Читать книгу Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo - Heinz-Joachim Simon - Страница 10
3 – Die schönen Tage im Jardin du Luxembourg
Оглавление(Honoré de Balzac erzählt)
Sie trafen sich regelmäßig im Jardin du Luxembourg, spazierten artig um das große Bassin, sahen zu, wie Kinder ihre Segelboote zu Wasser ließen und mit jeder Begegnung wurden ihre Blicke zärtlicher. Julien störte nur, dass ständig ihre Freundin du Plessis dabei war, die Tochter des kaiserlichen Hofmarschalls, die Mercedes an Schönheit in nichts nachstand. Trotzdem hatte Julien nur Augen für Mercedes und der Blick aus ihren blauen seelenvollen Augen ließ ihm Schauer über den Rücken laufen. Diane hätte durchaus seine Aufmerksamkeit verdient gehabt, aber ihre Schönheit berührte ihn nicht. Beide Frauen hätten kaum unterschiedlicher sein können. Mercedes war lebendiger und befand sich ständig in einem Erregungszustand, zeigte ihre blitzenden weißen Zähne und lachte ein helles glückliches Lachen. Sie heischte nach Aufmerksamkeit und Bewunderung und genoss die Blicke der Männer. Diane dagegen war ernster, das himmelhoch Jauchzende ging ihr ab. Sie musterte Julien mit kritischem Blick, obwohl er ihr nicht unsympathisch war. Sie verurteilte jedoch sein unverhülltes Drängen auf Erfüllung seiner leidenschaftlichen Gefühle, die sie für nicht standesgemäß hielt. Insgeheim hoffte sie auf eine Abkühlung, entweder von Julien, mehr noch von Mercedes, die in ihrem Gefühlsleben, wie sie aus Erfahrung wusste, unstet sein konnte. Sie war guter Hoffnung, dass Mercedes’ Gefühle noch umschlagen und sich bald auf andere Schwärmereien konzentrieren würden.
Doch erst einmal trat keine Veränderung ein. Wenn Diane darauf hinwies, welche Vorzüge Auguste auszeichneten, der zudem von Stand war, wehrte sie dies ab und nannte den Sohn des Ministers einen dummdreisten Jungen, während Julien von der Freundschaft zwischen Heloise und Abelard zu erzählen wusste oder von Cagliostro am Hofe Ludwigs XVI, von den Memoiren des Giacomo Casanovas ganz zu schweigen.
»Auguste dagegen kennt sich nur mit Pferden, Geld und Soldaten aus, was auf die Dauer sehr ernüchternd ist.«
Und wenn Julien von den beiden Schwestern erzählte, die Casanova verführte, gingen die beiden gebückt etwas schneller, pressten ihre Taschen gegen die Körpermitte und atmeten heftig. Ihre Gesichter zeigten eine rote Farbe.
Oh ja, Julien kannte seltsame Geschichten, die er teilweise von Abbé Flamboyant gehört hatte, von den Geheimnissen der Carbonari, vom Siegeswillen des Garibaldi und von jenem Rastignac, der nach Paris kam, um sein Glück zu machen und es, obwohl aus einfachen Verhältnissen, bis ganz nach oben schaffte. Er verschwieg ihnen auch nicht die geheimnisvollen Phrygier und die Loge des höchsten Wesens, die die Welt auf den Kopf stellen wollten, indem sie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit anstrebten, sowie ein Ende der Armut auf Erden.
Je öfter sie sich trafen, je mehr er von Liebespaaren erzählte, die trotz aller Widerstände nicht voneinander lassen konnten, desto inniger hing Mercedes an seinen Lippen. Und schließlich begann auch Diane zu begreifen, dass es Mercedes diesmal wirklich erwischt hatte und es nicht nur eine vorübergehende Schwärmerei war. Wie Julien glaubte nun auch Mercedes, dass alle trennenden Schranken dazu gemacht waren, übersprungen zu werden und Standesdünkel einer vergangenen Epoche angehörten. Wenn Julien rief »Holen wir uns den Himmel auf Erden«, wusste sie, was er insgeheim meinte und immer öfter fanden ihre Hände zueinander. Und schließlich, unter einer Platane im Jardin du Luxembourg, als Diane von einem Bekannten abgelenkt wurde und sie sich erst nur aus Schabernack versteckt hatten, fanden sich ihre Lippen zum Kuss. Wie sie es sich erträumt hatten, war der Himmel ihrem Glück so nah. Doch die Süße wurde schon bald durch bittere Gedanken gestört.
»Meine Eltern werden unsere Liebe nie zulassen. Nie. Nie«, klagte sie verzweifelt, wenn sie einmal Diane abgeschüttelt hatten, was ihnen immer öfter ein Bedürfnis war.
»Ich werde dich entführen«, antwortete er dann. »Wir werden heiraten und sie vor vollendete Tatsachen stellen.«
»Aber wovon sollen wir leben? Wir sind doch noch so jung«, flüsterte sie entgegen ihrem Wunsch, seine Worte Wirklichkeit werden zu lassen.
»Liebe überwindet alle Hindernisse«, sagte er in dem trotzigen Glauben eines jungen Menschen, der zu viele Romane gelesen hatte. Er glaubte zu wissen, wer ihm helfen konnte, ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen.
»Abbé Leon Flamboyant wird uns helfen.«
»Ein Priester?«, fragte sie erstaunt.
»Oh ja, aber er ist anders als alle anderen Priester. Abbé Leon ist dafür, dass alle Menschen frei und gleich und einander Brüder sind. Er wird für unsere Liebe Verständnis haben.«
»Und wenn nicht? Woher nimmst du nur diese Gewissheit, diese Festigkeit, dass alles gut werden wird. Ich habe Angst, Julien.«
Er drückte sie an sich, versenkte sein Gesicht in ihrem Haar, atmete den Duft ihres Körpers ein, streichelte sie und flüsterte: »Ich liebe dich so sehr. Noch heute Abend rede ich mit dem Abbé.«
Als Diane das beseligte Gesicht ihrer Freundin erblickte, ahnte sie, dass die beiden in ihrer Verliebtheit eine neue Phase erreicht hatten und dass nun Dummheiten drohten. Diane hörte nicht auf, sie zu fragen: »Wie will er deine Kleider bezahlen? Wie und wo wollt ihr ohne Geld leben?«
Aber Mercedes hauchte immer nur: »Ich liebe ihn doch. Du weißt nicht, wie das ist. Hast du jemals geliebt, jemals so heiß und innig geliebt?«
»Nein. So töricht bin ich nicht. Du wirst dich ins Unglück stürzen.«
»Nein. Julien findet einen Weg und wir werden glücklich sein. Man muss es nur wagen. Julien ist jemand, der alles für seine Liebe in die Waagschale wirft.«
Diane überlegte sich sehr wohl, ob sie den Eltern einen Wink geben sollte, aber eine Verräterin wollte sie dann doch nicht sein und ließ sie den Dingen ihren Lauf.
So kam es, dass Julien eines Abends Abbé Leon die Liebe zu Mercedes gestand. Die Augen des Abbés blitzten freudig.
»Du willst eine Montaigne heiraten? Bravo! Du kümmerst dich nicht um Palais und Titel und fühlst dich mehr wert als diese Parasiten des Volkes. Ha, so liebe ich meinen Julien. Natürlich muss dir geholfen werden. Sie wird deine Hemden waschen, wie es jede Frau für ihren Mann tut. Ihr Einverständnis hast du? Sehr gut. Dann ist es sogar meine Pflicht, zwei sich liebende Menschen zusammenzutun. Du wirst sie entführen und mit ihr nach Italien fliehen. Ich habe dorthin Beziehungen.«
Dass der Abbé so schnell auf seine Wünsche einging und auch auf einen gefährlichen Weg verwies, ließ Julien doch erschrecken.
»Vielleicht geht es auch anders«, flüsterte er beklommen.
»Willst du vor ihre Eltern treten und sagen: ›Liebe Eltern, hier sind wir und verheiratet. Sie ist nun keine Montaigne mehr, sondern eine simple Morgon. Gebt ihr uns trotzdem euren Segen?‹« Der Abbé gluckste. »Was meinst du, wie groß die Chancen für den Segen sind, du Tor? Nein, Julien, so wird es nicht funktionieren. Je jünger der Adel, umso stolzer ist man darauf. Ihr werdet euch zumindest eine Zeitlang verstecken müssen, damit es den Hochwohlgeborenen nur noch wichtig ist, ihre Tochter zurückzubekommen, egal wie beschädigt ihr Kleinod ist.«
»Ich habe nicht vor, sie zu beschädigen«, protestierte Julien in schöner Naivität.
»Ach, Julien, Julien, du musst noch viel lernen. Weißt du nicht, wie die Aristokraten denken? Mercedes’ Verbindung mit einem wie dir ist für einen Montaigne ein verlorenes Geschäft, ein Verlust an Chancen und Möglichkeiten. Damit ist sie beschädigte Ware, deren Wert erheblich gesunken ist. Es wird ein harter Strauß werden. Die große Liebe muss immer erkämpft werden.«
»Aber du hilfst mir doch?«
»Bei der phrygischen Mütze, natürlich muss dir geholfen werden. Ich kenne den Pfarrer in Neuilly sehr gut. Auch er ist ein Anhänger der Loge des höchsten Wesens. Er wird euch trauen.«
Beim nächsten Treffen mit Mercedes – Diane war diesmal nicht dabei –, erzählte er ihr von dem Gespräch mit dem Abbé.
»Wir lassen uns trauen und verschwinden eine Weile nach Italien und wenn für deine Eltern nur noch wichtig ist, dass du lebst, kommen wir zurück und sie werden sich damit zufriedengeben, dass du wieder da bist.«
»Mein Gott, sie werden sich die ganze Zeit ängstigen?«, hauchte sie. Tränen traten ihr bei dieser Vorstellung in die Augen.
»Das sollen sie doch auch«, erwiderte er eindringlich. »Je mehr Angst sie haben, desto eher werden sie damit zufrieden sein, dass wir am Leben sind. Aus lauter Erleichterung darüber werden sie unsere Heirat akzeptieren.«
Er war sich dessen ganz sicher. Es war viel jugendliche Naivität dabei und ohne die Hilfe des Abbé wäre dieser verwegene Plan auch nicht Wirklichkeit geworden.
Voller Bangigkeit stimmte sie zu. Sie brachte es dann doch nicht fertig, den Plan ihrer besten Freundin zu verhehlen und weihte Diane schließlich ein. Diese nannte es eine Dummheit, aber auch sie hatte viele Romane gelesen, so dass sie den Mut der beiden insgeheim bewunderte und das Vorhaben für sich behielt.
Sie trafen sich wie Duellanten zur frühen Stunde in Neuilly, kurz vor der ersten Messe. Mercedes hatte sich heimlich aus dem Palais gestohlen und wurde bereits vor der Haustür von Julien und dem Abbé in Empfang genommen. Sie trug ein Kleid, das zwar weiß war, aber nur mit viel Fantasie als Brautkleid bezeichnet werden konnte. Der Abbé und Diane fungierten als Trauzeugen. Zitternd vor Anspannung und Freude betraten sie die Kirche. Der Abbé versuchte sie zu beruhigen.
»Die Loge des höchsten Wesens vermag alles. Selbst im Register des Bürgermeisteramtes und im Kirchenverzeichnis wird die Heirat vermerkt sein. Wir mussten euch allerdings zwei Jahre älter machen.«
Er hatte zur Feier des Tages eine fleckenlose Soutane angezogen. Ein tellerartiger Hut gab ihm etwas Würdevolles. Als er vor dem Altar seine Kopfbedeckung abnahm, ließ sein unheimliches Gesicht mit der Geiernase und den eingefallenen Wangen ahnen, dass dies ein Priester war, der sich anderen Dingen geweiht fühlte.
»Und danach geht es ab nach Rom, wo ein anderer Großmeister Advokat ist«, flüsterte Abbé Leon auf dem Weg zum Altar. »Er wird euch kostenlos aufnehmen. Das Geld für die Postkutsche gebe ich euch nachher.«
Die Trauung war eine armselige Veranstaltung. Zwar spielte eine Orgel, aber der Pfarrer roch nach Branntwein und brachte die Zeremonie hektisch und ein wenig schwankend hinter sich. Aber als er das »Bis dass der Tod euch scheidet« gemurmelt hatte, fühlten sie sich dennoch beide glücklich verheiratet. Die Ringe hatte der Abbé besorgt. Sie waren aus Eisen, was die Braut zwar traurig, aber mit einem tapferen Lächeln quittierte, ihrem Gefühl von der großen romantischen Liebe jedoch keinen Abbruch tat.
Aber dann kam es doch noch zu einer Überraschung.
»Wir können heute nicht nach Rom reisen«, enthüllte Mercedes mit tränenden Augen. »Es geht nicht«, wisperte sie. »Wir werden erst nach Rom flüchten können, wenn es Mutter wieder besser geht. Sie ist vorgestern schwer erkrankt. Ein böses Brustleiden. Wenn ich sie jetzt verlasse, gibt es ein Unglück.«
»Aber du liebst mich doch?«, fragte Julien entsetzt und bestürzt darüber, dass sie dies erst jetzt offenbarte. Der Abbé glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können.
»Natürlich, mein Lieber. Wäre ich sonst mit dir vor den Altar getreten? Bitte versteh mich. Es ist doch nur ein Aufschub. Wir können doch auch in einer Woche oder zwei nach Rom gehen.«
Es war also eine einzige Kinderei, unüberlegt und planlos, und wurde nur durch die Machenschaften des Abbés in eine Bahn gelenkt.
»Das ist nicht gut«, protestierte der Abbé vehement. »Das ist gar nicht gut. Eine Mahlzeit muss heiß gegessen werden.«
Geübt in ganz anderen Intrigen ahnte er, welche Schwierigkeiten auftreten könnten. Doch Mercedes ließ sich nicht beirren. Trotz ihrer Liebe, ihrem Vertrauen in eine glückliche Zukunft blieb sie bei ihrer Meinung, die Mutter in dem jetzigen Zustand nicht verlassen zu dürfen.
Das Hochzeitsmahl fand im Procope statt, das der Abbé für den richtigen Ort hielt, wenn ein kommender Revolutionär sich vermählte. Er raunte ihnen zu, dass Danton hier den mörderischen September 1792 geplant habe. Diane du Plessis, die zum Hochzeitsmahl eingeladen worden war, ging ein Schauer über den Rücken. Julien, der die Geschichte schon oft genug gehört hatte, sagte nur: »Ja doch, Leon. Wissen wir.«
Mehr dazu zu sagen, wäre nach Juliens Dafürhalten nicht höflich gewesen, denn auch die Kosten für das Hochzeitsmahl blieben am Abbé hängen, doch dieser ließ es in grandeurhafter Großzügigkeit an nichts fehlen, so erfreut war er darüber, den Aristokraten einen Streich gespielt und Julien obendrein die Macht der Loge des höchsten Wesens demonstriert zu haben.
Es gab eine riesige Fischplatte mit Hummer, Garnelen und Austern, dazu einen Weißwein aus Saumur, der trocken und klar war und die Funken auf dem Wasser der Loire in ihren Köpfen aufleuchten ließ. Als die Braut den Tisch verließ, um sich die Nase zu pudern, nutzte Diane noch einmal die Möglichkeit, Julien darauf hinzuweisen, welche Torheit diese Verbindung war.
»Es ist eine Kinderei! Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich es eine Burleske nennen. Mercedes wird unglücklich werden. Und dass sich ein Geistlicher dafür hergibt, ist ein Skandal. Was für eine Art Priester sind Sie eigentlich?«
»Meine Dame, was ereifern Sie sich? Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie die Trauzeugin gespielt.«
»Weil ich dumm bin. Ich konnte Mercedes’ Bitten nicht widerstehen.«
»Mach dir keine Sorgen, wir lieben uns«, erwiderte Julien und erntete von Diane einen mitleidigen Blick.
»Es wird ein Fiasko. Du magst mit wenigem zufrieden sein, weil du es nicht anders kennst. Aber Mercedes wurde bisher jeder Wunsch erfüllt. Man wird dich verfolgen und Mercedes einstweilen in ein Kloster sperren und danach mit jemandem verheiraten, der wild auf das Geld der Montaignes ist.«
»Vielleicht wird es so kommen, vielleicht auch nicht«, entgegnete der Abbé grinsend. »Doch sollte Julien das werden, was in ihm steckt, dann möchte ich kein Montaigne sein.«
»Ich wollte Mercedes nur nicht im Stich lassen«, klagte Diane unglücklich und schluchzte in ihr Taschentuch.
»Jedenfalls sind die beiden ordnungsgemäß vor Gott getraut. Die Ehe ist eine Tatsache, an der auch die Montaignes mit ihren Beziehungen nichts ändern können.«
»Und ob die was ändern können!«, widersetzte sich Diane. »Noch sind die Gesetze in diesem Land auf Seiten der Montaignes.«
»Im Standesamt und im Kirchenregister steht, dass eine Diane du Plessis Trauzeugin war«, rieb der Abbé ihr böse kichernd unter die Nase.
»Ich habe ihr tausendmal von der Ehe abgeraten.«
»Die Zeit wird es richten«, winkte der Abbé ab. »Ich höre von den Fronten schlimme Nachrichten. Wer weiß, wie noch alles kommt. Vielleicht werden die de Montaignes noch froh sein, dass ihre Tochter mit einem Anhänger der Phrygier verheiratet ist.«
»Was hast du gehört?«, fragte Julien hastig.
»Es läuft nicht gut für den Kaiser und Frankreich. Die Preußen rücken überall mit großer Geschwindigkeit vor.«
»Unser Heer wird sie zurückschlagen«, erwiderte Julien hitzig. Er hatte doch die prächtigen siegesgewissen Truppen noch vor Kurzem auf den Champs Elysées paradieren sehen. »Ich glaube an unsere tapfere Armee und mein Glück und meine Liebe zu Mercedes.«
»Eine andere Reihenfolge wäre mir lieber«, stöhnte Diane und schickte einen Blick zum Himmel, obwohl es nur die stuckverzierte Decke des Procope war.
Da Mercedes bei ihrer Meinung blieb, ihre Mutter vorerst nicht verlassen zu können – und dies verlangte, gegen Abend in der Avenue Bugeaud zurück zu sein –, musste für die Hochzeitsnacht ein Nachmittag reichen. Der Abbé hatte dafür ein Zimmer in einem kleinen Hotel am Place St. Germain des Près mit dem Namen Bonaparte bestellt. Es war keine Absteige, sondern ein gediegenes Hotel, das von Weinhändlern, Schriftstellern und Philosophen frequentiert wurde. Die Wände des Zimmers wiesen zwar Wasserflecken auf, aber die Bettwäsche war sauber und da der Abbé alle Formalitäten übernommen und im Voraus bezahlt hatte, nahm man das seltsame Brautpaar ohne Fragen auf.
»Mach sie glücklich«, sagte Diane beim Abschied.
»Genieße die erste Nacht«, setzte der Abbé grinsend hinzu. »Man sagt, sie ist die wichtigste, was ich aber nicht bestätigen kann.«
Voller Bangigkeit sahen sie sich an, als sie sich entkleideten. Beide waren ohne Erfahrung und doch trugen sie die Neugier und die Lust aufeinander in ein anderes Land. Julien bestaunte ihre Schönheit und auch ohne Kenntnis über die Praktiken der Liebe fand er sowohl die richtige Art als auch die richtigen Worte, die eine Frau erbeben lassen. Unter seinem sanften Streicheln legte sich ihr Zittern. Der Zauber ihrer Jugend, der Glaube an das gemeinsame Glück und das erste Liebeserlebnis machten diesen Nachmittag zu etwas, was Julien nie vergaß. Sie liebten sich mit einer Inbrunst, die ihrem Seelenzustand entsprach. Und es erfüllte sich ihnen, wovon die Dichter erzählen. Sie vergaßen die Umstände und die verhuschte Trauung und glaubten ihre Verbindung fest gefügt. Staunend durchwanderten sie die Täler der Lust mit ihren baumhohen Farnen und den purpurnen Flüssen. Ihre Säfte vermischten sich und es endete mit einem Schrei und ihr Ruf klang wie der eines Vogels, der sich höher und höher schraubt. Danach lagen sie Hand in Hand nebeneinander, sahen sich an und bestätigten sich immer wieder ihre Liebe.
»Ich habe Angst, Julien«, gestand sie schließlich.
»Vor der Reaktion deiner Eltern?«
»Auch das. Aber vor allem Angst davor, dass uns irgendetwas auseinanderbringen könnte.«
»Nichts wird uns trennen. Niemals«, versprach er ihr.
»Mein Vater ist ein reicher Mann mit wichtigen Beziehungen«, flüsterte sie bang.
»Nichts ist stärker als unsere Liebe.«
Es war töricht, aber hatte er nicht alles Recht dazu? Er glaubte, was er flüsterte. Hatte er doch schon so viel erreicht. Eine Montaigne war seine Frau geworden, das Betttuch zeugte von ihrer Vereinigung und sie hatte nicht vor Schmerzen, sondern vor Lust geschrien.
Am Abend trennten sie sich vor dem Palais. Ihre Augen waren voller Tränen und ihr Gesicht so bleich wie das Betttuch im Hotel am Place St. Germain des Près.
»Ich bin dein, was immer auch kommt«, flüsterte sie und ihr Gesicht verzerrte sich wie unter Schmerzen.
»Was immer auch kommt«, wiederholte er ihre Worte.
Er sah ihr nach, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Halbblind ging er an das andere Ende der Avenue Bugeaud.
»Was hast du? Ärger an der Ecole?«, fragte der Vater erstaunt, als er die Küche betrat. Julien schüttelte den Kopf und murmelte etwas von allgemeiner Überarbeitung, ging auf sein Zimmer, warf sich auf das Bett und betete, dass sich das erfüllen würde, was er sich mit Mercedes erträumte.
Sie hatten sich am nächsten Nachmittag auf dem Place des Vosges verabredet, weil dieser weit weg, am anderen Ende der Stadt lag. Nach der Ecole eilte er ins Marais, achtete nicht auf die Geschäfte am Weg, wo koscheres Fleisch angeboten wurde und wo siebenarmige Leuchter in den Auslagen standen. Das Marais war als Judenviertel bekannt und hatte ihnen oft als Treffpunkt gedient, weil dieser Ort eigentlich ausschloss, dass sich jemand aus der Großbourgeoisie hierher verirrte. Doch statt Mercedes traf er auf der Bank vor dem Denkmal Ludwigs XIII. Diane an. Er wusste sofort, dass etwas passiert war.
»Wo ist Mercedes?«, rief er panisch.
»Am Sterbebett ihrer Mutter. Sie hat ihnen alles erzählt. Ich komme gerade von Mercedes. Ein totaler Zusammenbruch.«
»Alles?«
»Alles. Ihr Vater hat getobt. Er wird alles daran setzen, um die Ehe zu annullieren. Er will dich als Verführer seiner Tochter ins Gefängnis werfen lassen. Er spricht von Entführung und Vergewaltigung.«
»Und Mercedes? Mein Gott, erzähl doch! Wie geht es ihr?«
»Schlecht, wie du dir denken kannst. Nur ich darf zu ihr. Das Haus zu verlassen ist ihr verboten. Die Dienstboten wurden entsprechend instruiert. Sie ist praktisch eine Gefangene. Sie sprach davon, dass sie sich umbringen will. Wenn ich ihr nicht gut zugeredet hätte, weiß Gott, was dann passiert wäre. Es ist also so gekommen, wie ich es befürchtet hatte. Ein Fiasko!«
»Ich muss zu ihr.«
»Mach es nicht noch schlimmer. Man wird dich nicht vorlassen, sondern nach der Gendarmerie rufen. Du solltest verschwinden, Julien. Nimm das mit den Drohungen ihres Vaters nicht auf die leichte Schulter.«
»Wir lieben uns und sind miteinander verheiratet«, beharrte Julien.
»Julien, nimm Vernunft an. Wem wird man glauben, einem hochgeachteten Baron mit besten Beziehungen zum Hof oder dem Sohn eines Papierhändlers?«
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, fragte Julien ungehalten.
»Auf eurer natürlich. Obwohl ich die Heirat, wie du weißt, von Anfang an für eine Dummheit gehalten habe. Pferd und Muli spannt man nicht zusammen ins Geschirr.«
»Danke für den Vergleich«, erwiderte er bissig und schlug die Hände vors Gesicht. »Was mache ich nur? Mein Gott, wie hole ich sie da raus?«
»Du musst die Zustände akzeptieren, wie sie sind. Im Kaiserreich musst du von Adel sein oder viel Geld besitzen, wenn du geachtet werden willst.«
Sie nahm ihren Worten die Kälte, indem sie ihn in die Arme schloss und an ihre Schulter drückte. Julien schluchzte und sie strich ihm über das Haar. Sie war nur wenig älter als er und trotzdem hatte sie ihm in Realismus und Weitblick einiges voraus.
»Du bist doch ein Mann. Ein verrückter junger Mann mit romantischen Träumen, die du mit der Wirklichkeit verwechselt hast. Daran ist nur dieser Abbé schuld. Ohne seine Unterstützung hättest du diese Wahnsinnsheirat nicht bewerkstelligen können.«
»Ihr Vater wird sie nicht ewig gefangen halten können.«
»Das wird er auch nicht brauchen. Er wird deine Ehe annullieren lassen und sie schleunigst mit einem ihm genehmen Ehemann verheiraten. Sieh den Tatsachen ins Auge. Du kommst gegen die Konventionen unserer Gesellschaft nicht an. Es gibt nun einmal oben und unten.«
»Abbé Leon hat recht. Das Kaiserreich ist eine ungerechte, bis ins Mark verfaulte Gesellschaft. Ich hasse den Kaiser.«
Dass er vor Kurzem noch den Kaiser hatte hochleben lassen, war vergessen.
»Geh nach Hause, beruhige dich erst einmal und besprich die Situation mit deinem Vater. Ich werde dich weiterhin informieren, was im Hause Montaigne vor sich geht. Im Moment kannst du nur hoffen, dass der Baron seine Drohung nicht wahr macht.«
Sie nahm ein Taschentuch, wischte ihm die Tränen fort und flüsterte: »Benimm dich wie ein Mann. Verschwinde eine Weile. Geh nach Rom. Von allen Ratschlägen des Abbé war dies der einzig vernünftige.«
»Ich werde sie niemals aufgeben«, stieß Julien hervor und wischte sich über das Gesicht. Er löste sich von ihr und stand auf. »Mercedes ist meine Frau«, stammelte er entschlossen.
Benommen taumelte er aus dem Park. Wie ein Blinder ging er, abgeschieden von der Welt, durch die Straßen, gewahrte nicht das Treiben um sich herum, hörte nicht die aufgeregten Rufe der Zeitungsjungen über die Schlacht um Metz. Als er endlich das Haus seines Vaters erreichte und die Stube betrat, sah ihm der Vater aufgeregt entgegen.
»Was hast du getan, Julien?«, fragte der Vater fassungslos.
Der Grund seiner Aufregung saß neben ihm. Der Gendarm erhob sich mit drohender Miene.
»Sie sind Julien Morgon? Ich habe Weisung, Sie ins Justizpräsidium zu bringen.«
»Warum? Wessen klagt man mich an?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich habe nur Order, Sie dem Staatsanwalt Le Feré vorzuführen. Der Anwalt des Kaisers wird Ihnen die Anklage nennen.«
»Junge, so sprich doch. Was liegt gegen dich vor?«
»Vater, ich kann dir versichern, dass ich nichts Unrechtes getan habe.«
Die Mutter kam aus der Küche, sich die Hände an der Schürze abreibend.
»Junge, was kann man gegen dich vorbringen? Das kann doch nur ein Irrtum sein.«
»Ich bin mir jedenfalls keiner Schuld bewusst.«
Aber das war nicht die Wahrheit. Er wusste, was man gegen ihn vorbringen würde. Aber er scheute sich, dies den Eltern zu sagen. Er wusste, dass sie ihn liebten, aber seine heimliche Heirat mit einer Aristokratin nicht gutheißen würden.
»Nun, Bursche, genug palavert. Du wirst schon erfahren, weswegen dich die Obrigkeit sehen will.«
Der Polizist setzte den großen Hut mit Federn auf und schob Julien aus dem Raum. Im Flur stießen sie am Treppenabsatz auf Abbé Leon.
»Man führt mich ins Justizpräsidium«, klagte Julien.
»Gewalt! Verrat am Volk!«, schrie der Abbé mit wildem Blick. »Nieder mit dem Kaiserreich!«
»Halt dein Schandmaul, Priester, sonst nehme ich dich auch noch mit. Ich will die Äußerungen mal überhört haben. Schließlich habe ich genug am Hals.«
»Keine Angst, Julien«, sagte der Abbé und drückte Juliens Arm. »Ich werde unsere Freunde benachrichtigen. Wir lassen einander nicht im Stich. Beim Rock des Robespierre, wir sind deine Brüder.«
»Genug geredet! Los, her mit den Händen«, brüllte der Gendarm, legte Julien Handeisen an und stieß ihn aus dem Haus.
Als sie am Palais Montaigne vorbeikamen, war es Julien, als bewege sich im zweiten Stock eine Gardine. Sah Mercedes, wie er abgeführt wurde? Oder ergötzte sich ihr Vater an seinem Anblick? Wie einen störrischen Esel zog der Gendarm ihn hinter sich her.
Im Justizministerium, das von außen aussah wie ein griechischer Tempel der Athene, wurde er durch lange Flure in einen Raum gebracht, dessen Kargheit schon ahnen ließ, dass hier die Strenge des Gesetzes durchgesetzt wurde.
»Setz dich dort auf den Stuhl vor dem Tisch.«
Der Gendarm ging zu der Tür an der Stirnseite, klopfte, verschwand und Julien hörte einen Wortwechsel, konnte aber nichts verstehen. Der Gendarm kam schließlich mit einem hochgewachsenen Mann zurück, dessen Koteletten bis zum Kinn reichten. Seine Rockschöße hinter sich werfend, setzte er sich. Sein Gesicht war so kalt und steinern wie die Marmorsäulen draußen.
»Ich bin Jérôme Feré, der Staatsanwalt des Kaisers«, sagte er schnarrend. Ein hageres Gesicht, stechende schwarze Augen, eine Halbglatze, ein Mund so schmal wie eine Messerklinge.
»Name, Geburtsjahr, Wohnort!«, bellte er.
Julien antwortete mit zitternder Stimme.
»Was wirft man mir vor?«, setzte er hinzu.
Der Staatsanwalt blätterte in einer Akte und nickte dazu. »Du wirst angeklagt, die ehrenwerte Demoiselle Mercedes de Montaigne entführt und vergewaltigt zu haben.«
»Mercedes ist meine Frau.«
»Wir wissen von der Komödie«, erwiderte Feré und wedelte abfällig mit der Hand. »Eine erzwungene Heirat. Sie ist natürlich ungültig.«
»Die Heirat ist ordnungsgemäß beim Bürgermeisteramt in Neuilly registriert worden. Die Trauung erfolgte in der Kirche der Gemeinde Neuilly.«
»Das hast du dir schön ausgedacht, Junge! Hier habe ich die Einlassungen der Demoiselle Mercedes, wo sie beklagt, dass sie unter Androhung ihres Lebens dazu gezwungen wurde, bei dieser Farce mitzumachen. Danach wurde sie unter Drogen gesetzt und in einem Hotel am Place Saint Germain des Près vergewaltigt.«
»Das kann … das ist doch … Das sind Lügen!«, schrie Julien und sprang auf.
»Setz dich wieder!«, brüllte der Staatsanwalt.
»Das ist ein Komplott!«
»Setz dich, sonst lasse ich deine Füße in Eisen legen.«
Julien taumelte zurück.
Feré schob das Schreiben über den Tisch. Kein Zweifel, es war Mercedes’ Schrift. Das Papier war mit Flecken übersät. Tränenflecken. Für Julien gab es keinen Zweifel, dass diese Zeilen erzwungen wurden.
»Ein Komplott«, wiederholte er keuchend. »Diese Zeilen wurden unter Zwang niedergeschrieben. Sehen Sie doch nur die Tränenflecken.«
Der Staatsanwalt nahm das Schreiben, legte es in die Akte zurück und sah Julien verächtlich an.
»Nun hör mal zu, du Frechdachs. Wie konntest du dir anmaßen, die Tochter eines Baron de Montaigne zur Frau nehmen zu dürfen? Wer bist du denn? Gehst noch auf die Ecole. Hast kein Einkommen. Freiwillig würde sich doch kein Mädchen aus vornehmem Hause mit so einem Niemand einlassen. Du bist der Sohn eines Papierhändlers, richtig? Das Mädchen bestätigte ausdrücklich den Zwang und ihre Not. Dieses Bubenstück wird dich mindestens zwanzig Jahre Bagno kosten. Das kommt davon, wenn man solch Gesindel wie dich auf eine Grande Ecole schicken will. Wie kann sich das dein Vater überhaupt leisten? Wer hat für dich dort gut gesprochen?«
»Baron Savigny ist mein Förderer. Er hat mir ein Stipendium ermöglicht.«
»Da sieht man, was dabei herauskommt, wenn sich jemand aus dem Volk Wissen aneignen darf. Sofort vergisst er, wer er ist und maßt sich an, gleichberechtigt zu sein. Also, bis zur Verhandlung gehst du erst einmal ins Gewahrsam. Wir sind für die gottgewollte Ordnung zuständig und werden alles genau untersuchen. Im Kaiserreich wird Gerechtigkeit geübt. Solltest du tatsächlich unschuldig sein, so wird sich das herausstellen. Wachtmeister, führen Sie dieses Subjekt in die Conciergerie!«
»Ich sage die Wahrheit! Ich habe nichts Unrechts getan!«, schrie Julien verzweifelt. »Mercedes ist meine Frau. Es handelt sich um ein Komplott des Vaters. Warum seid ihr auf seiner Seite?«
»Nun wagt er auch noch, die Justiz eines Komplotts zu bezichtigen!«, brüllte Feré. »Raus mit dem Kerl!«
Der Gendarm wollte ihn herausführen, aber Julien hielt sich am Schreibtisch fest.
»Ich verlange Gerechtigkeit!«
Feré hob eine Glocke hoch. Das Bimmeln ließ mehrere Gendarmen hereinstürzen, die sich auf Julien warfen und ihn schließlich überwältigten.
»So einer ist das!«, kreischte Feré mit hochrotem Kopf, schrieb ein paar Zeilen und reichte das Papier dem Gendarm. »Er ist ein Gefährlicher und wird unter strengstem Gewahrsam gehalten.«
Ein Gendarm nahm das Papier und stutzte. »Dieser junge Mann ist ein Aufwiegler gegen das Kaiserreich?«, fragte er erstaunt, als er die Order gelesen hatte.
»Wenn ich es geschrieben habe, ist er das. Wer nicht an seinem Platz verharrt, wer nicht die naturgegebene Ordnung akzeptiert, ist ein Aufwiegler, ein staatsfeindliches Subjekt. Ein Schädling. Vielleicht sogar ein Jakobiner.«
Feré nickte gewichtig mit dem Kopf und wedelte mit der Hand. Man führte Julien hinaus. So machte Julien Morgon mit dem Gefängnis Bekanntschaft, welches einst auch den König und die Königin von Frankreich beherbergt hatte.