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8 – Die letzte Barrikade am Quai Voltaire

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(Émile Zola erzählt)

Man hatte Dombrowskis Befehle befolgt. Überall in den einzelnen Arrondissements erhoben sich Barrikaden aus Sandsäcken, Möbeln, Kutschwagen und Pflastersteinen. Meterhoch türmten sich die Wälle des Volkes. Angst stand in den Gesichtern, aber auch Trotz, Verzweiflung und Mut. Man nahm es demütig an, dass man zum letzten Gefecht antrat. So jedenfalls dachte das Volk aus den Vorstädten. Noch einmal gellten die großen Worte in den Straßen: Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. Denen, die sich mit den Preußen gemein gemacht hatten, zeigte man ein anderes, das wahre Frankreich. In den Palästen fieberte man dem Ende der Kommune entgegen. Alles sollte wieder so werden, wie es war, nur eben ohne Kaiser, in einer Republik des Bürgertums und der Reichen. Thiers war ihre Hoffnung.

In der Stadt herrschte ein heilloses Chaos. Bereits auf den Champs Elysées wurde Julien von flüchtenden Truppen hinunter zum Place Concorde mitgerissen. Rauch, dem Nebel gleich, ließ alles unwirklich, wie in einem bösen Traum erscheinen. Er, Julien, wusste, was dies bedeutete. Der Wohlfahrtsausschuss hatte zum letzten Mittel gegriffen. Die Tuilerien brannten. Paris sollte mit der Kommune untergehen. Die Petroleusen waren an der Arbeit. Aber nicht nur die kaiserliche Residenz brannte, überall in den Arrondissements gab es Brandstellen. Er wurde von den in Panik geratenen Massen zur Rue de Rivoli getrieben. Dort traf er auf das Frauenbataillon der Prinzessin Dimitrieff. Als diese Julien erkannte, ließ sie halten und winkte ihn energisch heran. Auch ohne Pferd wirkte sie nicht weniger kriegerisch. Ihr Gesicht war rauchgeschwärzt. War dies noch die Frau, die in jener Nacht so zärtlich zu ihm gewesen war? Sie stank nach Petroleum und sah aus wie der Hölle entstiegen.

»Na, mein Hübscher, dies ist der Totentanz von Paris. Wie gefällt dir unser Cancan?«

»Was treibt ihr Wahnsinnigen?«, fragte er, obwohl er es wusste.

»Thiers wird in diesem Paris nicht glücklich werden.« Ihre weißen Zähne blitzten in dem rußigen Gesicht. »Wir haben gerade das Palais der Ehrenlegion zur Fackel gemacht. Das Paris der Reichen verglüht!«

»Mein Gott, es ist unser Paris. Wie konntet ihr nur?« Erregt sah er um sich. Gab es denn niemanden, der dem Wahnsinn Einhalt gebot?

»Wer gab den Befehl dazu?«, fragte er, sich daran erinnernd, was Flamboyant ihm aufgetragen hatte.

»Du jedenfalls nicht«, erwiderte Dimitrieff spöttisch. »Deinen Auftrag hat Citoyen Flamboyant persönlich übernommen. Nun, mein Hübscher, jetzt lernst du die richtige Revolution kennen. Wir werden auf allen Stadtpalästen den roten Hahn krähen lassen.«

»Ich verbiete dir das!«, schrie Julien aus Verzweiflung und Zorn und doch in dem Bewusstsein, ohnmächtig zu sein.

»Dein neuer Rang ist dir wohl zu Kopf gestiegen. Niemand hat der Prinzessin Dimitrieff Befehle zu erteilen.«

»Und doch befolgst du die Befehle von Flamboyant?«

»Er verdient meine Achtung. Er ist Meister der Loge des höchsten Wesens. Was sorgst du dich um die Paläste der Reichen und Mächtigen? Morgen sind wir alle tot. Glaubst du, dass man dich verschonen wird? Aber wenigstens hast du noch einmal mit einer richtigen Frau gefickt, mein Goldstück.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, strich ihm über das Haar und wandte sich ab.

»Wo willst du hin?«, schrie er ihr nach.

»Zum Finanzministerium«, rief Dimitrieff. Die Frauen hinter ihr sangen wie Betrunkene und viele waren es auch:

Lustig, lustig, Brüder und Schwestern,

weg mit den Meistern und Pfaffen…

Die Tuilerien brannten wie eine riesige Kerze. Die Feuer färbten die Wolken rot. Der Widerschein ließ das Wasser der Seine blutrot erscheinen.

Dimitrieff drehte sich noch einmal zu ihm um und sah einen Augenblick traurig zu ihm herüber. »Adieu, meine letzte Liebe!« Sie winkte und zog mit ihren Frauen singend weiter.

Benommen taumelte Julien über die Brücke und drängte sich zum Quai Voltaire durch. Auch hier roch es nach Rauch und Petroleum. An der Ecke Rue des Saints Pères stieß er auf eine Barrikade, auf deren Spitze Courbet stand.

»Da kommt unser Hauptmann«, brüllte er.

Tatsächlich, sein Regiment war hierher gespült worden und hatte diese Barrikade errichtet. Er kletterte über die Trümmer. Tessier empfing ihn und drückte ihn an sich.

»Ich hatte schon Angst, dass wir ohne unseren Hauptmann das letzte Gefecht führen müssen.«

»Was ist passiert?«

Tessier zuckte mit den Achseln. »Wir hatten uns alle zum Marsch nach Neuilly versammelt, als plötzlich aus den Seitenstraßen Liniensoldaten auftauchten. Nicht nur ein paar hundert, sondern tausende, was weiß ich. Ein riesiges Durcheinander entstand. Schließlich kam der Befehl, sich auf die Barrikaden in der Stadtmitte zurückzuziehen.«

»Und das da?«, fragte Julien und deutete auf die brennenden Tuilerien.

»Da haben sich Dimitrieffs Weiber wohl selbstständig gemacht.«

»Warum tut keiner was?«

»Wie ich gesehen habe, tun sich in den einzelnen Stadtteilen Bürger zusammen und bilden Wasserketten. Aber die Tuilerien sind nicht mehr zu retten. Die Petroleusen haben ganze Arbeit geleistet. Wir von der Nationalgarde sind nicht die Feuerwehr. Wir kämpfen nur noch um unser Leben.«

»Es ist eine Schande«, stöhnte Julien.

»Kümmere dich jetzt lieber um unsere Leute. Schließlich bist du Hauptmann. Es ist nur eine Frage der Zeit, da werden die Versailler auftauchen. Wie zu hören ist, erschießen sie alle, die mit einem Gewehr angetroffen werden.«

Julien inspizierte die Truppe. Es waren noch dreißig Mann von der 101. Der Rest hatte wohl das Weite gesucht. Zu seiner Überraschung drängten auch viele Zivilisten zur Barrikade. Wie erstaunt war er, als er unter ihnen Auguste, Hubert, Armand, Charles und Jean entdeckte, seine Kameraden vom Lyzeum. Erfreut ging er auf sie zu.

»Euch hätte ich hier nun wirklich nicht erwartet.«

»Wieso? Auch wir sind gegen die, die sich mit den Preußen eingelassen haben und ihnen Frankreich für das Linsengericht des Friedens übereignen«, trompetete Auguste.

»Wir treten für die Ehre Frankreichs ein«, rief Hubert pathetisch und Charles, Armand und Jean pflichteten ihm bei. Sie alle trugen Jagdgewehre.

»Gut. Ich bin froh, dass wir jetzt alle Pariser sind. Das Trennende muss in diesen Stunden vergessen sein.«

»Bilde dir nur nichts ein, Ladenschwengel! Trotz deiner Hauptmannsuniform besteht zwischen dir und uns immer noch ein riesengroßer Unterschied«, giftete Auguste.

»Wie bist du denn zu einem so hohen Rang gekommen?«, staunte Charles. »Bei wem hast du dich eingeschleimt?«

»Ich habe dem Volk gedient«, erwiderte Julien schlicht.

Die Fünf lachten hämisch.

»Lassen wir das. Ihr könnt hinter uns den Eingang zur Rue St. Pères absichern«, schlug Julien vor, die Boshaftigkeit missachtend. »In der Not müssen wir zusammenstehen. Errichtet dort eine Barrikade. Sollten die Liniensoldaten auftauchen, versucht sie so lange aufzuhalten, bis wir euch zu Hilfe eilen können.«

»Sagt wer?«, höhnte Auguste.

»Jungs! Wir stehen hier kurz vor einem Gefecht. Damit herrscht jetzt Kriegsrecht«, brüllte Tessier den Fünfen zu. »Wer einem Hauptmann nicht gehorcht, wird sofort füsiliert. Für Zickerei ist hier nicht der richtige Ort. Entweder ihr pariert jetzt oder Hauptmann Morgon stellt ein Peloton zusammen.«

Der drohende Blick des ehemaligen Zuchthäuslers brachte die Zöglinge des Lyzeums zur Besinnung und sie verzogen sich zur Rue St. Pères hin.

»Ich traue ihnen nicht«, brummte Tessier. »Wir werden sie im Auge behalten. Wer sind die Strolche?«

»Meine Mitschüler.«

»Ach? Und die sind nun, wo unsere Sache schlecht steht, plötzlich auf unserer Seite? Da ist doch etwas faul!«

»Vielleicht haben sie begriffen, dass die Versailler uns an die Preußen verkaufen, wenn sie siegen.«

»Nee, Junge, ich traue dem Braten nicht«, murrte Tessier. »Verlass dich nicht auf die Burschen.«

Sie warteten. Die Stadt stöhnte, ein schriller Ton, als leide sie Schmerzen. Die Glocken aller Kirchen läuteten. Immer noch wogten Menschenmassen in den Straßen hin und her. Auf dem rechten Seineufer flackerten neue Feuer hoch.

»Die reinste Bartholomäusnacht«, sagte Julien erschüttert.

»Was für eine Nacht?«, wunderte sich Tessier.

Julien erklärte es ihm.

»Katholiken gegen Hugenotten? Nun, hier kämpft das Volk gegen die Bourgeoisie, gegen die Aristokraten und Reichen. Scheiße daran ist nur, dass wir wieder einmal verlieren werden.«

Julien widersprach nicht. Nun, wo die Versailler in die Stadt eingebrochen waren, wurde ein Sieg immer unwahrscheinlicher. Das wussten alle, die an den Barrikaden standen. Da die Liniensoldaten kein Pardon gaben, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich zu wehren, ehe sie abgeschlachtet wurden. Sie warteten. Darüber wurde es Nacht und Morgen. Im Grau des anbrechenden Tages kamen sie heran. Eine dunkle Masse. Die Bajonette blitzten. Trommelschlag begleitete ihren Vormarsch. Dann kam das erste Feuer.

»Hiss unsere Fahne!«, rief Julien Courbet zu. »Wir erwidern das Feuer auf fünfzig Schritt. Keine Munition vergeuden. Auf die Körpermitte zielen.«

Die Liniensoldaten kamen schießend näher.

»Und jetzt Salve!«, brüllte Julien.

Die erste Linie der Versailler hatte sofort viele Ausfälle. Ihr Vormarsch stockte. Die Nationalgardisten verstärkten das Feuer. Die Versailler fluteten zurück.

»Die erste Runde geht an uns«, kommentierte Tessier.

»Leider ist es nicht die letzte.«

»Nein, Julien. Das eben war erst der Anfang.«

Sie sahen, dass Mitrailleusen und eine Feldkanone in Stellung gebracht wurden. Tessier sah gebannt hinüber.

»Jetzt wird es ernst, Männer. Legt euch flach auf den Boden, wenn ich das Zeichen gebe«, rief er den Kameraden zu.

»Warum das?«, zischte Julien.

»So bieten wir die geringste Angriffsfläche. Deckt den Kopf mit den Händen ab«, fügte er hinzu.

Die Mitrailleusen begannen zu tackern. Zischend jagten die Kugeln als Querschläger vom Seinekai über die Straße. Dann tat sich der Feuerofen auf. Sie kannten dies von Neuilly. Die Barrikade wurde hochgeworfen. Holz- und Steinsplitter überschütteten die Nationalgardisten. Aber die Barrikade stand noch. Courbet erhob sich und schwenkte die rote Fahne. Die Linientruppen wogten mit Gebrüll heran.

»Los, an die Barrikaden!«, befahl Julien.

Die Männer rappelten sich hoch, überprüften die Gewehre, traten an die arg gerupfte Barrikade und legten an. Wieder ließen sie die Soldaten herankommen und wieder brachte man die Versailler zum Stehen. Schießend zogen sie sich zurück. Viele blieben liegen. Gellende Schreie. Nach Mutter, Maria und Jesus. Nach einer Verwundung werden alle Soldaten fromm. Eine Zeitlang tat sich gar nichts.

»Was haben sie vor?«, fragte Julien seinen Freund ratlos.

»Keine Ahnung. Nur eins ist gewiss, sie werden wiederkommen.«

Julien wollte seinen Augen nicht trauen. Drüben schwenkte jemand eine weiße Fahne. Ein Offizier kam mit dem Fahnenträger nun betont langsam auf die Barrikade zu.

»Sie wollen verhandeln«, staunte Julien.

»Na und? Wenigstens leben wir dann ein paar Stunden länger.«

Die beiden Parlamentäre blieben dreißig Meter vor der Barrikade stehen.

»Wir wollen ein Gespräch mit dem befehlshabenden Offizier der Barrikade«, schrie der Offizier herüber.

»Er trägt weiße Handschuhe«, stellte Tessier fest.

»Hören wir uns an, was sie zu sagen haben. Sollten die uns niederschießen oder abführen, eröffnet das Feuer. Nehmt keine Rücksicht!«, rief Julien Courbet zu.

»So ist es recht«, knurrte Tessier.

Sie stiegen über die Barrikade und gingen zu den Parlamen­tären. Der Offizier war ein schneidig aussehender schmaler Mann mit einem Louis-Napoleon-Bart und grauen kalten Augen. Sein Fahnenträger hatte ein stumpfes breites Gesicht, das nicht allzu viel Intelligenz verriet. Geringschätzig musterte der Offizier Julien.

»Werden jetzt bei den Nationalgarden sogar grüne Bengel zum Hauptmann?«

»Ob grün oder nicht, ihr habt um ein Gespräch gebeten«, erwiderte Julien so kühl, wie er es vermochte.

»Wir übermitteln die Bedingungen unseres Oberst Chabrol. Ergebt euch, dann werdet ihr trotz eures Widerstandes nicht standrechtlich erschossen. Sonst fahren wir mit der Kanonade fort, bis eure Barrikade zu Staub zerfällt.«

»Sag mal, Marc, kommen wir mit der weißen Fahne zur Verhandlung oder die Verräter aus Versailles?«, wandte sich Julien betont arrogant an seinen Gefährten.

»Ich dachte auch, die wollten sich ergeben. Wir dagegen können es noch tagelang aushalten.«

»Habt ihr nicht zugehört?«, schnauzte der Versailler. »Ihr werdet alle erschossen, wenn ihr nicht sofort die Waffen niederlegt.«

»Er ist unhöflich«, sagte Tessier zu Julien. »Er hat sich nicht einmal vorgestellt. Keine Manieren, der Kerl.«

»Wundert dich das? Preußenfreunde haben keine Manieren«, erwiderte Julien maliziös lächelnd. Der Versailler wurde bleich.

»Mein Name ist Hauptmann Gerard de Beauregard, damit Sie ihn flüstern können, wenn Sie zur Hölle fahren. Ihren Namen brauche ich nicht zu wissen, denn Sie sind ein Nichts.«

»Dann wird euch Nichts auch weiterhin aufhalten«, sagte Julien.

»Ihre Antwort?«, stieß Beauregard mühsam hervor.

»Haben wir die nicht schon deutlich gemacht? Geht zur Hölle, wo ihr herkommt.«

»Dann werdet ihr alle sterben.«

»Auch du kommst darum nicht herum. Vielleicht ist deine letzte Stunde bereits angebrochen«, höhnte Tessier.

Der Offizier nickte seinem Fahnenträger zu, drehte sich mit militärischem Schwung um und ging bewusst langsam und gravitätisch zu seiner Linie zurück.

»So ein Arschloch«, kommentierte Tessier.

»Was gab es?«, fragte Courbet, als sie wieder in der Deckung der Barrikade waren.

Sie erzählten es ihm.

»Sie lassen uns leben, wenn wir uns ergeben. Klingt nicht sehr glaubwürdig, wenn man bedenkt, dass sie bis jetzt alle Nationalgardisten erschossen haben, die sich wehrten.«

Hinter ihnen hörten sie Pferde herankommen. General Dombrowski erschien mit einer Gruppe von Offizieren.

»Wie sieht es aus, Kinder? Könnt ihr die Barrikade halten?«

»Auf die Dauer sicher nicht«, schilderte Julien die Lage. »Wir haben die Versailler zwei Mal zurückgeschlagen, aber ihr seht ja, wie unsere Befestigungen aussehen. Vor dem letzten Angriff war die Barrikade zwei Meter hoch. Eine erneute Kanonade wird sie endgültig zerbröseln.«

»Versucht, so lange wie möglich die Stellung zu halten. Wir beginnen gerade die versprengten Nationalgardisten zu sammeln und am Boul’Mich’ bis zum Luxembourg eine neue Verteidigungslinie aufzubauen. Wenn ihr sie nicht mehr aufhalten könnt, zieht euch über die Rue St. Pères nach St. Germain zurück. Ich will sehen, dass ich euch Verstärkung schicken kann. Übrigens, Hauptmann Morgon, Sie machen sich besser, als ich erwartet habe. Chapeau!«

Julien wollte anführen, dass dies nicht nur sein Verdienst war, aber der General hatte sein Pferd bereits gewendet und ritt davon.

»Der hat uns einen Todesauftrag gegeben«, schimpfte Tessier. »So lange wie möglich halten? Wie lange ist so lange? Die sollten die Kanonen von Montmartre hierher bringen. Warum denkt keiner an die Kanonen?«

»Fehlende Munition«, erinnerte Julien.

»Hach, ein bisschen was findet sich immer. Wir brauchen nur eine kleine Kanone und die dort drüben geben Fersengeld.«

Gespannt sahen sie zur anderen Frontlinie hinüber, als Courbet einen Warnruf ausstieß.

»Oho! Die haben ein zweites Geschütz in Stellung gebracht. Nun wird es wirklich ernst«, kommentierte Tessier.

Und das wurde es. Ein Feuerschlund tat sich auf und warf die Barrikade hoch. Steine regneten auf sie herab. Die Kanonade hörte nicht mehr auf. Schließlich war von der Barrikade nicht viel mehr übrig als vereinzelte Steinhaufen, hinter denen seine Männer mühsam Deckung suchten. Die Liniensoldaten wagten nun einen weiteren Vorstoß. Mit Siegesgebrüll kamen sie heran.

»Wenn die gegen die Preußen auch so gefochten hätten, wäre Frankreich nicht so in der Scheiße!«, fluchte Tessier.

Wieder versuchten die Nationalgardisten, die Versailler mit gezieltem Feuer aufzuhalten. Aber diesmal waren es zu viele. Mühelos überwanden die Liniensoldaten die Barrikadenreste. Aber Juliens Männer, die den sicheren Tod vor Augen hatten, zeigten nun im Bajonettkampf einen Furor, den die Linientruppen nicht erwartet hatten. Sie wähnten sich schon als Sieger und wurden von der Heftigkeit der Gegenwehr überrascht. Die Straßen waren schnell voller Toter. Es starben viele von Juliens Leuten, aber wesentlich mehr Versailler. Julien sah Beauregard gestikulieren.

»Zurück, Männer! Die brauchen noch einmal Prügel durch die Kanonen.«

Julien wollte sich auf ihn stürzen, aber Tessier hielt ihn zurück.

»Lass den Quatsch! Er ist es nicht wert, dass du dein Leben riskierst.«

Julien musste über diese Warnung lachen.

»Was riskieren wir denn hier, wenn nicht unser Leben.«

Es gelang ihnen ein weiteres Mal, die Versailler zurückzutreiben. Als sich die Linientruppen verzogen hatten, inspizierte er seine geschrumpfte Truppe. Die Hälfte war tot, die meisten hatten Verletzungen, einige von ihnen so schwer, dass sie nicht mehr kampffähig waren.

»Noch ein Angriff und es ist aus«, stellte Julien verzweifelt fest.

Aus den Häusern kamen Frauen heraus und kümmerten sich um die Verletzten. Es waren gut gekleidete Bürgerfrauen. Julien war dies ein Trost. Nicht alle hatten Mitleid und Empathie vergessen. Den Kampfgefährten befahl er, die Steine wieder aufzutürmen. Aber viel brachte es nicht, da die meisten zu kleinen Brocken zerschossen waren. Ein furchterregendes Bollwerk wurde die Barrikade nicht mehr. Plötzlich hörten sie hinter sich Gesang.

Lustig, lustig, ihr Brüder und Schwestern,

weg mit den Meistern und Pfaffen …

Prinzessin Dimitrieff kam mit ihren Frauen heran. Ihr Gesicht war immer noch rußgeschwärzt. Ihren Hut hatte sie verloren. Das Haar hing ihr offen bis auf den Rücken. Doch ihre Augen zeigten weder Angst noch Verzweiflung.

»Hallo, mein Hübscher. Wie ich sehe, ist es bei euch heiß hergegangen. General Dombrowski hat mir gesagt, dass wir euch helfen sollen.«

»Die fehlt uns noch«, murrte Tessier.

Doch Julien war froh über die Verstärkung. Er hatte ja erlebt, dass diese Frauen tapfere Kämpfer waren. »Wie viele Frauen seid ihr noch?«

»Dreißig, die ein Gewehr haben.«

»Wir haben kaum noch Deckung«, sagte Julien bekümmert.

Die Prinzessin drehte sich zu ihren Frauen um. »Geht in die Häuser ringsum und requiriert alles, was eine Deckung abgeben kann: Tische, Schränke, alles, was Fläche hat.«

Die Frauen folgten dem Befehl und stürzten in die Häuser.

»Hast du deine Brandschatzung beendet?«, fragte Julien erbittert.

»Ach, mein Hübscher, reg dich nicht so auf. Wir haben einiges angesteckt, aber die bourgeoise Bande hat viele Brände längst wieder gelöscht. Wenn es um ihre Häuser ging, waren sie sehr wohl in der Lage, beim Löschen zu helfen. Flamboyant wird mit uns nicht gerade zufrieden sein. Aber wenigstens die Wohnung des Kaisers gibt es nicht mehr. Nun sei mir wieder gut. Wir werden morgen sterben. Wir könnten uns in eins der Häuser begeben und ein bisschen vergnügen, ehe die Linientruppen erneut angreifen.«

»Ich muss mich um meine Männer kümmern«, fauchte Julien empört.

»Genieße das Leben, solange du lebst. Und jetzt lebst du noch.«

Julien winkte ab. Aber auch die Amazone musste sich wieder um ihre Frauen kümmern. Diese schleppten alle möglichen Gegenstände heran und schon bald stand ein Hindernis, das wieder etwas Ähnlichkeit mit einer Barrikade hatte. Julien wusste, dass sie gegen die Kanonen keinen großen Schutz bieten würde, doch sie machte den Kämpfern Mut. Die Kanonen zerlegten bald auch dieses Hindernis. Die Versailler lernten abermals das Fürchten. Die Frauen zeigten sich als wildentschlossene Kämpferinnen und Juliens Männer wollten ihnen nicht nachstehen. Ein wilder, verzweifelter Kampf. Die Soldaten übersprangen in großer Zahl die zerschossene Barrikade, wurden jedoch von der Heftigkeit der Gegenwehr der Amazonen überrascht. Als die Linientruppen abzogen, lagen sich Frauen und Männer in den Armen und stimmten die Marseillaise an.

»Noch einmal haben wir die Versailler zurückgeschlagen! Das soll uns mal einer nachmachen!«, triumphierte Courbet.

»Sie werden wiederkommen«, dämpfte Tessier dessen Freude.

Und sie kamen wieder. Auch wieder nach einer Kanonade. Diesmal kamen sie nicht nur von vorn. Plötzlich wurde Juliens Truppe auch von hinten angegriffen. Aus der Rue St. Pères strömten Liniensoldaten heran. Julien gewahrte unter den anstürmenden Liniensoldaten auch seine Kameraden vom Lyzeum.

»Verrat!«, schrie er. Deswegen hatten sie sich ihm zur Verfügung gestellt und er war auf sie hereingefallen.

»Verrat!«, schrie auch Tessier. »Diese Hundesöhne! Verräterpack!«

Sie warfen sich noch einmal den Versaillern entgegen. Tessier wütete in den Reihen wie ein griechischer Rachegott. Julien sah Mann um Mann fallen. Dieser Übermacht von zwei Seiten konnten sie nichts entgegensetzen. Die Prinzessin focht mit dem Säbel wie die Göttin Athene höchstpersönlich. Sie fiel mit dem Schrei ›Es lebe die Kommune!‹. Julien hatte es plötzlich mit Hauptmann Beauregard zu tun.

»Überlasst den Kerl mir!«, schrie dieser seinen Männern zu. »Habe ich dich endlich, Jakobiner-Hauptmann!«

Schon kreuzten sich die Säbel. Julien merkte sofort, dass er dem Aristokraten nicht lange gewachsen sein würde. Sein Gegenüber war ein erfahrener Fechter. Julien hatte den Säbel bisher nur wie einen Stock benutzt. Er sah nun Tessier, von mehreren Bajonettstichen verwundet, brüllend zu Boden gehen. Mein armer Freund, dachte er. Beauregard spielte mit ihm, verletzte ihn am Arm. Es war hoffnungslos. Er schleuderte den Säbel dem Offizier entgegen und dieser schlug ihn lachend zur Seite. Nun besann sich Julien auf das, was ihm der Freund beigebracht hatte. Er zog das Messer von der Hüfte und wiegte die Klinge in der Hand. Beauregard lachte verächtlich. Julien warf und die Klinge steckte in Beauregards Kehle. Gurgelnd ging dieser zu Boden. Im nächsten Augenblick bekam Julien einen Schlag auf den Kopf. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo

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