Читать книгу Vernehmungen - Heiko Artkämper - Страница 117
3.7.6.3Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung
Оглавление327Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ist geprägt von der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden, der – allein oder mit seinen hauptamtlichen Richterkollegen – im Vorfeld bereits die Eröffnung beschlossen und damit einen hinreichenden Tatverdacht bejaht hat. Die Hauptverhandlung fängt daher nicht bei Null an, sondern, um es mit den Begrifflichkeiten von Schweizer auszudrücken, geht bereits von einer Hypothese, die Verurteilung(swahrscheinlichkeit) lautet, aus: „Die Forschung zum primacy-effect legt nahe, dass die Hypothese, die von dem oder den ersten Beweismitteln favorisiert wird, zur Arbeitshypothese wird und die Bewertung der weiteren Beweismittel beeinflusst“.17
328Aufschlussreich sind auch hier die Untersuchungen von Schünemann,18 die eindrucksvoll belegen, dass auch bei Richtern alle vorgenannten Phänomene relevant werden.
329Im Gerichtsverfahren führt
–die Kenntnis der Ermittlungsakten zu einer höheren Verurteilungsquote (bestätigende Informationsverarbeitung/Primacyeffekt/Inertia- und Perseveranzeffekt),
Gleiches gilt, wenn Richtern eine Fragemöglichkeit eingeräumt wird (bestätigende Informationsverarbeitung),
–mit der Ermittlungsakte inkongruente Informationen werden schlechter wahrgenommen (bestätigende Informationsverarbeitung/Inertia- und Perseveranzeffekt),
–die Anzahl der Fragen ist von der (vorhandenen) Aktenkenntnis abhängig (bestätigende Informationsverarbeitung).
330Der Mensch ist somit äußerst fehleranfällig; er muss zumindest die Phänomene (er)kennen, um sich der damit verbundenen Gefahren bewusst zu sein.
331Bestätigungsfehler oder Bestätigungstendenzen führen dann im Rahmen der Entscheidungsvorbereitung dazu, dass konsistente – die Hypothese stützende – Informationen bevorzugt gesucht, erhoben und stärker gewichtet werden als inkonsistente Informationen, ambivalente Informationen als Bestätigung interpretiert und inkonsistente Informationen – wenn sie überhaupt wahrgenommen werden (müssen) – etwa aufgrund von Beweisanträgen und/oder präsenten Beweismitteln – als unbedeutend für die Entscheidung eingeschätzt werden.
332Eine nicht unwesentliche Rolle spielt auch die Berichterstattung im Vorfeld und während eines Verfahrens, teilweise schon unmittelbar nach Bekanntwerden der Tat. Die Berichterstattungen der gewerblichen Medien im Rahmen spektakulärer Hauptverhandlungen sind teilweise von einer erschreckenden Parteilichkeit gekennzeichnet, die über Wochen und Monate hinweg das Neutralitätsgebot missachten und schon vorab unkritisch und laienhaft strafrechtlich relevante Schuldzuweisungen vornehmen. Es erfolgt beispielsweise eine eindeutig und einseitig gegen die Angeklagten gerichtete und damit einer sachlichen Aufklärung des Geschehens abträgliche Emotionalisierung des Verfahrens, die von allen Verfahrensbeteiligten bewusst oder unbewusst wahrgenommen wird.