Читать книгу Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo - Heinz-Joachim Simon - Страница 11

4 – Als die Sonne unterging

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(Émile Zola erzählt)

Einige Wochen hielt man ihn in der Conciergerie fest, und er hoffte jeden Tag darauf, am nächsten freizukommen. Er hatte seinem Vater und Abbé Leon eine Nachricht zuschicken können, die seinen Verbleib erklärte. Aber es kam keine Nachricht zurück. Voller Verzweiflung starrte er auf die schmutzigen nassen Wände und beklagte sein Schicksal. Vor Kurzem wähnte er sich noch glücklich und nun war er wie Ikarus aus dem Himmel gestürzt. Er verlor mit den sich endlos dahinziehenden Tagen und Wochen jeden Glauben an Gott und an die Macht der Phrygier und der Loge des höchsten Wesens. Als dann doch eines Tages die Tür geöffnet wurde und der Wärter ihn anbrüllte, seinen Arsch aus der Zelle zu wälzen, flackerte die Hoffnung jäh wieder auf.

»Komme ich endlich frei?«, fragte er zaghaft, doch voller Hoffnung.

Der Wächter, ein dumpf blickender Bretone, lachte. »Wirst schon sehen, Freundchen!«

Sie führten ihn durch lange Gänge in einen Hof. Gierig atmete er die frische Luft ein. Aber viel bekam er davon nicht spendiert. Eine schwarze vergitterte Kutsche erwartete ihn. Es war ein früher Morgen. Sehnsüchtig starrte er durch die Gitterstäbe auf das Paris, das er so liebte. Die Straßen waren wie leergefegt. Schließlich kannte er die Gegend nicht mehr. Zwei Gendarmen ritten mit blanken Säbeln neben der Kutsche. Wohin brachte man ihn? Warum behandelte man ihn, dessen Verbrechen doch nur darin bestand, eine geliebte Frau heimlich geheiratet zu haben, wie einen gefährlichen Staatsfeind?

In Vincennes, dies sagte ihm ein Straßenschild, hielt die Kutsche vor einem grauen Gebäudekomplex, das von einer hohen Mauer umgeben war. Ein eisernes Tor öffnete sich knarrend, die Kutsche fuhr in einen Hof und hielt vor dem dreistöckigen Hauptgebäude, dessen Fenster vergittert waren. Der Bretone öffnete die Tür der Kutsche.

»Willkommen in deinem endgültigen Zuhause.« Er kicherte gemein.

Sie befreiten ihn von den Fuß- und Handketten und führten ihn durch lange Flure. Es roch nach Schweiß und Urin. Man schloss eine Zelle auf und stieß ihn hinein.

»Hier kommst du so schnell nicht mehr heraus«, sagte der Bretone, seine Zähne fletschend.

»Wann findet meine Verhandlung statt? Holt Staatsanwalt Le Feré. Er wollte doch den Anschuldigungen nachgehen.«

Der Bretone grölte und schlug sich auf die Schenkel. »Feré, ausgerechnet der scharfe Hund? Morgon, du bist verloren. Finde dich damit ab.«

Der Schlüssel knirschte noch einmal im Schloss und er war wieder mit sich, seiner Verzweiflung und mit der Frage nach dem »Warum?« allein. Diese Zelle hier war noch schlimmer als die in der Conciergerie. Die Wände schwitzten Feuchtigkeit aus. Im Winter würden sie mit einer Eisschicht überzogen sein. Als Mobiliar musste er sich mit einer Pritsche, einem Hocker, einem wackligen kleinen Tisch und einem Eimer für die Notdurft zufrieden geben. Eine zweite Pritsche machte den Raum noch kleiner als er ohnehin war, aber ließ die Hoffnung zu, dass er nicht lange allein bleiben würde.

Doch Woche um Woche verging, ohne dass etwas passierte. Jeden neuen Tag dokumentierte er mit einem Strich an die Zellenwand. Das Essen bestand aus Hirsebrei, einem Stück angefaultem Brot und brackigem Wasser. Um nicht die Kraft zu verlieren, zog sich Julien immer wieder an den Gitterstäben des Fensters hoch. Trotz der schlechten Kost kräftigte dies seine Arme. Durch das Fenster konnte er auf den Hof sehen. Einmal am Tag wurden alle Zellen aufgeschlossen und er konnte mit seinen Leidensgenossen einige Runden drehen. Sprechen war dabei verboten. Wer sich nicht daran hielt, bekam von den Wärtern ein paar kräftige Hiebe mit dem Holzknüppel. Anfangs zählte er noch die Tage, aber nachdem er die Wand mit vielen Strichen verunstaltet hatte, ließ er es schließlich. Es führte ihm nur die Hoffnungslosigkeit seiner Lage vor Augen. Mehr und mehr kam er zu der Erkenntnis, dass er nicht mehr aus dem Kerker herauskommen würde. Dabei war er nicht einmal angeklagt, geschweige denn verurteilt worden.

Er versuchte, sich an Kleinigkeiten zu erfreuen. Jeden Morgen bekam er Besuch von einem kleinen Spatzen. Er belohnte ihn dafür mit Brotkrumen, die er für ihn aufsparte. Der kleine Kerl, er nannte ihn Jonas, hörte mit seitlich geneigtem Kopf zu, wenn er ihm von seiner Not erzählte.

»Wenn du doch nur sprechen könntest. Wir beide wären ein tolles Paar. Ich würde dich zu Abbé Leon schicken und du könntest ihm meine Flüche an den Kopf schleudern. Ich würde dich zu Mercedes schicken und du könntest sie fragen, warum sie den Brief geschrieben hat, der mich verleumdete.«

Er weinte dann manchmal und der Vogel sah ihm dabei zu.

Es fiel ihm eines Tages auf, dass die Wärter immer finsterer blickten und schließlich hörte er es. Kein Zweifel, das Grollen in der Ferne war kein Gewitter. Irgendetwas ging draußen vor. An einem frühen Morgen öffnete sich die Zellentür. Er erhob sich erfreut von seiner Pritsche. Man stieß einen breitschultrigen Mann in die Zelle.

»Du bekommst Gesellschaft«, sagte der Wärter und nickte Julien aufmunternd zu.

Der untersetzte Mann mit einem Gesicht, das viel erlebt hatte, machte einen bedrohlichen Eindruck. Ein übler Schmiss am Kinn verbesserte nicht gerade sein Aussehen.

»Ich bin Marc Tessier. Im Faubourg St. Antoine nennen sie mich alle Meister Messer«, stellte er sich vor.

Julien reichte ihm trotz der brutalen Visage freudig die Hand, schließlich würde er nun einen Gesprächspartner haben. Doch kaum hatte er sie ergriffen, bekam er unvermittelt einen Schlag in den Magen, der ihn gegen die Wand taumeln ließ. Ein weiterer Schlag aufs Kinn schickte ihn zu Boden.

»Was soll das?«, keuchte Julien.

»Damit wir uns gleich richtig verstehen. Ich bin der Patron und du hast zu parieren! Verstanden?«

Er hielt nun seinerseits Julien die Hand hin und dieser ergriff sie vorsichtig. Doch es folgte kein weiterer Schlag. Tessier brummte etwas, nahm ihn bei der Schulter und tätschelte ihm die Wange.

»Ha, nimm es nicht so schwer. So sind nun mal die Spielregeln. Ich wollte nur das Verhältnis zwischen uns klären. Ich bin oben und du unten, kapiert? Was hast du draußen angestellt? Für diese lausige Unterkunft bist du eigentlich zu jung.«

»Nichts. Ich habe nichts getan«, keuchte Julien, dem es schwer fiel, die Tränen zurückzuhalten.

»Quatsch nicht! Wir sind hier unter uns. Ich habe einen Offizier, der mir dumm gekommen ist, um sein gutes Aussehen gebracht. Leider passierte das mitten auf dem Bastilleplatz, dort, wo der tönerne Elefant stand. Die Gendarmen auf der anderen Straßenseite hatten dies beobachtet. Künstlerpech! Man hat mir zehn Jahre aufgebrummt, die man nicht so leicht auf der einen Pobacke absitzt. Nur die Preußen können das verhindern.«

»Wieso die Preußen?«, fragte Julien erstaunt.

Tessier schüttelte den Kopf, setzte sich auf die Pritsche und verschränkte die Arme. »Sag mal, du bist wohl total ahnungslos? Die Welt steht Kopf. Der Kaiser ist fürchterlich verprügelt worden und Gefangener der Preußen. Wir haben wieder eine Republik.«

»Und wer regiert statt des Kaisers?«

»So ein kleiner Kerl mit dem Namen Thiers. Die Preußen haben Paris umzingelt. Der Generalstab hat fürchterlich versagt. Einige wichtige Forts wurden bereits an die Preußen übergeben, die der inneren Linie durften wir behalten, denn Paris ergibt sich nicht. Es gibt jedoch eine Nationalversammlung, die überwiegend von Konservativen aus den Provinzen beherrscht wird, und die wollen Frieden um jeden Preis. Eine Schande ist das. Nicht, dass ich den Bonapartisten nachweine, aber die Thiers-Clique will Frankreich für einen Friedensvertrag verraten.«

»Die Armee? Diese wunderbare Armee ist geschlagen worden?«

»Es gibt sie nicht mehr.«

»Aber wenn die Preußen Paris umzingelt haben, warum marschieren sie dann nicht ein?«

»Das hängt mit dem Kuddelmuddel zusammen. Das Volk von Paris will nicht kapitulieren und hält Frankreichs Ehre hoch. Thiers mit seiner Nationalversammlung ist geflohen und residiert in Versailles und sammelt dort die geschlagenen Truppenteile. Die Preußen sind klug, das muss man ihnen lassen. Warum sollen sie ihre Grenadiere im Häuserkampf opfern? Das überlassen sie Thiers und seiner Bande. Sie warten ab, bis der Kerl die Hauptstadt zur Raison gebracht hat. Deswegen lassen sie sogar gefangene Regimenter wieder frei.«

»Aber wer ist dann Herr von Paris?«

»Frage lieber, wer nicht regiert. Da gibt es die Nationalgarde, die sich aus den Arbeitern der Vorstädte zusammensetzt, mit ihrem Zentralkomitee. Außerdem gibt es noch einen jakobinisch geprägten Wohlfahrtsausschuss wie damals, in den glorreichen Tagen der großen Revolution. Die Preußen halten uns im Würgegriff, aber überlassen Thiers die Drecksarbeit. So sieht’s aus.«

»Das ist ja fürchterlich. Armes Frankreich.«

»Ist es nicht. Ist es nicht. Ich will dir das mal genau verklickern: Die Pariser, die den Krieg bis zum äußersten weiterführen wollen, werden eines Tages auch uns als Kämpfer brauchen. Dafür müssen wir uns in Form halten. Ich werde ein Programm aufstellen, das unsere Muskeln stärkt. Hast du schon mal einen Menschen abgemurkst?«

»Mein Gott, natürlich nicht.«

Tessier lachte roh.

»Dachte ich es mir doch, mein unschuldiger Grünschnabel. Ich werde dir zeigen, wie man sich wehrt und wie man tötet. Ich bringe dir bei, wie man mit dem Messer umgeht. Wir fangen gleich morgen damit an. Ich werde aus dir einen ›Meister Messer‹ machen.«

»Und warum willst du das tun?«

Tessier kraulte sich den Nacken. »Du stellst aber auch Fragen. Irgendetwas müssen wir doch tun. Und außerdem habe ich im Kampf lieber einen auf meiner Seite, der so gut ist wie ich.«

Julien hatte nicht vor, ein »Meister Messer« zu werden, aber er war froh, Gesellschaft zu haben, wenn diese auch etwas rustikal zu sein schien. Dafür musste er es hinnehmen, dass er von Tessier jeden Tag verprügelt wurde. Aber er lernte, wie man ein Messer im Kampf handhabte, wozu ein Löffel als Messer herhalten musste. Tessier gewöhnte ihn daran, Schläge auszuhalten und wie man aus der Verteidigung zu einem tödlichen Angriff übergeht. Sein Zellengenosse lehrte ihn vermeintliche Schwäche in Stärke umzusetzen. Nach einigen Wochen kannte er eine Menge Tricks, darunter auch ein paar schmutzige. Das tägliche Miteinander brachte sie einander näher und Tessier, mehr als zehn Jahre älter als Julien, begann in ihm so etwas wie einen jüngeren Bruder zu sehen, was dazu führte, dass Julien ihm auch die Geschichte seiner Heirat anvertraute. Er verschwieg ihm nicht die Reaktion des Montaigne, noch den Beitrag des Abbé Flamboyant und auch nicht das Gespräch mit dem Staatsanwalt Le Feré.

»Er sprach von einer Untersuchung, von Gerechtigkeit.«

»Ach, Grünschnabel, da hat man dich aber ordentlich verschaukelt. Sich mit Leuten von Stand anzulegen, verlangt schon eine erhebliche Portion Naivität. Glaubst du, die nehmen es hin, dass du ihnen die Tochter stiehlst? Und jemandem mit Geld tut man gern einen Gefallen. Montaigne wird den Staatsanwalt tüchtig geschmiert haben. Wenn uns die neuen Herren von Paris nicht brauchen, sitzt du bis zum Ende deiner Tage in Vincennes, es sei denn, man verfrachtet dich zu den Teufelsinseln, damit du dort krepierst.«

»Die Aristokraten sind also immer noch mächtig?«

»Sie halten ihr Mäntelchen nach dem Wind und geben sich jetzt sehr republikanisch. Im Moment haben sie Kreide gefressen und halten sich schön zurück. Sobald Thiers in Paris einzieht, werden sie wieder in ihre alten Stellungen einrücken. So sieht’s aus, Grünschnabel. Wir können einstweilen nur hoffen, dass sich das Kuddelmuddel noch verstärkt. Doch nun komm, keine Müdigkeit vorschützen, schlag auf mich ein, damit ich dich ordentlich verprügeln kann.«

Julien bezog in diesen Tagen eine Menge Prügel. Seine bisherige Lebensgeschichte erklärte Tessier ebenfalls mit den Worten: »Ein großes Kuddelmuddel«. Es war eine beeindruckende Laufbahn vom Grobschmied zum »König der Messerhelden«.

»In den Vorstädten wagen sich nicht mal die Gendarmen an mich ran.«

Eines Tages beim Hofgang sah Tessier aufmerksam zu den Wachttürmen hoch.

»Seltsam. Beim Tripper des Kaisers, ich glaube, die Wachttürme sind nicht mehr besetzt.«

Sie bemerkten nun, dass sich auch die Wachen im Hof verdrückt hatten. Nachdem die Wächter verschwunden waren, löste sich die Disziplin auf, die sich bisher dadurch ausdrückte, dass man hintereinander im Gänsemarsch den Hof abschritt. Ratlos und diskutierend standen die Häftlinge in Gruppen herum. Nach einer Weile gingen sie freiwillig in ihre Zellen zurück. Doch es gab auch hier keine Wächter mehr, die die Türen wieder abschlossen.

Plötzlich hörten sie Rufe, die in frenetischem Jubel endeten: Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. Soldaten mit roten Schärpen stürmten durch die Gänge.

»Wer sich in die Nationalgarde einreiht, ist sofort frei!«, schrie ein baumlanger Hauptmann mit mächtigem Bauch und aufgeschwemmtem rotem Gesicht.

Tessier und Julien traten sofort auf den Gang. Tessier stutzte, lachte und umarmte den Hauptmann.

»Du bist es, Antoine Pomeron, du alter Gauner? Welcher Dummkopf hat dich denn zum Hauptmann gemacht?«

»Was? Du hier, Tessier? Meister Messer? Wie kommst du denn ins Gefängnis von Vincennes? Hab mich schon gewundert, dass ich dich seit Monaten nicht gesehen habe.«

»Du weißt doch, wie das geht. Ein Offizierchen kam mir dumm. Es bekam seiner Gesundheit nicht, aber dafür haben sie mich eingebuchtet.«

»Alter Höllenhund! So einen wie dich können wir gut gebrauchen. Komm, ich führ dich zu unserem General. Ein toller Kerl. Pole, klug und mutig und voller Feuer für die große Sache. Er wird dir gefallen. Wir brauchen Kämpfer für Neuilly. Wir stehen dort in hartem Gefecht.«

»Mein junger Freund hier kommt mit.«

»Klar doch. Wenn er dein Freund ist, gehört er dazu.«

Hauptmann Antoine Pomeron führte sie in einen Saal im Erdgeschoss. Ein schmal gewachsener Mann mit einem riesigen Schnauzer saß dort an einem Tisch und ließ sich die einzelnen Strafgefangenen vorführen.

»Das ist Jaroslaw Dombrowski, der Anführer der kampflustigsten Brigade. Ein Prachtkerl!«, lobte Pomeron noch einmal.

Sie mussten sich in eine lange Reihe eingliedern. Schließlich standen sie vor dem Tisch des Generals. Er trug eine prächtige Uniform mit goldenen Tressen, aber statt der Trikolore eine blutrote Schärpe um die Hüfte.

»Weswegen wurdest du inhaftiert?«, fragte der General den König der Messerhelden. »Ach, ich sehe hier in der Akte, dass du einen Offizier überfallen hast.«

»Ich habe einem adligen Lümmel, der mir dumm gekommen ist, die Visage verdorben. Leider haben das Gendarmen beobachtet.«

»Dumm gelaufen, was?«, fragte der General lachend, lehnte sich zurück und strich sich über den Schnurrbart, der rechts und links einen Fingerbreit abstand. »Aber meinen Offizieren wirst du parieren.«

»Klar doch. Wenn es gegen die da oben geht, bin ich immer dabei.«

Der General kniff die Augen zusammen. »Wenn du keine Disziplin hältst, lass ich dich füsilieren.«

Tessier stand stramm, was aber nicht zu einer militärischen Haltung reichte. »Disziplin hält eine Truppe zusammen«, stimmte Tessier zu. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig.

»Mach mir keinen Ärger, Bursche! Hauptmann Pomeron, der Kerl kommt zu Ihnen.«

»Zu Befehl, General«, erwiderte dieser und nahm Haltung an, was aber bei diesem, wegen seines mächtigen Bauchs, auch nicht sehr militärisch aussah.

Julien trat an den Tisch.

»Was hast du verbrochen? So ein junger Kerl gehört auf die Ecole und nicht ins Gefängnis. Musst ja ein schönes Früchtchen sein.«

»Er gehört zu mir«, sagte Tessier beim Wegtreten.

»Ach, hast du auch einen Offizier malträtiert?«

»Nein. Ich habe eine Adelige geheiratet. Der Vater hat mich damit verleumdet, sie entführt und vergewaltigt zu haben.«

Dombrowski riss die Augen auf. »Das ist ja eine tolle Geschichte. Du bist kein Aristokrat?«

»Nein. Ich bin der Sohn des Papierhändlers in der Avenue …«

»Schon gut. Dann hast du wohl eine Riesenwut auf die Aristokraten.«

»Jawohl und auf ihre ganze beschissene Welt.«

»In Ordnung. Du kannst dich auch Hauptmann Pomeron anschließen. He, Schreiber, vermerke in der Akte, dass der junge Mann unschuldig von den Bonapartisten eingesperrt wurde und nichts gegen ihn vorliegt.«

Der Schreiber, der hinter ihm an einem Katzentisch saß und jeden neuen Rekruten in einem Buch vermerkte, nickte eifrig.

Unterwegs zur Ecole Militaire, wo sie eingekleidet werden sollten, erklärte ihnen Hauptmann Pomeron die Lage.

»Die Versailler, also Thiers’ Truppen, haben uns einige Forts abgenommen, aber in die Stadt konnten sie noch nicht eindringen. Wir haben zweihundert Kanonen in Neuilly stehen. Dort haben sich die Angriffe verstärkt. Wir wollen die Kanonen auf dem Montmartre morgen in Sicherheit bringen.«

»Warum denn das? Warum setzt ihr die Kanonen nicht ein? Man entwaffnet sich doch nicht selbst?«, fragte Tessier stirnrunzelnd.

»Es fehlt an Munition. Irgendwer muss den Versaillern verraten haben, dass dort ungenutzte Kanonen stehen. Deswegen haben sie den Druck auf Neuilly verstärkt. Wir kämpfen inmitten einer Bande von Verrätern. Das Volk steht in Waffen. Das schon. Aber das heißt natürlich nicht, dass auch die Bourgeoisie mitzieht. Sie schreien zwar ›Es lebe die Nationalgarde!‹, aber das Großbürgertum wird sofort ›Es lebe Thiers!‹ brüllen, wenn unsere Reihen wanken.«

Auf dem Weg zur Militärakademie atmete Julien tief die frische Luft ein. Die Sonne spiegelte sich in der Seine. Er hörte in den Bäumen die Vögel zwitschern und dachte an den kleinen Spatzen Jonas, der ihm so lange ein Freund gewesen war. Aber jetzt war er so frei wie ein Vogel! Er würde dem Dombrowski ein guter Soldat sein. Er hatte jeden Grund gegen die zu kämpfen, die die alte Ordnung verkörperten.

In der Militärakademie zog er die blaue Uniform der Nationalgarde an. Das Käppi verwegen seitlich auf den Kopf gedrückt, fühlte er sich wie einer der Soldaten von Valmy. Julien wäre nun am liebsten zur Avenue Bugeaud gezogen, um zu sehen, wie es dort stand. Aber einstweilen blieb ihm nichts anderes übrig, als mit Hauptmann Pomeron nach Neuilly zu marschieren. Gegen Abend langten sie dort in einem Fort an, in dessen Mitte schön aneinandergereiht Kanone an Kanone stand.

»Wenn wir doch mehr Munition hätten«, klagte der Hauptmann.

Die Truppe war ein zusammengewürfelter Haufen von Zivilisten, ehemaligen Möbeltischlern, Schmiedegesellen, kleinen Gewerbetreibenden und Arbeitern aus den Manufakturen. Die meisten von ihnen hatten bis vor Kurzem nicht gewusst, wie man ein Gewehr abfeuert. Hauptmann Pomeron brachte zwanzig neue Leute nach Neuilly. Zwei jungen Feldwebeln befahl er, den Frischlingen beizubringen, wie man mit der Waffe umgeht. Da alle ehemaligen Häftlinge eine gehörige Wut auf die alte Ordnung hatten, waren sie mit Feuereifer dabei. Sie lernten, wie man lud, zielte, dass man auf die Körpermitte des Feindes halten sollte und wie man im Nahkampf mit dem Bajonett den Gegner zu Tode bringt.

Danach wurde Julien die Mitternachtswache zugeteilt. Tessier bekam die günstigere Morgenwache.

»Holt euch vom Küchenbullen ein Stück Brot und eine Flasche Rotwein«, sagte der Korporal. »Mehr gibt’s nicht. Das Brot ist knapp. Wein ist genug da. Noch.«

Julien ging mit Tessier zum Küchenbullen und sie holten sich ihre Ration ab. Die Kasematte, wo sie sich bis zu ihrer Wache ausruhen sollten, war eine große Halle, in der die Soldaten auf dem Boden lagen. Viele schliefen, einige grölten obszöne Lieder.

»Die sind alle besoffen«, brummte Tessier missmutig. »Mit solchen Kerlen wollen wir Paris verteidigen?«

Sie legten sich in eine Ecke. Julien war sofort eingeschlafen und träumte wieder einmal von Mercedes. Sie wandelten durch den Jardin du Luxembourg und Kinder ließen ihre Schiffe in dem großen Bassin schwimmen. Er fühlte, wie ihn das Glück durchströmte. Verärgert fuhr er hoch, als er geschüttelt wurde.

»Du bist dran, Julien«, sagte Tessier.

»Ich habe so schön geträumt«, erwiderte dieser, rieb sich die Augen und sprang auf. »Wo kann man sich hier waschen?«

»Ist nicht. Komm. Sei froh, dass du noch gute Träume hast.«

Ihm wurde bewusst, dass er nun Soldat der Nationalgarde war. Das war doch keine schlechte Entwicklung. Gestern war er noch ein vergessener Gefangener in Vincennes gewesen. Er biss in das Stück Brot, das er sich für das Frühstück aufbewahrt hatte und verzog das Gesicht. Es schmeckte wie Sägemehl. Nur mit einem großen Schluck Wein brachte er es herunter. Er schulterte das Gewehr und ging aus der Kasematte.

»Pass auf dich auf!«, rief ihm Tessier hinterher.

Ein kalter Nieselregen empfing ihn. Missmutig stieg er die Treppe zum Wehrgang hoch.

»Da kommst du ja endlich«, empfing ihn ein sich die Hände reibender, gebückt haltender Soldat.

»Pass auf, da hinten geht irgendetwas vor«, klärte er Julien auf. »Ich habe einmal Schatten herankommen sehen, aber sie haben sich wieder zurückgezogen. Halte dein Pulver trocken. Kann sein, dass sie wiederkommen.«

Er schlug Julien auf die Schulter und verschwand nach unten. Julien starrte über die Mauer. Es war noch dunkel. Von den Sternen war nichts zu sehen. In der Ferne sah er viele kleine Punkte. Lagerfeuer, wie er vermutete. Die Versailler dort hatten bestimmt genug zu essen und zu trinken sowie warme Decken.

Er lehnte sich gegen die Mauer und dachte an seinen Traum und an Mercedes. Wie es ihr in all den Monaten ergangen sein mochte? Lebte sie noch in der Avenue Bugeaud oder war ihr Vater mit ihr zu Thiers nach Versailles geflohen? Er musste sich darüber Gewissheit verschaffen. Er schreckte hoch. Er war eingeschlafen. Ein schmaler Lichtstreifen zeigte sich am Horizont. Er hatte davon geträumt, einen Menschen zu töten. Würde es ihm schwerfallen, wenn es dazu kam? Wut auf eine Gesellschaft, die ihm seine Frau nehmen wollte, hatte er genug. General Dombrowski hatte dies erkannt. Tessier hatte ihn gewarnt, dass das erste Mal nicht so leicht sein würde.

Nun hörte er irgendwo vor dem Wall Gänse schnattern. Ihm fiel das römische Kapitol ein, wo einst die Gänse die Römer vor den Kelten gewarnt hatten. Auf der Ecole hatten sie viel über Römer und Griechen gehört. Über diesen Gedanken drohte er wieder einzuschlafen. Er rieb sich die Wangen. Hoffentlich war seine Wache bald vorbei. Dann sah er, wie eine Eule aus den Bäumen herausflatterte. Irgendetwas passierte vor ihm. Schatten kamen heran. Julien nahm das Gewehr und entsicherte es.

»Alarm!«, rief er. »Die Versailler kommen!«

Er stieß in das Horn, das man ihm für die Wache mitgegeben hatte. Es klang schaurig, war aber so laut, dass es unten im Hof Bewegung auslöste.

Jetzt sah er die Schatten deutlicher. Hinter den Bäumen kamen sie hervor und liefen auf den Wall zu. Er schoss. Der Rückschlag riss ihm fast den Arm weg. Er hatte nicht daran gedacht, den Kolben fest an die Schulter zu pressen. Immer mehr Schatten kamen heran. Schüsse peitschten zu ihm hoch. Hinter ihm hörte er eilige Rufe. Ein Signalhorn ertönte. Um ihn herum reihten sich nun Soldaten ein. Es kam zu einem heftigen Feuergefecht. Pulverdampf zog über die Wälle. Die Schatten fluteten zurück. Doch was geschah da? Die Schatten schossen aufeinander!

»Was ist da los?«, rief Pomeron. »Junge, erkunde mal die Lage dort unten«, rief er Julien zu.

»Er ist zu unerfahren dafür«, meldete sich Tessier. »Ich gehe mit ihm.«

»Meinetwegen. Also runter mit euch!«

An Seilen hangelten sie sich von der Mauer herab. Nun zahlte sich Tessiers Training im Gefängnis aus. Gebückt liefen sie durch den Graben, der jedoch kein Wasser führte, in eine Glacis hinein und weiter bis zu den ersten Bäumen. Dort stießen sie auf mehrere tote Liniensoldaten.

»Bei denen scheint es auch ein großes Kuddelmuddel zu geben. Beim Tripper des Kaisers, überall ist Unordnung. Aber uns soll es recht sein.«

Sie liefen weiter. Auf einer Lichtung sahen sie eine Gruppe Soldaten diskutierend an einem Feuer stehen.

Sie wollten schon zurück ins Dickicht stürzen, als einer aus der Gruppe ihnen zurief: »Halt! Gut Freund, Kameraden!«

Sie stoppten.

»Was tun wir?«, flüsterte Julien.

»Wir halten die Gewehre über den Kopf und gehen langsam auf sie zu.«

»Eine Falle?«

»Nö, glaub ich nicht. Wir riskieren es!«

Vorsichtig traten sie in den Lichtschein des Feuers.

»Wir machen bei den Versaillern nicht mehr mit«, sagte ein Korporal, dessen Dialekt verriet, dass er aus der Normandie stammte. »Die ganze Kompanie hat beschlossen, zu euch überzulaufen. Wir wollen wie ihr weiter gegen die verdammten Preußen kämpfen und nicht auf Landsleute schießen.«

»Die ganze Kompanie?«, staunte Julien.

»Ja doch!«, erwiderte der Korporal. »Mein Name ist Armand Picquart. Seht ihr zur Linken die beiden Lagerfeuer dort drüben? Auch diese Männer wollen sich der Nationalgarde anschließen.«

Sie schüttelten sich die Hände. Es waren überwiegend Männer aus der Bretagne und der Normandie. Picquart reichte den beiden Freunden seine Feldflasche.

»Trinkt. Ist guter Calvados.«

Sie tranken den scharfen Schnaps und Julien verschluckte sich. Er hustete und Picquart schlug ihm gutmütig auf den Rücken.

»Viel gesoffen hast du wohl noch nicht.«

»Euch können wir gebrauchen«, lobte Tessier. »Sag denen dort Bescheid, dass sie alle mitkommen können.«

Langsam war es hell geworden. Es war ein trübes Licht.

»Haltet die Kolben eurer Gewehre nach oben, damit unsere Leute auf den Wällen wissen, dass ihr nicht kämpfen wollt. Wir marschieren in geschlossener Formation zum Fort.«

Ein Mann mit Leutnantsepauletten kam heran und salutierte schneidig.

»Ich bin Secondleutnant Demierez vom Regiment 203. Wir haben zwei Generäle gefangengenommen, unsere ehemaligen Kommandanten.«

»Bringt die ruhig mit. Unser General wird die Kollegen gern begrüßen«, brummte Tessier gleichmütig.

Der Secondleutnant wandte sich den Liniensoldaten zu. »Männer, wir marschieren in guter Ordnung auf Neuilly zu. Dass mir keiner die Nerven verliert. Die Nationalgardisten sind von nun an unsere Kameraden.«

Von den anderen Feuern kamen weitere Soldaten herangelaufen und vereinigten sich vor Julien und Tessier zu einer Marschkolonne. In der Mitte gingen die beiden Generäle in verdreckten Uniformen. Die Säbel hatte man ihnen abgenommen. Die leeren Scheiden baumelten an ihren Hüften. Hauptmann Antoine Pomeron fiel die Kinnlade herunter, als mit Tessier und Julien an der Spitze ein ganzes Regiment zum Fort zurückkam. Tessier meldete ihm in seiner luschen Art, dass sich das Linienregiment 203 dem Befehl der Nationalgarde unterstelle.

»Du dickes, dickes Ei! Das muss sofort General Dombrowski erfahren«, freute sich der Hauptmann und schickte einen Kurier los. Dann begutachtete er mit grimmigem Gesicht die beiden Generäle. »Wer seid ihr zwei Hübschen denn?«

»General Lecomte«, zischte mit hochrotem feistem Kopf der Kleinere, der nicht den Eindruck machte, besonders oft im Gefecht gestanden zu haben.

»General Clement Thomas. Artilleriegeneral«, stellte sich der andere vor, der auch ein Mathematiklehrer an der Sorbonne hätte sein können.

»Aha, die Herren waren auf unsere Kanonen scharf. Nun, daraus wird nichts. Also, wollt ihr jetzt dem Volk von Paris dienen und weiter gegen die Preußen kämpfen?«

»Niemals!«, tönten die beiden im Chor.

»Für uns seid ihr Aufrührer und Banditen!«, fügte General Thomas hinzu.

»Wenn die Armee Paris genommen hat, werdet ihr alle an die Wand gestellt«, setzte Lecomte hinzu.

Diese Ankündigung hätte er besser gelassen. Hauptmann Pomeron lächelte böse und zog den Revolver aus der Ledertasche.

»Dann sollt ihr das bekommen, was ihr uns zukommen lassen wollt!«, rief er und schoss zweimal. Die beiden Generäle waren bereits tot, als sie auf dem Boden aufschlugen.

Die Nationalgardisten riefen: »Tod allen Versaillern! Tod den feigen Regimentern! Tod! Tod!«

Julien sah Tessier verwirrt an. Er fühlte sich für den Tod der Generäle verantwortlich. Schließlich hatten er und Tessier die beiden als Gefangene mitgebracht. Erschrocken sah er zu dem Linienregiment hinüber. Wie würden die Soldaten auf den Tod der ehemaligen Befehlshaber reagieren? Aber diese riefen ebenfalls: »Tod den Versaillern!«

»Das war nicht recht!«, rief Julien seinem Freund zu.

Dieser zuckte mit den Achseln. »Es ist Krieg, Junge.«

»Trotzdem. Es war Mord.«

»Hört euch den Milchbubi an«, rief Hauptmann Pomeron verärgert. »Wenn ich noch mal so etwas höre, kannst du was erleben!«

»Er ist ein tapferer Junge«, verteidigte Tessier den Freund. »Er hat dir schließlich das Regiment gebracht. Julien hat ein weiches Herz. Sieh es ihm nach. In ein paar Tagen hat er sich an den Krieg gewöhnt.«

»Na gut. Du bürgst für den Frechdachs«, gab Pomeron nach. »Aber er soll zukünftig überlegen, ehe er den Mund aufmacht.«

»Das wird sich rächen«, flüsterte Julien ahnungsvoll Tessier zu.

»Du hast doch gehört, was die Thiers-Männer mit uns vorhaben«, erwiderte Tessier unbewegt. »So du mir, so ich dir. Darauf läuft es hinaus. Dass ein Volk selbst über sein Schicksal bestimmen will, geht nicht in die Köpfe der Versailler.«

General Dombrowski kam auf einem Schimmel in den Hof geritten. Mit zufriedener Miene ritt er die Reihen des Linien­regiments ab und wandte sich dann an die Männer.

»Soldaten, ihr habt euch für das Volk und die Ehre entschieden. Wir nehmen euch in unsere Reihen auf. Ihr habt richtig entschieden. Die Versailler verraten das Vaterland. Statt weiter gegen die Preußen zu kämpfen, kollaborieren sie mit ihnen. Doch ihr habt euch für eine Welt ohne Standesunterschiede entschieden, ohne Willkür, ohne Unfreiheit. Ich bin stolz auf euch. Nun schafft die Kanonen nach Montmartre. Wenn wir wieder im Besitz von Munition sind, werden sie uns nützliche Dienste leisten.«

Er grüßte noch einmal theatralisch mit dem Hut und ritt weiter die Wälle ab.

Hauptmann Pomeron wandte sich an Tessier: »Ihr zieht nach Montmartre und stellt die Kanonen dort im Fort ab. Danach kommt ihr mit dem Regiment zurück. Ihr seid beide von nun an Korporal der Nationalgarde.«

»Das ging aber schnell«, staunte Tessier, als sie an der Spitze der Marschkolonne aus dem Fort zogen. »Siehst du, Pomeron ist nicht nachtragend. Wir beide werden noch Generäle.«

Doch Julien hatte anderes im Sinn als eine militärische Laufbahn. »Ich muss jetzt nach meinen Leuten sehen.«

Tessier nickte verständnisvoll. »Gut. Aber komm zurück, sonst bekommst du Ärger.«

Doch Julien hörte die Mahnung schon nicht mehr und machte sich auf den Weg zur Avenue Bugeaud. Sein Herz klopfte im Takte der Trommeln des weiterziehenden Regiments.

Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo

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