Читать книгу Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo - Heinz-Joachim Simon - Страница 19

10 – In der Hölle des Bagno

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(Alexandre Dumas erzählt)

Schon auf der Überfahrt lernte Julien, was der Mensch dem Menschen antun kann. Die Verhältnisse auf den überfüllten Schiffen waren grauenhaft. Die Häftlinge starben wie Fliegen an Unterernährung und Typhus. Eine Flottille des Todes war nach Guayana unterwegs. Selbst vor den Wachmannschaften machte der Tod nicht halt. Jegliches Gefühl der Solidarität unter den Häftlingen verschwand im Kampf um den besten Platz im Laderaum, um das eintönige Essen, das Durchfälle verursachte. Meist gab es einen Brei aus Bohnen und zerstampften Kartoffeln. Das Wasser war brackig und roch, als wäre es aus einer Kloake geschöpft. Fliegen klebten an ihren eitrigen Augen. Ratten weckten sie nachts und wer krank war und sich nicht wehren konnte, wurde von ihnen angefressen.

Der Schinken, den Juliens Eltern gebracht hatten und den sie sorgsam hüteten und nur in kleinen Streifen aßen, half beiden, ihre Kräfte zu bewahren. Tessier erkannte unter den Matrosen einen ehemaligen Zellengenossen aus Vincennes. Aus alter Solidarität besorgte ihm dieser zwei Messer.

»Unsere Lebensversicherung«, sagte Tessier, als er ein Messer an Julien weitergab. »Lass dich damit nicht erwischen.«

Die Messer sorgten dafür, dass man Tessier und Julien achtete. Sie galten als gefährlich und dies bewahrte sie vor Schlägereien oder Vergewaltigungen, nachdem Tessier zwei brutalen Schlägern gezeigt hatte, welche Fähigkeiten er mit dem Messer besaß. Man nannte ihn wieder »Meister Messer«.

An einem Sonntagmorgen wurden sie in Cayenne, der Hauptstadt von Französisch-Guayana, ausgeschifft. Die Glocken läuteten, als die Schiffe am Kai festmachten. Sie waren froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Obwohl sie das Gefühl hatten, eine Waschküche zu betreten, atmeten alle auf. Sie waren Schlimmeres gewohnt und dass die Kleidung sofort am Körper klebte, beeinträchtigte nicht die hoffnungsvolle Stimmung. Ein Kordon von Soldaten schirmte sie von der Stadt ab. Kleine, weiß gestrichene Häuser, deren Dächer mit rot angestrichenem Blech beschlagen waren. Hinter dem Kordon hatten sich viele Neugierige versammelt. Die Zuschauer riefen den Soldaten Witze zu, weil die Häftlinge stanken. Die Mehrheit von ihnen trug immer noch die Uniformen der Nationalgardisten, die jedoch nur noch Lumpen waren. Ein streng aussehender Hauptmann mit Stirnglatze, das Käppi unter dem Arm, baute sich gravitätisch vor ihnen auf. Zwei Leutnants flankierten ihn. Mit breiter Brust plusterte er sich wie ein Gockel vor den Sträflingen auf.

»Sträflinge, ihr seid von der Regierung zu lebenslanger Haft im Bagno verurteilt worden. Findet euch damit ab, dass ihr hier eure Strafe bis zu eurem Tod abbüßen werdet. Man hat euch leben lassen, damit ihr für Frankreich eure Schuld abarbeiten könnt. Dafür werdet ihr ausreichend verpflegt. Manche von euch werden an Flucht denken. Schlagt euch das aus dem Kopf. Ein Fluchtversuch führt zum Tod, entweder weil wir euch einfangen oder weil ihr in den Sümpfen umkommt. Ihr habt das Recht, Bürger des glorreichen Frankreichs zu sein, verloren. Ihr seid Abschaum und es ist eine Gnade, dass wir euch leben lassen. Ihr werdet jetzt zu einem Auffanglager geführt, wo man eure Personalien erfasst. Danach werdet ihr eingekleidet und zu den jeweiligen Arbeiten eingeteilt. Und nun Abmarsch mit dem Abschaum!«, wandte er sich an seine Leutnants.

Diese salutierten und brüllten Befehle, sich in Viererreihen zu einer Kolonne zu formieren. Es ging vom Kai durch die Straßen von Cayenne, wo sie von der Bevölkerung neugierig gemustert wurden. Die meisten Bewohner waren entweder ehemalige Sträflinge oder deren Nachkommen. Es ging zu dem weiß leuchtenden Fort, das über Cayenne wie eine Faust drohte. Das Eingangstor bestand aus Eisen. Darüber stand in großen Lettern, dass man dem geliebten Vaterland diene.

»Ich muss kotzen«, kommentierte Tessier.

In einem Hof, der zu beiden Seiten weiß gekalkte Baracken aufwies, ließ man sie die Reihen durchzählen. An der Stirnseite des Platzes befand sich die Kommandantur, was an der Fahne und dem Vestibül ersichtlich war. Einer nach dem anderen musste eine Wachstube betreten. Ein kahler Raum, nur mit der französischen Fahne und dem Bild von Thiers dekoriert. Hinter einem Tisch saß ein Major mit zwei Leutnants. An einem separaten Tisch notierten Schreiber die Personalien. Man musste seinen Namen, sein Geburtsdatum, seinen Beruf sowie seine Vergehen angeben. Tessier trat vor Julien an den Tisch und rasselte seine Personalien herunter.

»Zweimal fünf Jahre Gefängnis, das erste Mal wegen Schlägerei, das zweite Mal wegen Einbruch und ein Jahr wegen Notwehr gegenüber einem betrunkenen Gardeoffizier. Vorzeitige Begnadigung durch den Wohlfahrtsausschuss.«

»So einer bist du also!«, sagte der Oberst und lehnte sich zurück.

Er war ein schmalgesichtiger Mann mit einem ruhigen gelblichen Gesicht, langen Koteletten und braunen Augen, die so gar nicht zu seiner strengen Miene passten. Sein Name klang wie ein Schloss an der Loire. Philipe de Chalon.

»Wenn ich die Fetzen an deinem Körper richtig deute, dann warst du Mistkerl Korporal bei der Nationalgarde.«

»Das war ich«, gestand Tessier.

»Du siehst kräftig aus. Wir schicken ihn zu den Holzfällern«, rief er dem Schreiber zu.

Als nächster kam Julien dran. Auch er nannte Namen und Geburtsdatum und gab statt der Berufsbezeichnung wahrheitsgemäß »Schüler« an. Der Major sah erstaunt auf.

»So, so, Schüler? Aber was sehe ich da? Hauptmanns­epauletten? Wolltest du zum Karneval?«

»Ich war Adjutant des Generals Jaroslaw Dombrowski. Später hat mich der Wohlfahrtsausschuss zum Hauptmann ernannt. Ich habe die Barrikade am Quai Voltaire befehligt«, sagte Julien mit törichtem Stolz.

»Hat man in der Nationalgarde keine Männer gehabt und musste Knaben zum Befehlshaber ernennen?«

»Es stimmt. Er war mein Hauptmann!«, rief Tessier, der gerade die Kommandantur verlassen wollte, von der Tür her.

»In dem Alter schon Hauptmann? Auf jeden Fall zeugt das davon, dass du ein ganz schlimmer Finger zu sein scheinst. Wir behalten dich hier im Fort. Er wird dem Latrinendienst zugeteilt.«

Die beiden Leutnants nickten eifrig. Julien ging nach draußen und reihte sich neben Tessier ein.

»Wie ist es gelaufen?«

»Latrinendienst, hier, im Fort.«

»So ein Mist! Dann werden wir getrennt.«

»Ich werde versuchen, zu den Holzfällern versetzt zu werden. Hier aus dem Fort scheint ein Ausbruch ohnehin aussichtslos zu sein. Die Wälle sind besetzt. Von den Türmen her hat man jeden Winkel unter Kontrolle.«

»Latrinendienst stinkt zwar, aber die Arbeit als Holzfäller ist kein Zuckerschlecken. Doch du hast recht. Hier scheinen die Chancen eines Ausbruchs gleich Null. Ich werde auf dich warten, Kleiner. Pass auf, dass man dein Messer nicht entdeckt.«

»Ich bin dein Hauptmann«, neckte ihn Julien.

»Du bist jetzt nur noch ein grüner Bengel. Aber am Quai Voltaire hast du dich wirklich gut geschlagen.«

»Das von einem Totschläger gesagt zu bekommen ist ein Mordskompliment.«

»Ich weiß auch nicht, welchen Narren ich an dir gefressen habe.«

»Ruhe da in der Reihe!«, schrie ein Korporal.

Sie mussten bis zum Abend auf dem Hof stehen. Die Sonne brannte erbarmungslos und so mancher fiel um und wurde in eine der Baracken getragen. Am Abend wurden die Sträflinge in Kolonnen eingeteilt. Einige würden zu den Zuckerrohrfeldern marschieren, andere zu den Holzfällern, die Mehrheit wurde für Straßenarbeiten eingeteilt. Die kleinste Gruppe, die man für besonders gefährlich hielt, blieb im Lager. Tessier und Julien warfen sich beim Abschied beschwörende Blicke zu. Sie würden einander nicht verlassen und gemeinsam einen Ausbruch versuchen. Sie hatten dies auf der Überfahrt einander versprochen.

»Abmarsch in die Baracke!«, schrie ein Korporal.

Bevor sie die Baracke betraten, stolperte Julien und fiel auf den Boden. Durch den Körper vor neugierigen Blicken abgedeckt, versteckte er das Messer unter dem Treppenabsatz. Sie wurden in einen großen Waschraum getrieben. Ein vierschrötiger Kerl mit einem Brustkasten wie ein Gorilla und einer Physiognomie, die dem entsprach, baute sich vor ihnen auf.

»Hört mal zu, ihr Scheißkerle! Ihr zieht euch aus. Alles, auch eure verschissene Unterhose. Ihr bekommt Sträflingskleidung, die ihr pfleglich behandeln werdet. Ich bin Eric Derange, ich bin Sträfling wie ihr, aber ich bin euer Barackenchef und bekannt dafür, dass ich gern Prügel verabreiche, sehr gern sogar. Seid oft genug aufsässig oder tut eure Arbeit nicht ordentlich oder quatscht, wenn ihr nicht quatschen sollt, dann poliere ich euch die Fresse. Nun wisst ihr, woran ihr seid. Ihr werdet jetzt mit dem Schlauch abgespritzt und dann gepudert, damit ihr keine Läuse in die Baracken tragt. Nun raus aus den Klamotten!«

Alle zogen sich gehorsam aus. Sie waren dreißig Männer. Die meisten von ihnen waren ehemalige Nationalgardisten. Sie standen kaum nackt in einer Reihe, als zwei Männer in Sträflingskleidung ihre Lumpen aufnahmen.

»Sie werden draußen verbrannt«, kommentierte Derange. »Und nun kommt das Bad.«

Andere Sträflinge kamen mit Schläuchen herein und drehten höhnisch lachend die Spritzen auf. Eiskaltes Wasser peitschte die Körper der Gefangenen. Sie duckten sich und versuchten dem Wasserstrahl auszuweichen. Die Spritzen wurden so scharf eingestellt, dass der Druck sie umwarf und sie sich schreiend am Boden wälzten. Derange sah mit vor der Brust verschränkten Armen grinsend zu. Endlich war es überstanden.

»Sauber seid ihr nun. Draußen steht eine Tonne mit Läusepulver. Reibt euch gründlich damit ein. Besonders in den Sackhaaren und unter den Achseln wimmelt es von Läusen. Wenn ich in den nächsten Tagen einen erwische, der noch Läuse hat, bekommt er Prügel.«

Nach dem Einpudern ging es in eine andere Baracke zur Kleiderausgabe. Es war billiges Drillichzeug. Unterhose, lange Überhose, eine Jacke und eine Mütze. Danach führte man sie in die Baracke ›Murat‹ zurück.

Wieder stolperte Julien, zog das Messer unter der Treppe hervor und steckte es ein.

Sie mussten sich vor den Doppelbetten aufstellen. Julien hatte seine Mütze sofort auf das obere Bett am Eingang geworfen und damit seine Besitzansprüche angemeldet. Diesmal hielt ein Korporal eine Ansprache.

»Ich bin Korporal Louis Masson. Ich bin Normanne. Uns sagt man ein hartes Gemüt nach und bei mir trifft es hundertprozentig zu. Einige von euch denken, dass sie es gut getroffen haben, da sie nicht beim Straßenbau oder bei den Holzfällern gelandet sind. Aber wir wissen, dass ihr unverbesserliche Kommunarden seid, auf die wir ein besonderes Auge haben müssen. Also hört gut zu: Aus dem Fort ist noch niemand wirklich entkommen. Alle, die aus dem Fort flüchteten, betraten es wieder – tot. Die Mauern sind ständig besetzt. Vor dem Fort ist eine Glacis, die gut zu übersehen ist und mit Stacheldraht endet. Dahinter ist der Fluss, in dem hungrige Krokodile auf euch warten. Also schlagt euch Fluchtgedanken aus dem Kopf. Ihr bekommt morgen eure Arbeit zugeteilt. Die meisten von euch waren Soldaten. Wer von euch war wenigstens Korporal?«

Zwei traten vor. Julien hob die Hand.

»Ich war Hauptmann der Nationalgarde.«

»Ach ja, ich habe schon von dem Jüngelchen gehört, der ein Papierhauptmann gewesen sein soll. Gut, dann bist du für die Ordnung hier zuständig. Irgendwelche Vorkommnisse hast du Derange zu melden, der entscheidet, ob ich informiert werde. Wünscht euch das nicht! Derange prügelt nur, aber ich entscheide, ob ich euch abknalle. So läuft das hier. Ihr werdet um vier Uhr geweckt. Frühstück 4.30 Uhr – dann ab zur Arbeit. Um 13.00 Uhr wird Essen gefasst. Um 20.00 Uhr gibt es ein feudales Abendessen wie im Procope. Um 21.00 Uhr ist Ruhe im Karton!«

Er lachte noch einmal hämisch und stapfte hinaus.

»Rühren!«, schrie Derange. »Auf die Betten und dann höre ich nur noch die Mäuse!«

Kaum war Derange verschwunden, kam einer der Häftlinge zu Julien.

»Hör mal, Junge, den Chef spielst du hier nicht!«

»Stell dich erst einmal ordentlich vor«, erwiderte Julien kühl.

Alle sahen zu ihnen herüber. Julien wusste, dass es jetzt darauf ankam, ob er sich Autorität verschaffen konnte oder man ihn wie Dreck behandeln würde.

»Werde nur nicht frech! Gleich kannst du deine Knochen vom Boden aufklauben«, drohte der Korporal. »Mein Name ist Yves Rochefort. Ich bin einer der letzten Überlebenden von Montmartre. Ich bin hier der Chef.«

Rochefort hatte ein zerfurchtes Gesicht, das von einem wilden Leben zeugte. Julien ahnte, dass er zu denen gehörte, die aus dem Gefängnis befreit und dann wie er in die Nationalgarde eingegliedert worden waren.

»Du warst vorher im Gefängnis in Vincennes, nicht wahr?«

Rochefort nickte verblüfft. »Kennen wir uns?«

»Nein. Ich kenne deinesgleichen!«

Blitzschnell holte er das Messer heraus und drückte Rochefort die Klinge an die Halsschlagader.

»Du bist tot, wenn ich es will. Soll ich es wollen?«, fragte Julien. Die Augen Rocheforts waren weit geöffnet.

»Das wagst du nicht.«

»Bist du dir sicher?«

Julien fuhr mit der Klinge über den Haaransatz und das Blut lief dem ehemaligen Korporal über die Stirn. Schon war die Klinge wieder am Halsansatz.

»Du hast die Wahl. Du parierst oder du stirbst.«

»Gut. Du bist der Chef«, stammelte er. Julien stieß ihn zurück.

»Hört mir zu! Kann mir vorstellen, dass auch noch der ein oder andere von euch denkt, dass er mit dem jungen Burschen fertig wird. Aber das nächste Mal mache ich keine halben Sachen. Der nächste, der mir komisch kommt, stirbt. Ich habe am Quai Voltaire, einige werden davon gehört haben, drei Mal die Linientruppen zurückgeschlagen. Nur durch Verrat fiel unsere Barrikade. Nun wisst ihr, mit wem ihr es zu tun habt. Mein Arm ist wie die Klapperschlange. Wenn ich zustoße, ist der Tod gewiss.«

Er hatte dies bewusst ein wenig pathetisch gerufen. Er wusste, wie sie dachten. Diese Männer waren nur durch Furcht zu zähmen. Von nun an würden sie ihn ›Klapperschlange‹ nennen. Das Gemurmel bestätigte ihm, dass sie ihn verstanden hatten.

»So, mein lieber Yves, verbinde deine Wunde. Wenn dich morgen jemand fragt, hast du dich am Türrahmen gestoßen. Das wird zwar keiner glauben, aber es ist zumindest eine Erklärung.«

Rochefort trollte sich mit hängendem Kopf. Julien kletterte auf das obere Bett und steckte das Messer unter die Bastrolle, die als Kissen dienen sollte. Es war wohl seiner Jugend zuzuschreiben, dass er nicht verzweifelte. Irgendwann würde sich eine Möglichkeit ergeben, den Aufenthalt im Bagno abzukürzen.

Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück aus einem bitter schmeckenden Tee und trockenem Brot, wurden sie zur Arbeit eingeteilt. Derange persönlich ließ es sich nicht nehmen, diesen Kinderhauptmann, wie er Julien nannte, einzuweisen. Er führte ihn zur Kloake hinter den Baracken. Ein Häftling aus einer anderen Baracke war bereits dabei, einen Eimer in den stinkenden Schacht hinunterzulassen, um dessen Inhalt in einen Kesselwagen zu kippen. Julien glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Der Häftling war Lambert, der Sohn des Antiquitätenhändlers aus der Avenue Bugeaud, mit dem er schon als Kind die Schlachten des großen Condé nachgespielt hatte.

»Du hier?«, staunte Julien.

»Julien?«, stammelte der kleine Lambert, der Julien kaum bis zur Schulter reichte. In der Körpergröße war er zwar benachteiligt, aber dafür hatte er eine stämmige Figur, die sich bei ihren jugendlichen Ringkämpfen als vorteilhaft herausgestellt hatte. Sein breites Gesicht mit der eingeschlagenen Nase unter dem roten Haarschopf war mit Sommersprossen übersät.

»Was, ihr kennt euch?«, brummte Derange irritiert.

»Wir wohnten in der gleichen Straße.«

»Alte Spezies, wie?«

»Wir werden deswegen gut zusammenarbeiten«, beteuerte Lambert. »Machen Sie sich keine Sorgen, Chef, mit meinem kaputten Bein komme ich ohnehin nicht auf dumme Gedanken.« Er klopfte auf sein rechtes Bein.

»Was hast du da?«, fragte Julien.

»Ach, beim Kampf an der Austerlitzbrücke habe ich ein Schrapnell ins Bein bekommen. Ich bin kaum schneller als eine Schnecke.«

»Pech gehabt! Das kommt davon, wenn man sich nicht rechtzeitig vom Acker macht«, freute sich Derange und war nun beruhigt. »Also, der Hüpfzwerg wird dich einweisen. Bis heute Abend hat die Kloake leer zu sein. Ihr holt euch vom Bauernhof vor dem Fort die Ochsen und bringt die Scheiße dem Bauern Palon. Der verkauft sie weiter an die anderen Bauern, die damit die Felder düngen. Nun aber ran an die Arbeit!«

Er nickte ihnen noch einmal drohend zu und ging zur Kommandantur, wohl um zu melden, dass allen Neuen ihre Aufgaben zugeteilt worden waren.

»Es ist ein Wunder«, staunte Lambert. »Ich hörte, dass du bei der Nationalgarde ein großes Tier geworden warst, aber ich wähnte dich tot, wie so viele. Die Versailler hatten ja die Bluthunde auf uns losgelassen. Komm, wir setzen uns in den Schatten und rauchen. Jetzt, wo wir zu zweit sind, schaffen wir die Arbeit ohne Schwierigkeit.«

Er griff in die Tasche und reichte Julien eine Zigarre.

»Gutes Kraut«, lobte er seine Glimmstengel.

»Seit wann bist du hier?«

»Seit zwei Monaten. Sie haben mich hierbehalten, weil ein Hinkebein draußen auf den Feldern oder im Wald nicht zu gebrauchen ist. Zum Scheiße herausholen bin ich aber gut genug. Warum hat man dich hierbehalten?«

»Weil sie mich im Auge behalten wollen. Ich gelte als gemeingefährlicher Kommunarde.«

»Das ist der Nachteil, wenn man ein großes Tier ist. Aber in deinem Fall ist es vielleicht ganz gut so. Die draußen sterben durch Arbeit, das Klima oder durch Schlangenbisse. Hier stirbst du durch die Schikanen von Derange oder Masson, wenn die sich einbilden, dass du türmen könntest. Auch nicht prickelnd, aber die Umstände sind etwas leichter.«

»Woher bekommst du die Zigarren?«

»Ich vermiete meinen Arsch.«

»Wir kennen uns schon lange, aber für schwul habe ich dich nie gehalten.«

»Bin ich auch nicht. Aber ich habe nichts anderes, um ein paar Annehmlichkeiten herauszuholen. Du musst das System kapieren. Der Oberst des Forts ist Philipe de Chalon, der sich nur um seine Kuriositätensammlung kümmert. Er sammelt versteinerte Schnecken, seltene Schmetterlinge und so etwas. Hauptmann Richard Depuis hat eine hübsche Kreolin in Cayenne, die ihn in Atem hält. Die beiden Leutnants sind stinkend faul und haben nur im Kopf, schnell wieder wegzukommen. Der eigentliche Chef ist Korporal Louis Masson, sein verlängerter Arm ist Derange, der wiederum zwei Marokkaner unter seiner Fuchtel hat, die ihm bei Strafaktionen helfen. Außer der Frau des Kommandanten Chalon gibt es hier keine Weiber. Die Marokkaner sind spitz wie Hunde und wenn ich ihnen meinen Arsch überlasse, belohnen sie mich mit Zigarren. Du siehst gut aus. Sie werden dir auch bald ein Angebot machen und wenn du nicht einwilligst, werden sie dich vergewaltigen.«

»Sie würden bei dem Versuch sterben. Ich muss sagen, du hast dich gut eingewöhnt.«

»Ach, wir kleinen Leute müssen uns überall nach der Decke strecken. Da kapiert man schnell, wie die Chose läuft. Hier bist du in einer Woche ein alter Hase oder du bist tot.«

Gemächlich machten sie sich an die Arbeit, den Kloakenschacht auszuschöpfen. Gegen Mittag waren sie fertig.

»Nach dem Essen holen wir die Ochsen«, sagte Lambert.

Eine Glocke ertönte und durch das Forttor kamen die anderen Sträflinge, die auf den nahen Zuckerrohrfeldern gearbeitet hatten. Sie mussten sich vor der Baracke aufstellen, die den schönen Namen ›Berthier‹ trug. Jede Baracke war nach einem Marschall Napoleons benannt. In einem Blechnapf bekamen sie so etwas wie Gulasch. Alle hockten sich im Schatten der Baracken hin und aßen mit Bedacht.

Julien drängte sich mit Lambert zur Treppe der Baracke ›Murat‹. Man machte ihnen bereitwillig Platz. Julien beobachtete beim Essen die Soldaten auf dem Wehrgang. Auf jeder Seite gingen zwei Soldaten auf und ab und dann gab es noch den Turm, auf dem zwei Soldaten mit einer Mitrailleuse die Häftlinge bewachten. Lambert, der ihn beobachtet hatte, schüttelte den Kopf.

»Vergiss es! Niemand kommt hier raus.«

Ein großer Mann kam mit schwingenden Armen heran.

»Vorsicht! Das ist Jérôme aus meiner Baracke. Er ist Korse und kann verdammt gut mit dem Messer umgehen.«

»Ach ja?«

Eine dunkle Visage mit pechschwarzen Haaren. Ein Schmiss verunstaltete sein Gesicht.

»Hab gehört, dass du der neue Chef von dieser Baracke bist.«

»So ist es!«

»Du sollst ganz gemein mit dem Messer herumgefuchtelt haben.«

»So schlimm war es auch wieder nicht.«

»Man sagt, dass man ins ›Murat‹ die einsperrt, die was Besonderes sind. Ich mag die Besonderen nicht. Ihr glaubt, dass ihr etwas Besseres seid.«

»Für deine Gefühle kann ich nichts.«

»Werde nicht frech! Hör zu, meinetwegen kannst du im ›Murat‹ den Chef spielen. Aber hier im Hof da bin ich der Chef.«

»Haben wir mit Chalon, Depuis, Masson und Derange nicht schon genug Chefs?«

Der Korse stutzte.

»Bist wohl ein ganz Schlauer, was? Wie dem auch sei. Entweder du erkennst mich als Patron an und küsst mir die Hand oder wir müssen es austragen.«

»Weswegen bist du hier?«, fragte Julien gelassen und kratzte sorgfältig seinen Blechnapf aus.

»Warum willst du das wissen?«, fragte Jérôme verblüfft.

»Ich weiß immer gern, mit wem ich es zu tun habe, wenn ich einen umbringen muss«, erklärte er scheinbar gelassen. Tessier hatte ihm genug von den Gesetzen unter den Gesetzlosen erzählt. Sie verstanden nur die Sprache der Gewalt.

»Jüngelchen, ich werde dir die Eier abschneiden. Aber gut, ich habe einen Kerl abgemurkst, der sich an mein Mädchen ranmachen wollte. Leider war er bei der verschissenen Polizei.«

»Du bist also wegen Mordes hier?«

»Wegen zweifachen Mordes. Ich habe der Schickse auch die Kehle durchgeschnitten«, erwiderte er grinsend. Er schien stolz darauf zu sein.

»Na, dann komm! Gehen wir in die Baracke.«

Julien reichte seinen Napf an Lambert weiter. »Bringst du die Schüssel zurück?«

»Mach ich, Julien. Aber …«

»Was ist?«

»Jérôme ist gefährlich.«

»Das bin ich«, bestätigte der Korse eitel.

»Wir werden sehen.«

Jérôme blickte unwillig zu seiner Baracke hin. Alle Häftlinge, auch die, die in der Mitte des Hofes in der Sonne standen, sahen zu ihnen herüber. Wenn sie von dem Inhalt des Gesprächs auch nichts mitbekommen hatten, wussten sie doch, worum es ging. Es war jedes Mal so, wenn neue Häftlinge ankamen. Die Hackordnung musste geklärt werden. Bestimmt wussten sogar die Wachen oben auf dem Wall Bescheid.

Depuis und Masson standen vor der Kommandantur und beobachteten sie. Derange stand in der Mitte des Hofes und rief den Offizieren etwas zu. Masson schlug sich lachend auf die Schenkel.

Gemeinsam, als würden sie sich zu einem Stelldichein begeben, gingen Julien und Jérôme zu seiner Baracke hinüber. Vor der Tür hielt Julien an.

»Halt! Wir müssen die Regeln festlegen. Soll es auf die spanische Art passieren?«

»Bekommst du Schiss? Natürlich auf die spanische Art. Was sonst? Du bist in ein paar Minuten tot, Bürschchen.«

»Gut. Sekundanten?«

»Der Herr macht Umstände. Aber meinetwegen.«

Er winkte zwei seiner Leute heran. Sie sahen genau so übel aus wie er und stammten wohl auch aus der korsischen Heimat. Julien rief Rochefort zu sich.

»Du wirst mein Sekundant sein. Besorg dir einen Kumpel, der zum zweiten Sekundanten taugt.«

»Ist gut«, sagte Rochefort, trabte zurück auf den Platz und kam mit einem Mann zurück, der auch einmal Korporal gewesen war.

»Bin Albert von der 202. Brigade. Kenne dich, Morgon.«

Sie folgten Jérôme in die Baracke. Einer der Korsen kam mit einem Tuch, das einmal ein Hemd gewesen war und band es am Handgelenk der beiden Kontrahenten fest. Es war die gefährlichste Art einen Messerkampf auszutragen, da sie aneinander gekettet waren und auf kurze Distanz den Kampf austragen mussten. Einer von ihnen würde sterben. Es war schon vorgekommen, dass beide Kämpfer gestorben waren. Tessier hatte Julien beigebracht, was bei einem solchen Gefecht zu tun war. Er hörte wieder die Stimme des Zuchthäuslers.

»Geh davon aus, dass dein Gegner ein Meister ist, wenn er sich auf einen solchen Kampf einlässt. Er wird dich mit hoher Wahrscheinlichkeit erwischen. Vielleicht schaffst du es dann noch, dass du ihm eine verpasst. Es ist ein Vabanquespiel. Also versuch, den Kampf schnell zu beenden. Umkreise den Gegner, als wenn du einen Vorstoß von ihm erwartest und dann spring hoch. Er wird überrascht sein. Das Tuch wird dich automatisch herabziehen. Sobald du auf ihn fällst, wirf das Messer. Alles wird so schnell passieren, dass niemand sagen kann, wie genau es passiert ist. Du musst die Halsschlagader treffen, sonst verpasst er dir noch eins. Zur Sicherheit deck dich mit deinem Ellbogen gegen seine rechte Hand ab. Lass es uns noch einmal üben.«

Sie hatten es viele Male geübt. Mit dem Messer ein Ziel zu treffen, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Doch damals im Gefängnis hatten sie mit Kochlöffeln geübt. Der Korse hatte einen prüfenden Blick auf Juliens Messer geworfen.

»Aha, ein Messer mit schwerer Klinge? Du weißt, dass beim ›Mano a Mano‹ kein Werfen erlaubt ist.«

Julien lächelte kühl.

»Du wolltest den Kampf. Du bekommst ihn. Du wolltest ›Mano a Mano‹. Also, quake nicht herum.«

»Sollte er werfen, erledigt ihn!«, rief Jérôme seinen Sekundanten zu.

»Wollen wir hier noch herumzicken?«, sagte Julien verächtlich. »Ihr wisst, was zu tun ist, falls seine Sekundanten spinnen?«, wandte er sich an Rochefort.

»Aber klar doch, Chef!«, stimmte dieser zu.

»Na, dann los!«, drängte Jérôme.

Sie umkreisten sich lauernd.

»Weißt du, dass ich beim ›Mano a Mano‹ schon vier Männer getötet habe? Es waren Männer und keine Bürschchen.«

»Du hast Angst, Korse. Ich rieche deinen Angstschweiß.«

Jérôme machte einen Ausfall, aber Julien konnte ausweichen.

»Viel hast du nicht drauf!«, höhnte Julien. Er war sich seiner Sache nicht so sicher, wie er tat. Es war etwas anderes, ›Mano a Mano‹ mit Messern zu bestehen statt mit Kochlöffeln. Nun würde sich entscheiden, ob er von Tessier genug gelernt hatte. Wieder ein Ausfall von Jérôme. Er erwischte Julien am Oberarm. Nichts Schlimmes, doch der Korse schrie triumphierend auf. Juliens Ärmel färbte sich rot.

»Wie gefällt dir das, Bürschchen?«

»Ein Kratzer!«

»Warum greifst du nicht an?«, zischte der Korse. »Es macht keinen Spaß, dich einfach abzustechen.«

Jérôme versuchte wieder einen Ausfall, doch diesmal ging der Stoß ins Leere. Julien ging zum Angriff über, aber auch er teilte nur die Luft.

»Wenn ich ernst mache, wirst du sterben!«, keuchte Jérôme.

Der Korse war sich sicher, dass ihm von dem Bürschchen keine ernste Gefahr drohte.

»In ein paar Augenblicken wird der Korse tot sein«, rief Julien seinen Sekundanten zu. Diese schlugen sich begeistert auf die Schenkel, wütend beobachtet von Jérômes Männern. Mit einem mächtigen Sprung war Julien über Jérôme, schraubte sich höher und höher und das Messer verließ seine Hand. Gurgelnd ging der Korse zu Boden. Julien stürzte auf ihn. Blitzschnell zog er die Klinge aus dem Hals und entledigte sich des Tuchs.

»Das war es, Freunde«, sagte er und sah die beiden Sekundanten drohend an.

Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo

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