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4Transfer von Vernehmungen in die Hauptverhandlung

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339Die Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung folgt eigenen Spielregeln. Juristen – Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter – scheinen Kriminalisten oftmals im Wege zu stehen, wenn es um die Wahrheitsfindung geht; dies hängt, wie zu zeigen sein wird, damit zusammen, dass hier unterschiedliche Wahrheitsbegriffe unerkannt zugrunde gelegt und stillschweigend vorausgesetzt werden. Für Kriminalisten schwer verständlich – ja teilweise skurril – sind die Spielregeln in der Hauptverhandlung; es geht um die Frage, was wie rekonstruiert werden kann1 und an welchen Stellen Sachverhalte dem Urteil zugrunde zu legen sind, die dem Akteninhalt und dem tatsächlichen Tatgeschehen teilweise diametral entgegenstehen.2

Beispiel:

340Wenn etwa die Tochter einer Beschuldigten sich über den Polizeinotruf an die Polizei wendet, weil ihre Mutter gerade mit einem Messer auf den Vater eingestochen hat, so ist der erste Teil des Notrufes „Mama hat gerade mit einem Messer auf Papa eingestochen!“ auch bei Angehörigen als sogenannte Spontanäußerung, die von einem Strafverfolgungswillen getragen ist, verwertbar. Weitergehende Äußerungen der Tochter, die ohne Belehrung auf Nachfrage der Polizeibeamten erfolgen, unterliegen einem Verwertungsverbot. Auch wenn die Tochter noch während des Notrufes dann das weitere Tatgeschehen schildert und mitteilt, dass sie ihrer Mutter das Messer entwendet habe und es daher nicht zu einer weiteren Ausführung der Tat gekommen sei, kann der später prozessual festzustellende Sachverhalt sich von der objektiven Wahrheit weit entfernen. Wenn ohne richterliche Vernehmung im Ermittlungsverfahren sowohl der Geschädigte als auch die Tochter im Rahmen der späteren Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen und die Angeklagte zur Sache schweigt, stellt sich für Staatsanwalt und Gericht die Frage, welcher Sachverhalt erwiesen werden konnte und einer Verurteilung zugrunde gelegt werden darf.

341Obwohl der Staatsanwalt, der Berichterstatter3 und der Vorsitzende, ebenso wie die Angeklagte und der Verteidiger, den Akteninhalt und damit den Inhalt des Notrufes kennen, müssen sie sich an die Spielregeln halten. Es kann daher lediglich aufgrund der verwertbaren Spontanäußerung festgestellt werden, dass die Angeklagte auf den Geschädigten eingestochen hat. Entgegen dem aktenkundigen weiteren Geschehensablauf ist dann allerdings zugunsten der Angeklagten zu unterstellen, dass sie freiwillig die weitere Tatausführung aufgegeben hat und daher wirksam vom unbeendeten Versuch eines Tötungsdeliktes zurückgetreten ist. Eine Verurteilung kann daher allenfalls wegen gefährlicher Körperverletzung, nicht aber wegen des tatsächlich vorliegenden versuchten Tötungsdeliktes erfolgen.

342Dies gilt selbst dann, wenn die Tochter am Tag nach der Tat und nach ordnungsgemäßer – ggf. sogar qualifizierter – Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht bei der Polizei eine umfangreiche und detaillierte Aussage gemacht hat, die allerdings als nicht-richterliche Vernehmung nicht verwertet werden darf.

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