitgenommen. Was für ein Gefühlschaos! Der Einzige, dem man die emotionale Müdigkeit nicht anmerkte, war Matthew. Aber wie sollte man auch. Schließlich war es in Sarahs Geschichte nicht um die Vergangenheit seiner Familie gegangen. Die junge Frau warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. Da hatte sie über so viele private Dinge gesprochen und kannte diesen Mann doch eigentlich gar nicht. Ihr wurde ein wenig flau im Magen. Und wie gut dieser Fremde nun wiederum sie kannte.

Ihre Augen blieben an Matthews Gesicht hängen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet und wirkte irgendwie abwesend. Abwesend und verloren. Und auf einmal wurde Sarah klar, dass er sich zwar gefühlsmäßig aus ihrer Familiengeschichte hatte heraushalten können, aber dass er sicherlich seine eigene schwierige Geschichte mit sich herumtrug. Ein Mensch, der mit beiden Beinen fest im Leben stand, hätte sich auf ein derart unglaubliches Abenteuer, das ihm mit der plötzlichen Wiederkehr von Sarahs Großvater beschert worden war, niemals eingelassen.

Als sie sich daran erinnerte, was ihr Großvater in der vergangenen Nacht über seine Ankunft in Paris erzählt hatte, dem überraschenden Auftauchen neben Matthew, wusste sie ihre Schlussfolgerungen bestätigt. Wer verbrachte schon die Nacht auf einer Holzbank am Ufer der Seine! Doch nur jemand, der das dringende Bedürfnis hatte, irgendetwas mit diesem Fluss auf eine nie enden wollende Reise zu schicken.

Sarah erhob sich mit steifen Gliedern von dem Sofa, auf dem sie nun schon den ganzen Vormittag hindurch gesessen hatte. »Ich mache uns Kaffee«, verkündete sie und bahnte sich einen Weg durch ihre Recherchen in Richtung Küche. »Ich helfe dir!«, hörte sie Matthew hinter sich rufen. Zu Boden fallende Bücher und raschelndes Papier auf dem Boden verrieten, dass er ihr in die Küche folgte. Sarah hatte nichts dagegen. Vielleicht war es ganz gut, wenn ihr Großvater ein bisschen Zeit hatte, um über das Gehörte nachzudenken und sich wieder zu sammeln.

In der Küche kümmerte sich die junge Frau um den Kaffee, während Matthew eine Packung Zigaretten zückte.

»Darf ich?«, fragte er vorsichtshalber. Sarah zögerte. Eigentlich war ihr der Zigarettenrauch in der Wohnung gar nicht recht, aber wie sollte sie das bei dem miserablen Zustand ihrer Behausung rechtfertigen? Wohl kaum mit einem angeblichen Reinheitswahn. Also zuckte sie nur die Achseln. Matthew sah sie noch einen Augenblick lang an, aber als nichts weiter folgte, beschloss er, dass ihm ein Achselzucken genügte.

Er angelte sich eine Zigarette aus der verknautschten Packung und hielt ein Feuerzeug daran. Nichts geschah. Matthew schüttelte das Plastikteil ein paar Mal, aber das Ding hatte anscheinend den Geist aufgegeben. Fragend blickte er zu Sarah. »Du hast nicht zufällig ein Feuerzeug?«

Die junge Frau sah sich in der Küche um. Natürlich hatte sie ein Feuerzeug. Die Frage war nur – wo? Wortlos begann sie zu suchen. Zog Schubladen auf, räumte Teller beiseite, schaute unter Notizzetteln nach und öffnete Schränke. Es dauerte gut fünf Minuten, bis sie das Ding endlich gefunden hatte. Noch dazu an einem völlig unmöglichen Ort. Ohne ihren Begleiter anzusehen, reichte sie ihm das Feuerzeug.

»Danke.« Matthews Stimme klang belustigt. »Die Ordnung in deiner Küche entbehrt wirklich jeglicher Logik.« Nun blickte Sarah ihm doch ins Gesicht. War das etwa der Dank für ihre Suche? Oder dafür, dass er in ihrer Wohnung rauchen durfte? Irritiert zog sie eine Augenbraue hoch. Hätte sie gewusst, dass ihr Großvater mit diesem Fremden etwa dreißig Jahre nach seinem Verschwinden unvermittelt hier auftauchen würde, hätte sie natürlich vorher Ordnung gemacht!

Sarah beschloss, dass sich eine Entgegnung nicht lohnen würde – außerdem war sie ihr zu spät eingefallen – und wandte sich wieder dem Kaffee zu.

Als sie mit den dampfenden Tassen zurück ins Wohnzimmer kamen, stand Henri Dupoit mit dem Rücken zur Tür am Fenster und blickte nach draußen. Sarah und Matthew mussten sich mehrmals bemerkbar machen, bis er aus seinen Tagträumen auftauchte und sich ihnen langsam zuwandte. Ein trauriger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Ohne irgendetwas zu sagen, setzte sich Dupoit wieder auf seinen Sessel.

Sarah reichte ihm eine Tasse mit heißem Kaffee und deutete mit dem Kopf auf ein Tablett, das sie tatsächlich wohlbehalten durch den im Chaos versunkenen Raum balanciert hatte. »Ich wusste nicht, ob du Milch oder Zucker nimmst«, meinte sie erklärend. Ihr Großvater schüttelte dankend den Kopf.

»Nur schwarzer Kaffee ist richtiger Kaffee«, deklarierte er mit dem Anflug eines leichten Lächelns. Anscheinend war ihm daran gelegen, die getrübte Stimmung wieder ein wenig aufzulockern. Sarah grinste und pflichtete ihm rasch bei. Dann warf sie einen provozierenden Blick auf Matthew, aber der ließ sich nicht in eine Debatte verwickeln. Seelenruhig hob er seine Tasse gezuckerten Milchkaffees und nahm einen großen Schluck. Sarahs Grinsen wurde breiter.

Dupoit beobachtete die wortlose Unterhaltung der beiden jungen Leute und nahm selbst einen tiefen Schluck aus seiner Tasse. Ein wohliger Seufzer kam über seine Lippen.

Matthew runzelte die Stirn. »Sagen Sie bloß, es gab keinen Kaffee in dieser anderen Welt?« Seine Stimme klang ehrlich schockiert.

Sarahs Großvater schüttelte wehmütig den Kopf. »Händler, die ich dort getroffen habe, konnten mir etwas Ähnliches verkaufen. Aber Kaffee … echten Kaffee … nein.«

Sarah beschloss, dass sie nun lange genug auf die Fortsetzung – oder in ihren Augen eher den Höhepunkt – seiner Geschichte gewartet hatte. Sie wollte endlich wissen, wie ihr Großvater verschwunden war.

»Du hast uns von den geheimen Räumen erzählt, die du gefunden hast«, begann sie vorsichtig. Dupoit sah sie an und nickte. Ein wissendes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. Sarah war froh, dass er ihre Neugier zu verstehen schien und sie auch nicht lange auf die Fortsetzung seiner Geschichte warten ließ.

»Keiner von denen brachte mich in meiner Suche weiter«, begann Dupoit erneut zu erzählen. »Also brütete ich monatelang über der Karte und den Textpassagen, die ich in Coleridges und Malorys Werk fand.« Sarahs Großvater schenkte seiner Enkelin einen bezeichnenden Blick, bevor er in seiner Geschichte fortfuhr. »Ich kam an einen Punkt, an dem mir die ganze Suche sinnlos erschien. So sinnlos, dass ich bereits überlegte, die ganze Sache aufzugeben und mir ein anderes Forschungsthema zu suchen.« Ein bitterer Zug spielte um Dupoits Mundwinkel. »Hätte ich das nur getan!«

Sarah konnte nicht anders. Sie beugte sich vor, ergriff die Hand ihres Großvaters und drückte sie fest. Dupoit standen Tränen in den Augen, als er sie ansah. Sarah erwiderte den Blick. Sie wusste genau, wie ihm damals, vor dreißig Jahren, zumute gewesen war. Sie wusste, welche Gedanken ihn bewegt und welche Gefühle in ihm gerungen hatten. Dupoit erwiderte den Händedruck und sammelte sich, um fortfahren zu können. »Malorys Text ist der Schlüssel.« Sarah starrte ihn an. Sie kannte diesen Text! Aber wo bitte war der Schlüssel? Sie hatte keinen direkten Hinweis auf den Verbleib des Gefangenen gefunden. Hatte sie etwas übersehen?

Dupoit hielt es nicht länger auf seinem Sessel. Er erhob sich und sah auf seine beiden Zuhörer hinunter. Mit ausdruckslosem Gesicht begann er, einen der hervorgehobenen Textabschnitte aus Malorys Werk auswendig zu rezitieren:

»... and there is the mad man. ... Take that naked man with fairness, and bring him to my castle. ... blessed be God ye have your life, and now I am sure ye shall be discovered ...«

Sarah fühlte ihren Hals trocken werden. Die Zeilen klangen schicksalsträchtig. Und sie waren es auch! Dupoit ließ die Worte einen Augenblick lang auf sie wirken und fuhr dann fort: »Den Gefangenen habe ich nicht gefunden.« Das einzugestehen, fiel ihm sichtlich schwer. »Aber einen weiteren Hinweis. Im Text ist die Rede davon, dass der Gefangene in ein Schloss gebracht wird, wo man ihn umsorgt und er in Frieden darauf warten kann, dass er gefunden wird.« Dupoit sah seine Enkeltochter an. Das einzige, was er sagte, war ein Name: »Le château des livres.«

Sarah erstarrte. War das etwa sein Ernst? Sie kannte Le château des livres. So, wie sie jede Buchhandlung und jedes Antiquariat in Paris kannte. Eine kleine Stimme in ihrem Kopf erinnerte sie hinterhältig an die Buchhandlung, die sie vor ein paar Tagen auf ihrem Weg zur Universität entdeckt hatte. Sarah stutzte. Die hatte sie dort tatsächlich noch nie zuvor gesehen!

Sie bemerkte, dass ihre Gedanken abschweiften und konzentrierte sich wieder auf das, was ihr Großvater gesagt hatte. »Das Antiquariat am anderen Ende der Stadt?«, fragte sie aufgeregt. Dupoit nickte. Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, als er sich in seiner Ahnung bestätigt sah. Seine Enkeltochter konnte mit dem Namen etwas anfangen!

»Ich machte mich auf den Weg«, erzählte er mit leiser, schwerer Stimme, »ohne zu wissen, dass es das Letzte sein würde, was ich hier in Paris zu sehen bekam.« Seine Stimme brach. Sarah sah ihn besorgt an.

»Was ist passiert?«, fragte sie ängstlich, ihre eigene Stimme nur noch ein Flüstern. Matthew hatte sich auf dem Sofa nach vorne gebeugt und blickte gespannt auf Dupoit. Der musste ein paarmal tief durchatmen, bevor er ihnen das Ende seiner Geschichte, das Ende seines Lebens auf der Erde, erzählen konnte. »Ich betrat das Antiquariat. Eine kleine Glocke über der Ladentür kündigte mich an, aber niemand erschien, um mich nach meinen Wünschen zu fragen. Ich ging langsam durch den Verkaufsraum. Da waren … so viele Bücher!«

Sarahs Großvater hatte die Augen geschlossen. Seine Stimme klang furchtsam, als er sich an das Geschehene erinnerte. »Als ich am hinteren Teil des Raumes angekommen war, spürte ich es plötzlich.« Dupoits Finger umklammerten das Fensterbrett, vor dem er stand. Seine Knöchel waren weiß.

»Es war … wie ein Ruf. Ein Zwang. Irgendetwas wollte, dass ich mich ihm näherte. Wie in Trance ging ich weiter durch den düsteren Verkaufsraum, bis ich an ein hölzernes Regal kam. Bücher. Das gesamte Regal war voller Bücher. Ich stand davor und auf einmal hörte ich ihn wieder. Diesen Ruf. Und da wusste ich es.«

Sarahs Großvater öffnete plötzlich die Augen und starrte an seinen Zuhörern vorbei ins Leere. »Ich wusste, dass ich etwas Großes vor mir hatte. Etwas Einmaliges. Da war ein Buch, das zu mir sprach. Nicht wirklich natürlich. Aber in meinen Gedanken konnte ich es hören. In meinen Gefühlen konnte ich es spüren. Es war da. Und es wollte, dass ich es an mich nahm.«

In Dupoits Augen trat ein Schmerz, der so groß war, dass Sarah ihn kaum ertragen konnte. »Ich streckte meine Hand nach dem Buch mit dem dunkelbraunen Ledereinband aus. Fühlte es auf meiner Haut. Es fühlte sich richtig an. Besonders.« Die Stimme von Sarahs Großvater war heiser vor Schmerz. »Aber es war eine Falle. Gerade als ich es berührte, nahm es mich mit.«

Über Dupoits Wangen rannen Tränen, die er nicht mehr zurückhalten konnte. Sein Verlust war einfach zu groß. »Es setzte mich gefangen. Dreißig verdammte Jahre lang!«

Der Weltenschreiber

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