Читать книгу Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo - Heinz-Joachim Simon - Страница 12

5 – Die neuen und alten Herren von Paris

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(Victor Hugo erzählt)

Die Avenue Bugeaud fand er unverändert vor. Als Julien Morgon am Palast der Montaignes vorbeiging, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Das Haus erschien ihm drohend, hochmütig und kalt und in krassem Gegensatz zu den niedrigen Bürgerhäusern auf der anderen Straßenseite. Die Fensterläden waren geschlossen. Er blieb stehen. War Mercedes noch in diesem Haus? Er wünschte sich, dass sie aus dem Haus gestürmt käme und ihm zuriefe: »Es war alles ein Irrtum, Julien.«

Er wartete darauf, dass es passierte. Vergebens. Schweren Herzens ging er weiter. Als er den Laden seines Vaters betrat, sah dieser von der Verkaufstheke hoch, auf der er kostbares Büttenpapier ausgebreitet hatte.

»Mein Gott«, stammelte der Vater und rief rückwärtsgewandt: »Mutter! Der Junge ist zurück.«

Er kam hinter der Verkaufstheke hervor und umarmte seinen Sohn. »Du lebst! Du bist zurück.« Seine Finger strichen über sein Gesicht, als müsse er sich vergewissern, dass sein Sohn kein Fantasiegebilde war.

Die Mutter eilte nun ebenfalls herbei und drückte ihn mit tränenden Augen an sich. »Junge, was haben sie dir angetan? Du bist dünn geworden. Wie kommst du zu dieser Uniform?«

»Mutter, lass ihn erst mal zu Atem kommen. Geh in die Küche und schlachte ein Hühnchen. Heute ist ein Feiertag und da gönnen wir uns ein Huhn im Topf, was ein König einst zum Regierungsprogramm erhob. Doch nun komm in die gute Stube. Erzähl! Du trägst die Uniform der Nationalgardisten?«

»Kommt lieber in die Küche. Wartet, damit ich zuhören kann«, sagte die Mutter.

Sie lief in den kleinen Garten hinter dem Haus, wo sie das letzte Huhn ergriff, das aufgeregt zu gackern anfing, als wüsste es, welches Schicksal auf es zukam. Die Mutter beendete mit einem energischen Ruck am Hals das Flügelschlagen des Huhns, kam in die Küche zurück, klemmte sich das Tier zwischen die Schenkel und begann, es zu rupfen.

Der Vater hatte eine Flasche Wein geöffnet und nun saßen sie wie in früheren Zeiten am Küchentisch und Julien erzählte von seiner Leidenszeit in der Conciergerie, von den endlosen Tagen in Vincennes und seiner vergeblichen Hoffnung, dass Staats­anwalt Le Feré oder Abbé Leon ihm helfen würden.

»Ach, Junge. Sie hatten nie vor, dich freizulassen. Ich habe mit dem Staatsanwalt gesprochen. Einmal hat er mich vorgelassen, später dann nicht mehr. Er versprach mir, alles gründlich zu prüfen, aber es lägen gewichtige Anklagen gegen dich vor. Ach, Julien, warum musstest du dich ausgerechnet in die Tochter eines Aristokraten verlieben? Du hast sie doch nicht gezwungen, dich zu heiraten?«

»Gezwungen? Sie liebte mich doch. Wir liebten uns«, beteuerte er.

Der Vater schüttelte betrübt den Kopf. »Du kannst nicht wider die Welt. Man hebt nicht den Blick zu denen da oben. Wir sind doch nur einfache Leute. Die Montaignes dagegen verkehren mit Ministern. Auch jetzt noch behandelt das Zentralkomitee einen Monsieur de Montaigne mit großer Achtung.«

»Ist er jetzt zum Anführer der Kommune geworden?«, fragte Julien bitter spottend.

»Das gerade nicht. Aber er berät die Herren im Rathaus bei der Verwaltung der Stadt. Die meisten von den Unsrigen haben doch keine Ahnung, wie man eine große Stadt regiert. Ein Wort von ihm und die Delegierten lassen dich ins Gefängnis werfen. Du bist auch in der Uniform nicht außer Gefahr.«

»General Dombrowski hat in meine Entlassungspapiere schreiben lassen, dass ich unschuldig im Gefängnis saß.«

»Ach, Dombrowski? Er ist gewiss ein Held, aber die Delegierten des Gemeinderates brauchen die alten Kräfte, um die Versorgung der Stadt zu gewährleisten. Schuster und Schneider können keine Stadt regieren. Wenn Montaigne erfährt, dass du frei bist, fürchte ich um dein Leben.«

»Ich bin jetzt Korporal bei der Nationalgarde«, trumpfte Julien auf.

»Ob das reicht? Montaigne hat das Ohr von Felix Pyat, dem Herausgeber des Vengeur und Mitglied des Wohlfahrtsausschusses.«

»Er sollte zu dem guten Baron gehen«, warf die Mutter ein, die dabei war, das Huhn fachgerecht auszuweiden. »Er soll auch jetzt noch großen Einfluss haben und wie zu hören war, hat er sich gegen Pyat und dessen Drohungen ausgesprochen, dass er den Versaillern nur eine niedergebrannte Stadt überlassen würde. Daran solle sich Thiers erinnern, wenn er weiter gegen die Stadt vorgeht. Ein ganz schlimmer Mensch.«

»Wo hast du das denn wieder her?«, fragte der Vater erstaunt.

»Das hört man an den Brunnen. Aber auch von den Heldentaten Dombrowskis.«

»Zum Baron zu gehen, ist eine gute Idee«, stimmte der Vater zu. »Mutter, du bist von uns immer noch die Klügste. Warum bin ich nicht darauf gekommen? Ja, Sohn, geh zum guten Baron de Savigny, du verdankst ihm so viel. Er wird dich auch jetzt nicht im Stich lassen.«

»Wenn der Montaigne doch in Paris geblieben ist, wird auch Mercedes hier sein«, mutmaßte Julien.

»Junge, schlag dir die Mercedes auf dem Kopf. Vielleicht ist sie auch längst in Versailles. Wir haben sie seit Wochen nicht mehr gesehen.«

»Sie ist hier«, stellte die Mutter richtig. »Ich habe sie erst vorgestern gesehen, wie sie in eine Kalesche stieg.«

»Ach, Mutter«, klagte der Vater.

Ich muss sie sehen, sagte sich Julien. Ich muss. Ich muss, wiederholte er immer wieder in Gedanken.

Nach dem schmackhaften Mahl – Julien hatte schon lange nicht mehr derartig Gutes gegessen – ging er zum Palais des Baron de Savigny. Es stand am anderen Ende der Avenue Bugeaud, an der Ecke zum Boulevard Bois de Boulogne hin. Ein unprätentiöses weißes Haus ohne die üblichen Verzierungen mit Götter- und Feenköpfen über den Fenstern. Ein Faktotum in schwarzem Frack öffnete ihm und führte ihn ohne Umstände in den Salon des Barons.

Baron Edmond de Savigny war ein großer, würdig aussehender Mann mit schneeweißem vollem Haar, langen Koteletten und einem birnenartigen Kopf, der ihn wie der Bürgerkönig Louis Philippe aussehen ließ. Es hieß, dass er den Freimaurern angehöre. Sein Vermögen habe er mit Spekulationen an der Börse gemacht und er könne sich mit den Rothschilds messen. Doch dies gehörte zu dem, was die Frauen tuschelten, wenn sie sich in der Boulangerie trafen. Entgegen dem Habitus des ehemaligen Königs hatte er so gar nichts Gemütliches an sich, wozu maßgeblich seine Hakennase und die grauen, streng blickenden Augen beitrugen. Sein Gesicht war gelblich verfärbt, was wohl einem Leberleiden zuzuschreiben war.

»Ach, der verlorene Sohn ist wieder aufgetaucht«, sagte der Baron und sah Julien, gestützt auf einen Stock mit silbernem Knauf, nachdenklich an. Er musterte ihn, als würde er ihn zum ersten Mal sehen.

Wieder fiel Savigny auf, dass von seinem Schützling etwas Helles ausging, etwas Alexanderhaftes, der Schwung jugendlicher Unbedenklichkeit. Das war auch der Grund gewesen, warum er den Knaben unter seine Fittiche genommen hatte. Selbst das Gefängnis hatte ihm nichts von seiner Ausstrahlung genommen, auch wenn dem Baron das Feuer in Juliens Augen etwas gedämpfter erschien. Es war dem Grandseigneur nicht unrecht. Er wird langsam ein Mann, dachte er. Wenn er so weit ist, werde ich ihn in die Stellung bringen, in der er uns gute Dienste leisten kann.

»Junge, du hast mich schwer enttäuscht«, begann er bedächtig. »Ich dachte, du hast etwas in dir, das dich zu Höherem beruft. Aber dann lässt du dich auf eine kindliche Liebschaft ein, verheiratest dich heimlich mit einem Mädchen, für das du nicht die gesellschaftliche Stellung mitbringst. Die Ecole hat dich aufgrund deines Fehlens exmatrikuliert. Die Stufen zu den höchsten Ehren müssen mit Bedacht gegangen werden. Natürlich wirst du eines Tages jemanden heiraten, der zu unseren Kreisen gehört. Aber noch bist du ein Niemand. Sieh dich doch nur an. Du trittst mir in der Uniform eines Nationalgardisten entgegen, dieser Bande, die schon bald zu den Verlierern gehören wird. Du hast dein Leben beinahe schon verpfuscht. Ein ehemaliger Sträfling wird niemals eine Grande Ecole betreten dürfen. Julien, Julien. Ich hatte so viel mit dir vor und dir ist nichts wichtiger als die hübsche Larve einer Siebzehnjährigen.«

»Aber ist die Liebe nicht etwas Heiliges, von Gott gegeben?«, trotzte Julien in naiver Unschuld und mit feierlichem Ernst. »Können Sie nicht verstehen, dass man aus Liebe alle Bedenken beiseiteschiebt, alle Hindernisse überwinden will, um glücklich zu werden?«

»Glück? Auch so eine romantische Idee, die dieser Rousseau in die Welt gesetzt hat«, rief der Baron spöttisch und stampfte mit dem Stock auf. »Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um unserer Bestimmung gerecht zu werden. Ich wollte dich aufs Pferd setzen, auf dem du einem großen Ziel entgegenreitest, um deinem Volk und unserer heiligen Sache zu dienen. Es gibt eine Elite von Menschen, die für die nationale Ehre eintreten. Könige und Kaiser kommen und gehen, aber die Nation bleibt. Und es gibt Männer, die über ihre Ehre wachen. Du hättest ein gutes Werkzeug in den Reihen der Blut-Frankreich-Ritter werden können und dir wären Geld und Macht von allein zugefallen. Die Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist nur das Gestammel von neidischen Schwächlingen, die das Große, Erhabene zu sich herabziehen wollen. Gleichheit? Was für ein Wahnwitz! Schon im alten Sparta gab es Herren und Heloten, die zu dienen hatten. Macht bedeutet herrschen und dahinter steht der Stoff, der es ermöglicht. Geld. Viel Geld. Man muss gierig nach Macht und Geld sein und alles diesem Ziel unterordnen. Wenn du Geduld gehabt hättest, wäre dir eines Tages diese kleine Montaigne ohnehin zugefallen. Aber du hast den Preis zu früh einstreichen wollen. Sieh dich doch nur an! Diese roten Litzen! Ekelhaft. Das Volk hat nicht frei zu sein, sondern zu dienen. Brüder werden wir mit dem Abschaum der Vorstädte nie sein. Der Spuk der Kommune wird bald ein Ende haben.«

Julien hatte mit Entsetzen zugehört. Was Baron Savigny ihm sagte, widersprach all dem, was er in den Werken der Großen wie Voltaire, Rousseau und Diderot gelesen hatte. Das Gute und Wahre war also nur Schwäche? Er bekam Angst. Die Welt, wie er sie sich bisher erklärt hatte, verschwand unter den Argumenten des Barons.

»Aber was ist mit Jesus?«, stammelte er. »Er hat doch die Liebe gepredigt und ist für unsere Schuld am Kreuz gestorben«, versuchte Julien seine Vorstellungen von der Welt zu retten.

Savigny lief rot an. »Jüdische Lügengeschichten! Die Juden haben die Menschheit mit den Geboten des Ägypters Moses vergiftet und damit die Menschheit geschwächt. Sie haben dafür gesorgt, dass den Menschen ihre wahren Instinkte aberzogen wurden. Jüdische Ideen haben die sogenannten Enzyklopädisten mit ihrer sogenannten Aufklärung in die Welt gesetzt. Wenn ich schon das Gefasel über das Recht des Individuums höre. Pah, alles Unsinn. Dieser Weltverschwörung der Juden setzen wir die Ehre der Nation entgegen. Ich dachte, der Umgang in der Ecole, mit den Söhnen der einflussreichen Familien, bringt dir den Stolz bei, zu den Mächtigen gehören zu wollen. Du solltest Teil der Eliten werden, und was tust du? Aber noch ist es nicht zu spät. Noch kannst du gerettet werden. Du bist intelligent. Die Lehrer sagten mir, dass du ein Phänomen bist, dass du nur etwas zu lesen brauchst und schon sitzt es fest in deinem Kopf. Du wirst mir von nun an über alle Machenschaften der Kommune berichten. Was passiert bei den Nationalgarden? Was im Wohlfahrtsausschuss? Was wird im Rathaus geredet? Willst du das tun?«

Julien, der die Welt, wie er sie verstanden hatte, unter den beißenden Worten des Barons verschwinden sah, nickte automatisch. Der Baron war doch der Gute und so viel klüger als er oder sein Vater, als alle, die er kannte. Er war sich nicht gleich bewusst, worauf er sich einließ.

Der Baron reichte ihm die Hand und Julien schlug ein.

»So ist es abgemacht. Ein neuer Pakt«, sagte Savigny und gab ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. »Enttäusch mich nicht noch einmal!«

Doch schon wälzte sich in seinem Kopf eine Frage, ein Verdacht heran. »Aber ich bin kein Spitzel! Das ist unehrenhaft.«

»Unfug!«, schnaubte der Baron. »Es gibt eine höhere Ehre: Der Dienst für die Nation, für das Vaterland, für die Glorie Frankreichs. Du hast nichts mit diesen Verrückten in der Kommune gemein. Sie werden dir nie das geben können, was ich dir geben kann. Geht das endlich in deinen plebejischen Schädel hinein? Noch einmal verzeihe ich dir nicht. Ich habe dich auserwählt, eines Tages zu denen zu gehören, die die wahre Macht im Land haben. Ordne dieser Ehre alles unter. Der Verrat an den Kommunarden bedeutet für die Ehre der Nation einzutreten.«

»Und was ist mit Mercedes?«

»Was soll mit dem dummen Ding sein?«

»Sie ist doch meine Frau«, flüsterte Julien unglücklich. »Helfen Sie mir, sie zu sehen. Ich muss wissen, warum sie mich verleumdet hat.«

Savigny lehnte sich zurück und betrachtete den jungen Mann unzufrieden, ein wenig irritiert darüber, dass sein Geschöpf sich immer noch um diese leidige verrückte Geschichte kümmerte, die von Anfang an eine Torheit und eine Chimäre gewesen war. Unwillig kaute er auf seiner Unterlippe.

»Vergiss sie«, sagte er kalt.

»Sie sind der Einzige, der mir helfen kann«, bettelte Julien in dem törichten Glauben, dass dieser mächtige Mann, der ihm eine große Zukunft voraussagte, auch diesen Wunsch erfüllen konnte.

In den Augen des Barons blitzte es auf. »Na gut. Ich werde dir helfen, dich zu heilen. Wenn ich dir den Wunsch erfülle, sie noch einmal zu sehen, wirst du mir dann uneingeschränkt dienen?«

Julien nickte heftig, nicht daran denkend, dass er sich damit dem Baron endgültig unterwarf, einen Pakt einging, der allem widersprach, woran er bisher geglaubt hatte.

»Schön, dann komm heute Abend wieder. Du wirst Mercedes sprechen können und danach wirst du klüger sein und tun, was ich dir sage.«

Julien hörte nur das, was er hören wollte. Der gute Baron ermöglichte es ihm, seine Frau zu sehen und er nickte glücklich.

Wie betäubt ging er hinaus und vertrieb sich die Zeit damit, auf die Champs Elysées zu gehen, diesem prächtigen Boulevard mit seinen Cafés hinter dem Etoile. Er staunte, dass hier von der Belagerung nichts zu spüren war. Die Cafés waren voll mit Dandys, Spekulanten, Pensionären, Anwälten, Schreibgehilfen und Schiebern. Banker saßen fettleibig in den Korbstühlen und spotteten über die Anstrengungen der Kommunarden im Rathaus. Er hörte, wie sie Thiers lobten und die Kollaboration mit den Preußen schönredeten.

Man konnte die erlesensten Delikatessen bestellen, wenn man das nötige Geld hatte, während in den Vorstädten das Volk hungerte. Längst hatte man alle Rinder und Pferde geschlachtet, alle Katzen und Hunde waren verschwunden, und es ging das Gerücht um, dass selbst Jagd auf Ratten gemacht wurde. Auch darüber wurde gespottet und man nannte es nur recht und billig, dass das gemeine Volk für den Wahnsinn der Kommune zu zahlen habe. Die Nationalgardisten, denen man vor Kurzem noch zugejubelt hatte, wurden nun mit Hohn und Spott überschüttet. Plakate an den Litfaßsäulen zeigten, wo man zum Cancan einlud. Die Demimonde mit dicken Krawatten und hohen Zylindern nannte die Preußen halb so schlimm.

Es gab also zwei Paris, stellte er verwundert fest. Das hungernde, ehrliche und wahrhaftige und das reiche, lüsterne und gierige. Angewidert ging er bis zum Place de la Concorde, wo man einst den König und die Aristokraten guillotiniert hatte, wandte sich nach links der Rue St. Honoré zu. Auch hier boten die Geschäfte noch alles, was zu einem guten Leben gehörte. Man musste nur zu denen gehören, die Savigny als die wahren Herren Frankreichs bezeichnet hatte, die Geldmenschen. Aber war das eine Welt der Ehre? Doch der Baron tat ihm nur Gutes, hatte ihm sogar verziehen. Er wusste schließlich mehr vom Leben.

Er war sehr verwirrt, als er gegen Abend beim Baron eintraf. Der Domestik führte ihn wieder in den Salon. Neben dem Baron saß Mercedes. Sein Herz schlug so schnell, dass ihm die Luft knapp wurde. Wie schön sie war, zart, bleich, mit weit geöffneten Augen saß sie in dem Sessel.

Julien griff sich an Herz und flüsterte: »Mercedes.«

Sie sah an ihm vorbei. Ihre Lippen waren weiß und fest aufeinandergepresst. Er stürzte auf sie zu und umarmte sie. Aber sie machte sich steif wie eine Puppe. Als er sie küssen wollte, wandte sie sich ab.

»Was ist passiert, Mercedes?«, rief er erschrocken. »Ich liebe dich und du liebst mich doch auch. Zu diesem dummen Brief hat man dich doch gezwungen, nicht wahr? So sprich doch!«

»Wir haben eine Kinderei begangen«, erwiderte sie leise und löste sich aus seiner Umarmung.

»Aber du bist doch meine Frau.«

»Nicht mehr. Vater hat sich darum gekümmert, dass die Ehe aus allen Registern getilgt ist. Du hast mich ins Unglück stürzen wollen.«

»Was sagst du da? Erinnere dich an unser kleines Hotel in St. Germain. Wir haben uns ewige Liebe geschworen. Es war unsere Hochzeitsnacht.«

»Wie kannst du so etwas behaupten! Wir hatten nie eine Hochzeitsnacht. Nie. Nie!«, keuchte sie.

»Es war ein Nachmittag. Ein wunderschöner sonnendurchfluteter Nachmittag. Das Licht fiel golden in unser kleines Zimmer. Aber für uns war es die Hochzeitsnacht.«

»Hör auf damit! Ich will all das vergessen. Du hast mir mit deinen dummen Ideen nur Unglück gebracht!«

Der Baron beobachtete ihr Gespräch mit kalter Miene.

»Du wolltest mich zu dir und deinesgleichen herabziehen«, schluchzte sie. Tränen hinterließen eine nasse Spur auf ihrem schönen Gesicht.

Julien erschrak. So langsam begriff er, dass er hier eine andere Mercedes vor sich hatte. Die Montaignes hatten sie umgedreht. Sie war nicht mehr das Mädchen aus dem Jardin du Luxembourg. Aber er wollte, er konnte noch nicht aufgeben.

»Erinnerst du dich nicht mehr daran, was wir für einander waren? Erinnerst du dich nicht mehr an deine Worte? Du liebst mich wie dein Leben, hast du mir geschworen. Niemals wolltest du einem anderen gehören.«

Sie setzte sich steif im Sessel zurecht und sagte entschlossen: »Es ist aus, Julien. Akzeptiere das. Geh aus meinem Leben. Kümmere dich nicht mehr um mich. Es ist aus … aus … für immer. Wenn du noch irgendetwas für mich fühlst, dann verschwinde aus meinem Leben. Ich hasse dich für das, was du mir angetan hast. Wie viel Leid hast du mir und meiner Familie zugefügt.«

»Ich glaube, dass damit alles gesagt ist«, mischte der Baron sich ein. »Mercedes, geh in die Bibliothek. Dein Vater wartet dort auf dich. Ich werde mit Julien reden. Er wird dich nicht mehr belästigen.«

Mercedes stand steif auf und sah Julien entsetzt an, als würde ihr erst jetzt bewusst, was sie gesagt und getan hatte. Sie schlug die Hände vors Gesicht und lief schluchzend aus dem Salon.

»Du hast es gehört«, brummte Savigny und nickte gewichtig. »So läuft das nun einmal. Du gehörst noch nicht zu der Welt der Montaignes. Aber durch mich kannst du einer von ihnen werden. Was habe ich dir gesagt? Was ist wichtig? Geld und Macht! Wenn du unserer Bruderschaft treu dienst, wirst du mächtig werden und die hochangesehenen Familien werden dir ihre Töchter andienen. Und wer weiß, vielleicht wird dann auch Mercedes dabei sein.«

»Man wird sie schnellstens verheiraten«, klagte Julien niedergeschlagen, wie betäubt von der Begegnung mit Mercedes, die so ganz anders verlaufen war, als er es sich erträumt hatte.

»Möglich. Aber sie wäre nicht die erste Frau, die sich der ersten Liebe erinnert.«

Julien war nur zu gern bereit, all das zu glauben, was ihm der Baron erzählt hatte.

»Ich werde genau beobachten, Julien, ob du es wert bist, in unseren Kreis aufgenommen zu werden. Du wirst tun, was ich von dir verlange, nicht wahr?«

Julien nickte heftig. »Ich weiß, dass Sie es immer nur gut mit mir gemeint haben«, sagte er demütig.

»So ist es recht. Hör zu, ich habe einen Auftrag für dich. Wir müssen wissen, ob die Jakobiner tatsächlich bereit sind, eher Paris anzustecken, als sich zu ergeben. Wollen sie wirklich unsere herrliche Stadt, das Symbol für Kultur und Zivilisation, in Schutt und Asche legen, wie dieser Pyat gedroht hat? Um entsprechende Maßnahmen treffen zu können, müssen wir wissen, wie ernst dies gemeint ist. Notfalls werden wir durch ein Meer von Blut die Ordnung wiederherstellen. Merke dir, im Dienst der Bruderschaft gehörst du zu den Guten. So wird es in den Geschichtsbüchern stehen. Die Kommunarden sind Pack. Abschaum. Nun geh und melde dich bei mir, wenn du etwas erfahren hast.«

Julien taumelte hinaus und ging benommen zum Haus seiner Eltern zurück. Er hatte immer noch das abweisende Gesicht von Mercedes vor Augen und das schmerzhafte Bild, wie sie seinen Küssen auswich. Er hörte immer noch die Stimme des Barons, leidenschaftslos, lakonisch und schonungslos.

»Du siehst aber wirklich nicht gut aus«, empfing ihn der Vater. »Konnte der gute Baron dir nicht helfen?«

»Doch. Er hat es versucht. Mercedes betrachtet unsere Ehe als Kinderei«, sagte er tonlos und sackte auf dem Küchenstuhl zusammen.

Der Vater atmete aus und strich über seine Hand. »Vielleicht hat sie sogar recht. Man spannt nicht Esel und Pferd ins Gespann.«

»Nun hör aber auf«, stand die Mutter Julien bei. »Wie kannst du solche Vergleiche bringen? Sie sind vor Gott zusammengegeben worden. Konnte der gute Baron dir denn gar nicht helfen?«

»Doch. Nicht was Mercedes betrifft, aber er will mich weiter unter seine Fittiche nehmen.«

»Ich wusste es«, freute sich die Mutter. »Er ist ein guter Mensch. Er weiß, was du wert bist.«

Julien erzählte nicht, dass ihn Savigny zu seinem Spion machen wollte. Stöhnend stand er auf und holte das Gewehr aus der Ecke. »Ich muss zu meinem Regiment zurück.«

»Natürlich musst du gehen«, stimmte der Vater zu. »Aber handle ehrenhaft in allem, was du tust.«

»Warte«, hielt ihn die Mutter auf. »Ich will dir noch Brot und etwas Blutwurst mitgeben, damit du nicht verhungerst. Ich habe ein kleines Bündel gerichtet.«

Schweren Herzens und mit dunklen Gedanken verließ er das Elternhaus.

In Neuilly fand er seine Truppe in einer Kirche untergebracht. Man hatte das Gotteshaus in ein Quartier für die Soldaten umfunktioniert. Das Kirchenschiff diente als Schlafsaal.

»Julien, was ist mit dir?«, fragte Tessier besorgt. »Du hast rote Augen. War das Wiedersehen so schlimm?«

Stockend erzählte er, dabei die Tränen unterdrückend, was er erlebt hatte.

»Schweinerei!«, schnaubte Tessier. »Was sind die Aristokraten doch für Halunken. Und du sollst nun dem Savigny als Zuträger dienen? Selbstverständlich wirst du das nicht tun.«

»Aber er hat nur Gutes getan und mir verziehen und will mich …«

»Was bist du doch für ein Kindskopf. Klar, er hat dir alles Mögliche versprochen. Aber begreife doch. Du sollst für ihn die Drecksarbeit erledigen. Nun komm! In St. Germain tagt der Wohlfahrtsausschuss. Ich will wissen, was gespielt wird. Delesclyze hat mit Thiers verhandelt. Bin gespannt, was dabei herausgekommen ist.«

»Wer ist dieser Delesclyze?«

»Er ist für die Kriegsverwaltung zuständig. Soll ein kluger Mann sein. Sein Vorbild ist … Robespierre.«

»Lass mich. Ich bin so müde und fühle mich wie ausgespuckt. Außerdem – wir können doch nicht einfach abhauen?«

»Siehst du hier jemanden, der über die Einhaltung der Disziplin wacht? Die Hälfte ist besoffen und Pomeron habe ich schon seit Stunden nicht mehr gesehen. Unser Besuch dort wird dich auf andere Gedanken bringen. Wir haben Zeit genug. Erst morgen früh werden wir zu den Barrikaden am Stadtrand eingeteilt. Nun komm schon.«

Der Wohlfahrtsausschuss tagte auf dem Boulevard St. Germain. Vor dem Haus wehte eine mächtige rote Fahne. Sie kamen in einen Saal, der hoffnungslos überfüllt war. Aber Tessiers grimmiges Gesicht, unterstützt durch derbe Püffe, bahnte ihnen den Weg in die erste Reihe oben auf der Galerie, von der man einen guten Überblick hatte. An einem langen Tisch saß der Wohlfahrtsausschuss. Einige der Mitglieder trugen die roten Mützen der Phrygier.

Delesclyze kam gerade zum Ende seiner Rede. Er war wie sein Vorbild Robesspierre korrekt gekleidet, trug ein altmodisches Rüschenhemd unter einem langen schlichten blauen Rock. Sein Haar war streng nach hinten gekämmt. Aber er sah mit seinem faltigen puterähnlichen Gesicht so gar nicht wie sein großes Vorbild aus.

»Sie spielen mit uns«, resümierte Delesclyze. »Es ist eine ungeheure Farce. Sie verlangen die Entwaffnung des Volkes und die Bestrafung derjenigen, die die Generäle getötet haben. Thiers hat allen Bedingungen der Preußen zugestimmt und verzichtet auf das Elsass und Lothringen. Frankreich werden riesige Kontributionen auferlegt. Thiers verlangt, dass wir uns auf Gnade und Ungnade ergeben. Mit den Versaillern ist nicht zu reden. Sie benehmen sich den Preußen gegenüber wie Schafe, aber uns gegenüber wie Wölfe. Uns bleibt nur Sieg oder Tod.«

»Sieg oder Tod!«, schrie die Versammlung.

»Schon morgen werden die Versailler zur Großoffensive übergehen«, fuhr der Vorsitzende des Wohlfahrtsausschusses fort. »Wir werden ihnen einen heißen Empfang bereiten. General Dombrowski hat mir zugesichert, dass sie nicht durchkommen werden. Bürger, es gilt nun: Zeigen wir den Geist von Valmy! Es lebe das Volk von Paris.«

»Ça ira, ça ira!«, brüllte die Menge.

Jemand schlug Julien auf die Schulter.

»Du hier!«, brüllte Abbé Leon mit freudig glühendem Gesicht. »Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich dich hereinkommen sah. Du bist wieder da und trägst die Uniform der Nationalgardisten. Bravo, Julien! Dann hat meine Unterweisung doch Früchte getragen. Komm, wir gehen rüber ins Procope. Wir haben uns viel zu erzählen. Wir versäumen nichts. Hier redet jetzt nur noch die zweite Garde.«

»Ich bin mit meinem Freund hier«, wandte Julien ein.

»Geh nur«, sagte Tessier nach einem misstrauischen Blick auf den Abbé. »Ich höre mir noch eine Weile die Reden an und komme dann nach. So einen piekfeinen Laden wie Le Procope habe ich mir noch nie leisten können.«

Sie gingen über den Boulevard zu dem Restaurant, das in einer Seitengasse lag, und Julien begann zu erzählen, was ihm widerfahren war.

»Wenn nicht Tessier mein Zellengenosse geworden wäre, hätte ich mir irgendwann an der Wand den Schädel eingeschlagen. Das Schlimmste war die Ungewissheit. Kein Gerichtsverfahren, keine Nachricht von Feré, geschweige denn von meinen Eltern. Ich existierte nicht mehr.«

»Ich habe nach dir gesucht. Freunde haben für mich bei der Gendarmerie und bei Gericht nachgeforscht. Aber wir stießen auf eine Mauer des Schweigens. Wir erfuhren noch, dass du dem Untersuchungsrichter vorgeführt wurdest, aber dann nichts mehr. Du warst verschwunden. Wir wähnten dich schließlich tot. Und jetzt bist du ein Revolutionär geworden und trägst die Farben der Nationalgarde.«

»Ich weiß nicht, was ich bin«, gestand Julien freimütig.

»Du glaubst doch an das Volk und seine unveränderlichen Rechte«, entgegnete der Abbé vorwurfsvoll.

Sie betraten das Procope, das wie ein Salon aus der Zeit des Ancien Régime aussah. Man konnte sich gut vorstellen, wie sich die Enzyklopädisten hier getroffen und die Köpfe zusammengesteckt hatten oder der große Voltaire über die Kirche geflucht hatte: »L’infâme.«

Der Abbé bestellt eine große Fischplatte und einen Weißwein aus dem Elsass.

»Und? Hast du deine Frau wiedergesehen?«

»Ja. Sie will nicht mehr meine Frau sein«, stieß er rau aus. »Es sei alles eine Kinderei gewesen.«

»So ist das mit den Weibern der Bourgeoisie. Ein Grund mehr, die ganze Bande zum Teufel zu wünschen.«

»Savigny hat mir verziehen und will mir helfen, dass ich vorankomme. Er will sogar dafür sorgen, dass ich eines Tages bei der Bruderschaft der Blut-Frankreich-Ritter aufgenommen werde, die für die nationale Ehre Frankreichs eintritt.«

Der Abbé zuckte zurück, als wäre er geschlagen worden.

»Du, ein Mitglied der Blut-Frankreich-Ritter? Weißt du nicht, dass die schlimmer als die Jesuiten sind, schlimmer als Thiers und seine Freunde? Sie wollen, dass alles beim Alten bleibt. Sie wollen eine Oligarchie der Besten. So etwas wie Platons Staat. Letzten Endes läuft es auf die Herrschaft des Geldes hinaus. Diesem Geheimorden gehören Aristokraten, Spekulanten, Bänker und die übelsten Geschäftemacher an. Es sind die, die immer oben schwimmen. Bei der großen Revolution sind sie nach London, in die Schweiz und nach Koblenz geflohen und haben von dort intrigiert. Julien, ich würde dich lieber tot sehen wollen, als dass du einer von denen wirst. Warum kümmert sich dieser Savigny um dich? Was will er von dir?«

Julien atmete schwer. Er erkannte, dass er sich entscheiden musste. Wollte er zu den Blut-Frankreich-Rittern gehören oder für das Volk sein und für Freiheit und Gleichheit kämpfen? Er sah Mercedes wieder vor sich, sah die Kälte in ihren Augen. Natürlich war er für das Volk. Schon sein Vater war immer für die Republikaner gewesen und der Abbé hatte ihm wieder und wieder von den Rechten erzählt, die man dem Volk vorenthielt. Andererseits war die Zukunft, die ihm der gute Baron wies, gar zu verlockend. Wenn er sich auf die Seite Savignys schlug, würde er eines Tages zu den Mächtigen gehören, vielleicht sogar Mercedes wiedergewinnen und die Montaignes würden stolz sein, ihn zum Schwiegersohn zu haben. Es konnte doch zwischen Mercedes und ihm nicht zu Ende sein.

»Rede«, drängte der Abbé. »Was will der Baron von dir?«

Julien gab sich einen Ruck, hörte auf sein Herz, entschied sich und berichtete, was der Baron von ihm verlangte und verschwieg auch nicht den Verdacht Savignys, dass die Kommunarden Paris in Brand stecken wollten.

»Ha, da siehst du die Falschheit der Bourgeoisie!,« schrie der Abbé so laut auf, dass man sich im Restaurant nach ihnen umdrehte.

Leiser fügte er hinzu: »Die Blut-Frankreich-Ritter würden Vater und Mutter opfern, wenn es dabei helfen würde, die Macht zu behalten. Sie haben Angst vor uns, Angst davor, dass wir sie aus den Schlössern jagen, die Banken schließen und das Geld abschaffen. Oh ja, ob Sieg oder Niederlage, es wird ein Meer von Blut fließen. Übrigens, der Hummer ist wirklich vorzüglich. Wie schaffen es die Köche vom Procope nur, solche Köstlichkeiten durch die Absperrung zu bringen?«

Eingedenk dessen, was ihn Savigny gelehrt hatte, antwortete Julien knapp: »Geld schafft alles.«

Die Augen des Abbé verengten sich zu Schlitzen. »Geld verdirbt die Seele. Deswegen wollen wir es ja auch abschaffen. Wir müssen alles umgestalten und die Aristokratie und ihre Helfershelfer, die Bourgeoisie, ausbrennen. Auch wenn wir durch ein Meer von Blut waten müssen.«

Julien erschrak. Schon wieder diese Androhung von dem Meer von Blut. Hatte nicht auch der Baron von Savigny davon gesprochen? Was passierte in Frankreich? Die Geldleute hassten das Volk, durch das sie reich geworden waren, und das Volk hasste die Geldleute, weil es sich das Geld hatte abnehmen lassen. Aber wenigstens hatte das Volk gute Gründe, die da oben zu hassen.

Herz und Verstand sagten ihm, wo er hingehörte. Aber das Volk würde ihm Mercedes nicht zurückbringen.

»Du wirst es tun?«, drängte der Abbé.

»Was tun?«, fragte er überflüssigerweise. Er wusste, was der Abbé von ihm verlangen würde.

»Du sagst dem Savigny, dass nichts davon stimmt. Die Gerüchte über den Brand von Paris sind nur hohles Gerede. Niemand will in Paris Feuer legen.«

War da doch etwas dran? Dieser Gedanke kam ihm plötzlich und ließ ihn nicht mehr los. Warum war es dem Abbé so wichtig, dass er Savigny beruhigte?

»Ihr wollt doch nicht …?«, fragte er entsetzt.

»Unsinn! Das ist nur revolutionäre Großsprecherei von Leuten, die sich zu wichtig nehmen. Wir werden doch die Heimstatt unseres Volkes nicht vernichten.«

Der Abbé war lange genug Juliens Lehrer gewesen, um zu wissen, was sein Schüler verkraften konnte. Er wusste um sein romantisches Gemüt, um seine Ideale, die er ja selbst in ihn gepflanzt hatte, die aber nun auf die harte Wirklichkeit stießen. Und außerdem, war das, was Savigny Julien vorgegaukelt hatte, nicht gar zu verlockend? Natürlich würde Julien keiner der Mächtigen werden, natürlich nur ein Werkzeug bleiben, dem man immer wieder die eigenen Sehnsüchte vor Augen hielt. Also beschloss der Abbé, behutsam vorzugehen.

»Wir dürfen den Versaillern keinen Grund liefern, mit Terror gegen das Volk vorzugehen«, sagte er beschwörend. »Wenn sie glauben, das Brandgerede stimmt, werden sie uns alle erbarmungslos füsilieren.«

Julien nickte.

»Gut, Leon. Ich werde tun, was du verlangst.«

»Du wirst doch noch ein richtiger Phrygier«, lobte der Abbé. »Ich werde dich in die Loge des höchsten Wesens einführen. Doch nun muss ich zurück in den Wohlfahrtsausschuss, damit der keine unsinnigen Beschlüsse fasst.«

»Bist du so einflussreich?«

»Ich nicht. Aber die Loge des höchsten Wesens, die ich vertrete«, erwiderte er grinsend.

Der Abbé erhob sich und Julien sah ihn erstaunt an.

»Du musst doch noch zahlen.«

Der Patron kam auch schon herbeigeeilt. »Ich hoffe, Sie waren mit dem Essen und dem Wein zufrieden, Bürger Leon?«

»Oh, durchaus. Ganz vorzüglich.«

»Dann bin ich auch zufrieden. Beehren Sie uns bald wieder.«

Er verbeugte sich und lief in die Küche zurück. Keine Rechnung, staunte Julien. Sie gingen die Treppe hinunter zum Ausgang.

»Du brauchst tatsächlich nicht zu zahlen?«, insistierte Julien.

»Nein. Als Mitglied des Wohlfahrtsausschusses hat man so seine Privilegien.«

»Du bist doch gar nicht im Vorsitz.«

»Nein, aber ich bin in der Loge des höchsten Wesens.«

Das ist nicht gerecht, dachte Julien. Was war nun mit der Gleichheit? Es schienen einige noch gleicher zu sein als gleich. Der Abbé bemerkte Juliens Befremden.

»Dafür setzen wir im Kampf gegen die herrschende Ordnung auch unser Leben ein. Wir sind die Avantgarde.«

Vor der Tür erwartete sie Tessier. Mit bösem Blick auf den Abbé grollte er: »Sie wollten mich nicht einlassen. Ich war schon im Restaurant, da haben sie mich rausgeschmissen. Mann, hatten die Glück, dass ich keinen Ärger machen wollte. Am liebsten hätte ich sie aufgeschlitzt!«

»Das hätte keinen guten Eindruck gemacht«, bestätigte der Abbé ernst. »Vielleicht hätte es sogar Julien geschadet.« Väterlich legte er den Arm um seinen Schüler.

»Du meldest dich jede Woche einmal bei mir. Ich wohne jetzt in einem Seitenflügel des Palais Royal. Ich melde mich, wenn ich eine Gelegenheit sehe, dich der Loge vorzustellen. Ich weiß ja, dass du beim General Dombrowski steckst und dem Regiment 203 zugeteilt bist.«

Er klopfte auf Juliens Rücken, nickte Tessier arrogant zu und ging zum Boulevard St. Germain zurück.

»Ein Abbé, der sich als Jakobiner aufführt! Das kann doch nur ein falscher Hund sein«, schickte ihm Tessier hinterher. »Ich könnte diesem Kerl den Dolch ins Gekröse stoßen.«

»Hör auf, Marc. Ich habe heute schon genug über ein Meer von Blut gehört.«

»Hüte dich vor diesem falschen Abbé sowie vor diesem Savigny. Du kannst dich gewaltig zwischen die Stühle setzen.«

Wenn ich nicht schon gehörig zwischen den Stühlen sitze, dachte Julien bei sich. Sowohl Savigny als auch der Abbé erwarteten wöchentliche Berichte. Doch er hatte in der letzten Zeit so viel Pech gehabt, dass er glaubte, jetzt sei erst einmal wieder das Glück dran. Wir Menschen sind nun einmal so veranlagt. Wir glauben immer, dass es nicht noch schlimmer kommen kann.

Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo

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