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Die arme Esther

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Das Paar teilte augenscheinlich dieselbe Wohnung in der alten Abtei, worüber der Kanzelredner Boucher sich vor ganz Paris den Mund zerriß. Sein Erfolg war indessen nicht mehr auf der Höhe. Sein Publikum drückte sich nicht tot, die Fallsucht trat seltener auf: dies erstens wegen des Versagens der Ständeversammlung. Man sah endlich, daß die verschiedenen Bewerber um den Thron Frankreichs auf schwachen Füßen standen, einer wie der andere, aber vor dem Tor der Hauptstadt wartete der wahre König, brauchte nur abzuschwören und konnte alsbald einziehen. Auch bewies er seine Zuversicht, da er keinen Versuch mehr machte, gewaltsam einzudringen. Die Tore standen offen, die Bauern brachten ihre Vorräte, die Pariser wagten sich heraus. Sie waren satt gegessen, davon faßten sie Mut, bekamen auch die längst abgelegte Wißbegier zurück: wer immer nur mit knurrendem Magen denselben Boucher lügen hört, vergißt zuletzt wirklich, daß man hinsehen und erkennen sollte.

In Massen zogen sie nach Saint-Denis, drangen aber nur einzeln bis in die Nähe der alten Abtei; höchstens waren es zwei Freunde, die sich gemeinsam zu verteidigen gedachten. Schließlich hatte man es hier mit dem Antichrist zu tun, dafür sprach das meiste, denn wie hätte sonst ein exkommunizierter Ketzer seine Person solange behaupten können gegen die ganze Liga, die spanischen Armeen, das Gold Philipps und den päpstlichen Bannstrahl. Zwei kleine Bürger stahlen sich heute in den Klostergarten, suchten ein Versteck und wollten ausharren mit Hilfe der mitgenommenen Lebensrnittel. Nein, da ist das Ungeheuer, pünktlich, als ob man den Teufel beschwört, nur daß ihm keine Wolke von Schwefel vorangeht. Er hat nicht einmal seine Leibwache bei sich, ist ungerüstet, unbewaffnet; wie ein König ist der nicht gekleidet. Schon sind wir entdeckt, obwohl er uns hinter der Hecke nicht hätte sehen können. Es muß um ihn was Besonderes sein. „Sire! Wir haben keine bösen Absichten.“

„Ich auch nicht.“

„Wir schwören: Niemals haben wir geglaubt, daß Sie der Antichrist sind.“

„Euch mußt ich nun doch für dumme Teufel halten. Jetzt wird es Zeit, uns besser kennenzulernen. Sollen alle drei noch lang zusammen leben.“

Auf seinen Wink verließen sie ihre Deckung, und ehe es gedacht, lagen sie vor ihm auf den Knien. Er lachte gutmütig über ihre verdutzten Gesichter, fragte auf einmal ernst nach ihrer kürzlich verbrachten Zeit der Not; und da sie ein gewisses Mehl erwähnten, sie hatten es wirklich von den Friedhöfen geholt, was sie selbst schon nicht mehr glauben wollten: da schloß der König die Augen und erbleichte.

Von dieser Begegnung berichteten sie nachher einer großen Zahl begieriger Personen, die aber weniger seine Worte zu kennen verlangten als seine Miene und Gebärden. Ob er böse wäre, ob gut.

„Er ist traurig“, bekundete einer derer, die ihm nahe in das Gesicht geblickt hatten. Der andere widersprach.

„Wie kannst du das wissen. Die ganze Zeit hat er sich lustig gemacht. Obwohl. Allerdings.“ Hier stockte der Mensch, der ihn für einen Spaßmacher hielt.

„Obwohl. Allerdings“, sagte in Zweifeln befangen auch der, dem er betrübt erschienen war.

„Groß ist er.“ Darin waren beide einig. „Vonhohem Wuchs, leutselig und so einfach, daß man erschrickt, ja, daß man —“

„Ihm die Hand gibt“, schloß schnell der zweite. Der erste schwieg betreten. Er hätte fast verraten, daß sie vor dem König am Boden gelegen hatten.

Der König empfing nun in seinem Klostergarten den Besuch des Pastors La Faye, der hielt an der Hand eine verschleierte Frau. „Wir sind ungesehen eingetreten“, waren die ersten Worte des alten Mannes.

Henri konnte keinen Sinn darin finden, er sah von dem Pastor zu der Frau; ihr Schleier war aber dicht. „Ungesehen — und unerwartet“, äußerte er in Eile; er war auf dem Wege zu Gabriele.

„Sire! Lieber Sohn“, sagte der Alte. „Gott vergißt nichts, und wenn wir am wenigsten darauf gefaßt sind, führt er uns unsere Taten vor Augen. Wer sie beging, soll sie nicht verleugnen.“

Hier begriff Henri. Diese Frau mußte er gekannt haben, wer weiß wo und in was für Tagen. Vergebens suchte er nach einem Zeichen auf ihrer unbedeckten Hand. Kein Ring; aber die Finger waren gequollen und eingerissen von Arbeit. Innerlich riet er Namen, fürchtete übrigens, belauscht zu werden, gern hätte er sich nach den Fenstern des Hauses umgesehen.

„Sie ist von unserem Glauben“, sagte La Faye und entschleierte sie. Da war es Esther aus La Rochelle: Henri hatte sie geliebt so gut wie zwanzig andere und vielleicht besser als zehn von ihnen, wer unterscheidet es noch. Er ist unterwegs zu Gabriele.

„Madame de Boislambert, wie ich sehe. Madame, der Augenblick ist schlecht gewählt, ich habe Geschäfte.“ Er denkt: ,Gabriele, der dies ganz gewiß hinterbracht wird!‘

Pastor La Faye mit wehenden weißen Haaren, sehr fest: „Sehen Sie besser hin, Sire! Vor ihrem Gewissen fliehen die von der Religion nicht.“

„Wer spricht von Flucht.“ Henri stellte sich zornig, aber im Verlauf seiner Rede wurde er es in der Tat. „Ich flieh ja nicht, hab aber Geschäfte und erlaube keinen Überfall. Auch Ihnen nicht, Herr Pastor.“

„Sire! Sehen Sie besser hin“, wiederholte der Pastor. Da sank in Henri eine Schwinge nieder, ihn trug nichts mehr, weder Verlangen noch Zorn. Vor ihm, jetzt wirklich entschleiert, eine gealterte, kranke und ärmliche Person — hatte aber einst sein Geschlecht entzückt und seine Kraft begeistert. Er wäre nicht soweit gelangt, nicht bis vor das offene Tor seiner Hauptstadt, wenn diese alle ihn nicht entzückt und begeistert hätten. ,Esther! Das ist aus ihr geworden. La Rochelle, Festung am Meer, starke Zuflucht der Hugenotten, wir zogen aus ihr in viele Schlachten als Kämpfer für das Gewissen. Nicht nötig, Pastor, mich anzublitzen: wir sind einig. Es war der rechte Augenblick.‘

„Madame, was ist Ihr Anliegen?“ fragte Henri.

Er denkt: ,Der Augenblick für die Hugenottin Esther, mir elend unter die Augen zu treten, ist genau dieser. Ich soll die Religion abschwören, dafür bin ich glücklich mit Jesabel, die den König Ahab zum Gotte Baal verführt. Wird aber dereinst von den Hunden gefressen. O schnell bestrafte Schönheit, unser Undank schwärzt sie: Esther aus La Rochelle haben nunmehr der Kummer und die Not im Gesicht geschwärzt!‘

Hier wäre er dennoch geflohen, wenn sie nicht gesprochen hätte. Ihre rauhe, schwache Stimme sprach:

„Sire! Ihr Kind ist tot. Seitdem zahlt Ihre Kasse mir nicht mehr. Ich bin von den Meinen verstoßen, bin allein und darbe. Barmherzigkeit!“

Sie versuchte ein Knie zu beugen, aber ausgroßer Schwäche wäre sie umgefallen. Nicht Henri, der alte La Faye fing sie auf. Sein Blick blitzte streng, und Henri beantwortete ihn trostlos. Dann ging er. Zuletzt hatte er dem Pastor zugenickt, als ein Versprechen, daß alles geschehen sollte. Hierüber dachte er nach, während sein Schritt, in den Gängen des Hauses, immer langsamer wurde. ,Was hab ich getan, was kann ich noch retten. Dies ist das unverzeihlichste Beispiel meiner Gefühllosigkeit. Flüchtige Tränen, die ich weine, und bin jedesmal unterwegs zu der nächsten. Das ist auch mein Ruf, alle kennen ihn, ich selbst bemerke als letzter, wie es um mich steht.‘

Ihm ging wahrhaftig ein Licht auf, und er staunte, was ihm zustieß. Er machte Opfer. Nach allen Regeln und seinem wirklichen Bewußtsein hätte er anders handeln müssen, da er die Mühen des Lebens aus eigenem sehr wohl kannte und der inneren Festigkeit immer bedurft hatte, sowohl in der Schule des Unglücks wie auf dem Weg zum Thron. Unsere gute Haltung wird aber bezahlt mit einigen geopferten Wesen. Henri erinnerte sich nochmals an Esther, weil ihm die Rente, die er ihr geben wollte, durchaus fehlte: er hätte denn um ebensoviel Gabriele, seine teure Herrin, kürzen müssen. Das hielt er für außer Frage und fürchtete sich davor, da sie gewiß nichts nachließ. Er brauchte nur das Bild zurückzurufen, wie ihre schöne Hand, auf der Lehne des Sessels, den Stein erglühen ließ, den Stein, den Herr d’Estrées gestohlen hatte.

In Sorgen vertieft, betrat er ihre Gemächer ungewöhnlich leise. Aus dem Vorzimmer spähte er durch die offene Tür: da saß die Schöne an ihrem Frisiertisch. Sie schrieb. ,Eine Frau soll aber nicht schreiben, außer mir selbst. Welcher andere Brief wäre ganz unverdächtig.‘ Henri bewegte sich völlig geräuschlos, und jetzt nicht mehr infolge Vertiefung. Endlich blickte er der Schreibenden über die Schulter, ohne daß sie ihn bemerkte, obwohl alles, was beide taten, vor dem hellen Glas eines runden Spiegelchens geschah. Henri las: „Madame, Sie sind im Unglück.“

Er erschrak, wußte sogleich, worauf dies hinaus wollte, und folgte dennoch mit angstvoller Spannung der Feder, die knirschte, sonst hätte man vielleicht seinen Atem gehört. Sein Atem trübte den Spiegel. Die Feder malte groß hin: „Madame, das ist unser Schicksal, wenn wir schönen Worten geglaubt haben. Wir müssen uns hüten, sonst gehen wir mit Recht zugrunde. Sie tun mir nicht leid, denn Ihr Verhalten ist klein, und Ihr Auftritt hier im Garten entehrt mein Geschlecht. Damit Sie verschwinden, will ich Ihnen Geld geben. Der Vater Ihres toten Kindes könnte es leicht vergessen.“ Es ging so fort, nur Henri hatte genug gelesen. Der Spiegel war von seinem Atem getrübt, sie fand darin kein Gesicht, als sie plötzlich aufsah. Alsbald verließ er rückwärts das Zimmer, überzeugt, daß sie wußte: er war da gewesen; und mehr für ihn als an die andere hatte sie geschrieben.

Er entfernte sich auf mehrere Tage, ja, überlegte den Bruch mit Gabriele. Sie war hoch und schwierig. Durch den Brief hatte sie ihm bekanntgegeben, daß sie niemals verzeihen würde, wenn er der anderen half. In Wirklichkeit wagte er es nicht. Seine Geschäfte in mehreren Städten sollten dienen, daß er die Launen seiner Herrin vergäße. Er vergaß ihre Launen, aber nicht sie; und vor großer Sehnsucht nach Gabriele blieb ihm kein einziger Gedanke übrig für eine Arme. Am dritten Tag erfuhr er, daß seine Geliebte den Herzog von Bellegarde bei sich empfangen hatte.

Er geriet in eine Hitze, anfangs ähnlich dem Fieber, das ihn während seiner ganzen Jugend nach außerordentlichen Anstrengungen befallen und niedergeworfen hatte — ein Versagen der selbstgewissen Natur, es öffnet sich das Nichts: daher diese Hitze. Der Vierzigjährige läßt sich von ihr nicht mehr überraschen. Den offenen Spalt seines Lebenswillens schließt er mit eigener Hand: das vermag dies gesicherte Lebensalter. Aufs Pferd und den Verrätern zu Leib! Er ließ seine Begleiter hinter sich, und stöhnte in den Wind hinein seine Klage, seine Rache. Handeln! Auf kein Bett sinken und verzweifeln, das kann nicht Vorkommen, aber die Strafe soll hereinbrechen über alle beide. Er jagte in voller Dunkelheit durch einen Wald, bis sein Tier stürzte und er auf dem dürren Laub saß. „Herr de Praslin!“ rief er, als die Edelleute eintrafen.

In das hingehaltene Ohr sprach er Aufträge, nie im Leben hätte er sie zu geben gedacht. Bellegarde sollte sterben. „Führen Sie es aus! Sie haften mir mit Ihrem eigenen Kopf.“ Praslin liebte den Großstallmeister wenig, er hätte ihn im Zweikampf wohl getötet: nur glaubte er dem König nicht. Das ist kein König für Meuchelmörder, hat nie einen persönlichen Feind zum Tode befördert, mit seinem Feuillemorte wird er nicht anfangen. Praslin antwortete vernünftig: „Sire! Wir wollen es Tag werden lassen.“

Der König fuhr auf. „Sie denken, ich wäre von Sinnen. Ich will aber, was ich Ihnen befehle. Nicht nur Bellegarde. Sie sollen nicht ihn allein töten, wenn Sie beide beisammen treffen.“

„Im Dunkeln hör ich schlecht“, sagte Herr de Praslin. „Sire! Sie sind überall berühmt für Ihre Güte, sind der Fürst einer neuen Menschlichkeit und des Zweifels, den die Philosophen fruchtbar nennen.“

„War das?“ fragte Henri rauh. „Weiß nichts mehr davon. Beide sollen sterben — die Frau noch eher, sie zuerst.“ In einem Aufschrei: „Ich kann das nicht sehen“ — und er verhüllte die Augen vor seinen inneren Bildern.

Der Zeuge der dunklen Stunde trat fort soweit als möglich, damit er ihr nicht länger beiwohnte. Zuletzt schwang der König sich wieder in den Sattel. Bei der Ankunft in Saint-Denis graute der Morgen. Henri rast die Treppe hinan, er verlangt Einlaß, muß eine Weile draußen stehen, und durch die unbewegliche Tür erkennt er, wie wenn er drinnen wäre, alle die Vorgänge eines überstürzten Aufbruchs. Eine Angst quält ihn: die drinnen können keine größere erleiden. Das Schloß springt endlich auf, seine liehe Herrin steht vor ihm — eine Wiedergekehrte, er bemerkt auf einmal, daß er sie verloren gegeben hatte. Sein Blut schießt zum Herzen, weil er sie zurück hat. Sie ist angekleidet wie zur Reise, eine völlig angekleidete Frau beim grauenden Tag, angesichts des Fensters, das geklirrt hat, als es aufgerissen worden ist. Auch der Sprung in den Garten war zu hören gewesen.

„Erklären Sie das alles, Madame.“

Sie trug den Kopf hoch und antwortete gelassen.

„Jemand, der bei Ihnen in Ungnade gefallen ist, bat um meine Fürsprache.“

„Er ist aus dem Fenster gesprungen. Man soll ihn aufhalten.“

Sie vertrat ihm den Weg. „Sire! Ihre Feinde von der Liga haben ihm Anträge gemacht; er aber hat Sie nicht verraten.“

„Mit der Liga und mit Ihnen! Madame, wie kommt es, daß Sie angekleidet sind und Ihr Bett ist zerwühlt? Fürsprache! Beim Tagesgrauen und einem zerwühlten Bett.“

Sie stellte sich mit ihrem breiten Rock davor. „Was Sie befürchten, ist nicht geschehen“, sagte sie in aller Ruhe.

Er stampfte auf, damit der Verlauf weniger nüchtern würde. „Verteidigen Sie sich! Sie wissen noch nicht, daß ich gekommen bin, um Sie fortzujagen.“

Sie sah ihm prüfend in die Augen, wie wenn bei einem das Fieber im Anzug ist. „Setzen Sie sich“, verlangte sie — tat es auch selbst und gab den Blick auf das zerwühlte Bett frei. Dann sprach sie:

„Sire! Sie beleidigen mich nicht das erstemal. Sie haben Herrn d’Estrées mißachtet. Ferner würdigten Sie mich herab, als Sie dort unten jene Frau empfingen. Sie verreisten ohne Abschied, ich beging die Schwäche, einem verläßlicheren Freund auf seinen Brief zu antworten. Er erschien bei mir vor Tag, was Sie zartfühlend nennen sollten. Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn das erwachte Haus uns beobachtet hätte?“

Er hörte dies mit Anstrengung zu Ende, er klammerte sich an die Armlehnen, um nicht vom Sessel aufzuspringen. Statt dessen zog er ihn nahe vor sie hin und sprach ihr Wort für Wort ins Gesicht:

„Er sollte dich holen: darum bist du angekleidet. Ihr wolltet fort. Ihr wolltet euch heiraten.“

„Mit Ihrer Erlaubnis“, erwiderte sie — hielt das Gesicht erhoben, entfernte es aber nicht von dem seinen.

„Die geb ich niemals“, murmelte er. „Der Mutter meines Kindes“, sagte er plötzlich laut. Bei dem Wort schlug sie zweimal schnell mit den Wimpern — sonst nichts, dann eine Pause. Beide Knie an Knie, beinahe Kinn an Kinn, und eine atemlose Pause. Ihm war zuerst kalt geworden, auf einmal trockneten ihm Mund und Hals aus, er konnte nicht schlukken, ging zum Tisch und trank Wasser. Hierauf verließ er das Zimmer. Er hatte sie nicht mehr angesehen.

Madame de Liancourt wartete nicht länger, sie ließ ihre Koffer packen. Sie war im Ungewissen, ob sie verspielt hatte. Angezeigt schien eine Reise zu der Tante de Sourdis. Dame de Sourdis hätte gesagt: „Was auch kommt, bitte niemals und sprich um keinen Preis das Wort: danke.“ Soweit hörte Gabriele ihre Beraterin sogar aus der Ferne, indessen sie den Mädchen wegen der Koffer zerstreute Weisungen gab. Sie besaß wohl keinen tiefen Geist, und aus einer Schwäche des Denkens beging sie folgenschwere Fehler, wie mit Herrn de Rosny. Diesmal aber war es genug, daß der erlernte Grundsatz ihr in den Sinn kam, um nichts zu bitten, für nichts zu danken, immer nur abzuwarten, bis der Gegner sich herbeiließ. ,Er hat niemand‘, bedachte sie. ,Gar niemand in der Welt, da er vor einem Sprung steht, er nennt ihn den Todessprung, weiß auch warum. Seine Partei zu verlieren ist er sicherer, als das Königreich zu gewinnen. Wenn wir des Nachts zusammenliegen: ich sag nicht viel, er spricht mit sich. Es gefällt mir nicht übel, einfältig zu sein.‘

Hier befahl sie ihren Dienerinnen, mit Packen aufzuhören. Allein geblieben, zog sie das leichteste, durchsichtigste Gewand an; auf einmal war es ihr gewiß, daß er zurückkehren mußte. ,Seine Frauen haben ihn meistens betrogen, und er lachte darüber. Das ist er nicht anders gewohnt, zu viele erzählen davon. Er war niemals eifersüchtig, zuerst ist er es diesmal.‘ — „Das muß für ihn schlimm sein“, sagte sie halblaut, und die Hände weich im Schoß, empfand sie einen vorläufigen Anflug von Zärtlichkeit für den, der um ihretwillen ein anderer wurde und seine Fähigkeit zu leiden mit ihrer Hilfe bereicherte. Sie ging bis nahe an die Reue. ,Ich schlug mit den Wimpern, als er von seinem Kinde sprach!‘

Er trat ein, hob ihre beiden Hände auf und sagte: „Madame, es soll vergessen sein.“

„Es tut Ihnen leid, Sire“, erwiderte sie nachsichtig — bemerkte aber gut genug, was für eine furchtbare Stunde er verbracht hatte. Sein Gesicht wollte blaß und müde sein. Verwittert von allen Feldzügen und durch den Kampf von jeher gestrafft, wird ein Gesicht nicht müde, nicht blaß; man müßte denn unter die Haut blicken. Gerade dies tat sie mit Ergriffenheit.

„Sire! Sie haben die unwiderstehlichste Art, um mich zu werben.“ Damit breitete sie ihm die Arme hin, nicht mehr geduldig und freundlich: endlich mit Verlangen.

Als beide den Augenblick der Hingabe beendet hatten, war darum nichts anders geworden — er, wie vorher ruhelos und stürmisch, sie aber ungewiß und gelassen. „Engel des Nordens“, sagte er verzweifelt. „Schwören Sie mir, daß nichts Ihrer Treue gleichkommen soll, außer der meinen.“ Er hörte aber gar nicht hin. „Welche Treue können Sie mir noch schwören, zweimal brachen Sie mir sie schon. Meinen schrecklichen Verdacht sehen Sie ruhig mit an, indessen Sie einem andern seine offenen Verrätereien verzeihen. Feuillemorte hat Furcht vor der Liga, und nicht nur um das Fräulein von Guise hat er geworben, daneben treibt er es mit ihrer Mutter. Sie sind ihm nichts, und mir gehört er nicht.“

Der Eifersüchtige tat sich nicht genug im Herabsetzen des Gegners, im Ansturm auf dieses unbesiegbare Herz. „Sie konnten ihm schreiben! Nach allen Ihren Versprechungen! Sie dürfen nie wieder sagen: Ich werde tun. Sie sollen sagen: Ich tue. Entschließen Sie sich, Herrin, nur einen Diener zu haben.“

Er stöhnte auf. Beide Hände um die Stirn gepreßt, lief er hinaus. ,Ich kann nicht tiefer sinken‘, fühlte er.

In dem alten Garten erwartete ihn Pastor La Faye. Henri, diesen sehen, und der Zusammenhang seines Unglücks mit seiner Schuld betraf ihn derart, daß er am Fleck anhielt. Der Pastor stand zehn Schritt davon, unter Bäumen. „Die arme Esther ist tot“, sprach er.

Henri senkte das Kinn auf die Brust, er verharrte lange genug wortlos, daß dem alten Mann dort drüben im Schatten nicht geheuer wurde. Er sagte: „Und wär es auch Ihre größte Schuld, Sire! Die arme Esther hat den Sitz der ewigen Liebe erreicht.“

Henri erhob die Stirn, über die Wipfel hin bekannte er der Höhe: „In Tal Josaphat hatte ich zuletzt noch die Wahl“ — und entfernte sich schnell.

La Faye blieb traurig und entsetzt zurück. Der König hat gelästert. Der König ist verwirrt. Bereitet sich vor, die Religion abzuschwören, wagt aber den Vergleich mit dem Heiland, als er versucht wurde, und widerstand.

Erst später erfuhr Pastor La Faye: Tal Josaphat, so hieß das königliche Lager vor Chartres, und als eines Tages der König, mit Schlamm bedeckt, aus den Laufgräben stieg, wer wurde ihm auf einer Sänfte entgegengetragen? Das Wesen, vom Herrn erschaffen für seine unerforschlichen Absichten mit dem König.

Ein alter Protestant hätte nicht geglaubt, daß Gabriele d’Estrées ihrem Gefährten niemals zuredete, den Glauben zu wechseln. Henri selbst kannte die Wahrheit bis jetzt nur, soweit sie einfach im Sprechen und Verschweigen aufzufinden ist. Indessen gab er nachher an, wenn ein Vertrauter ihn über seine Bekehrung befragte: „Sire! Wer hat Sie eigentlich bekehrt?“ Gab an:

„Meine teure Herrin, die reizende Gabriele.“

Die Vollendung des Königs Henri Quatre

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