Читать книгу Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo - Heinz-Joachim Simon - Страница 13

6 – Liebe in Kriegszeiten

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(Gustave Flaubert erzählt)

Julien und Tessier fanden sich rechtzeitig bei ihrem Regiment in Neuilly ein. Ihnen blieb nur kurze Zeit zu schlafen. Noch vor dem ersten Morgengrauen wurden sie geweckt. Jeder bekam ein Stück Brot, konnte seine Feldflasche mit Wein abfüllen und schon ging es an einem regnerischen Morgen zu den Barrikaden und Gräben vor Neuilly. General Dombrowski ritt die Reihen ab.

»Männer, heute gilt es! Überläufer haben uns berichtet, dass die Versailler angreifen werden. Jeder von euch soll sich an den zerlumpten Soldaten von 1790 ein Vorbild nehmen. Auch in euch schlägt ein heldenhaftes Herz. Blamiert mich und die rote Fahne nicht.«

»Hoch, Dombrowski!«, schrien die Männer.

Sie waren gerade in die Stellungen eingerückt, da tat sich ein Höllenofen auf. Die Kanonen und Mitrailleusen der Linientruppen ließen ein Stahlgewitter auf sie herabfahren. Die Geschütze sorgten dafür, dass Erdfontänen vor ihnen tanzten. Allen stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Die Kugeln rissen schon bald Löcher in die Barrikaden. Körperteile flogen durch die Luft. Neben Julien knallte ein Bein in den Graben. In das Gebrüll der Geschütze mischten sich die Schreie, die Rufe nach der Mutter, Maria und Jesus. Im Kugelhagel suchte jeder Hilfe und Erbarmen beim barmherzigen Gott. Julien und Tessier pressten sich im Schützengraben an die Erde, versuchten, eins mit ihr zu werden. Feuerschleier tanzten über sie hinweg. Granatsplitter jaulten durch die Luft und töteten auf den Barrikaden und in den Gräben.

Plötzlich hörte die Kanonade auf. Das Schweigen war so dröhnend wie vorher der Lärm der Geschütze. Es musste etwas zu bedeuten haben. Man rappelte sich mit verschämten Gesichtern auf. So manche Hose zeigte die Spuren der Angst. Was würde nun kommen? Die Glieder zitterten.

»Hast du dir auch die Hosen vollgepisst?«, raunte Tessier.

»Es fehlte nicht viel.«

»Alle Achtung, du hast ein Kämpferherz.«

»Und du, Meister Messer, hattest du Angst?«

»Ich fürchte keine Menschen. Von Kanonen war nie die Rede.«

»Warum haben sie mit der Kanonade aufgehört?«

»Wir werden es gleich erfahren.«

»Noch steht die Barrikade, zwar zerrupft, aber sie steht.«

Nun bekam Julien die Antwort. Eine auseinandergezogene Reihe rotbehoster Soldaten kam heran.

»Feuert, Männer!«, hörten sie Hauptmann Antoine Pomeron brüllen.

»Sie sind doch noch zu weit weg«, murrte Tessier.

Aber sie gehorchten, drückten den Abzug durch. Das eigene Feuer machte ihnen Mut. Und selbst als die Linientruppen näher waren, fielen nicht viele um. Die Nationalgardisten waren keine gut gedrillten Soldaten und auf drei Schüsse in der Minute wie die Liniensoldaten kamen sie noch lange nicht. Die an der Barrikade waren Schneider, Schuster, Seiler, Zimmerleute und Bürogehilfen. Immer mehr Liniensoldaten fluteten heran und nichts schien sie stoppen zu können. Julien schoss, bis der Lauf so heiß war, dass er sich die Finger verbrannte. Neben ihm lag ein schmaler, schwarzbärtiger Mann, der eine erstaunliche Treffsicherheit zeigte.

»He, Courbet, bravo! Du bist mit dem Gewehr genauso gut wie mit dem Pinsel«, brüllte Pomeron herüber. »Weiter so, Farbkleckser!«

»Arschloch«, knurrte Courbet.

Schießen – ausatmen – laden – einatmen – ausatmen – schießen … Die Hagelkörner aus Blei wurden immer dichter. Dann waren die Liniensoldaten in den Gräben. Kampf Mann gegen Mann! Julien stach einem jungen Mann, nur wenig älter als er, das Bajonett in den Bauch. Erschüttert sah er, wie der Mann starb. Die erschrockenen ungläubigen Augen – er vergaß sie nie.

»Weg hier!«, brüllte Tessier neben ihm. »Es sind zu viele!«

Die Nationalgarden verließen in wilder Flucht die Gräben. Die Fahne auf der Barrikade sank herab. Eine panische Flucht nach Neuilly hinein. Hin und wieder hielten sie und schossen auf die Verfolger, um dann weiter zu hasten. Weg. Nur weg!

»Alles ist verloren! Rette sich, wer kann!«, wurde gerufen. Das schändliche Eingeständnis der Niederlage.

Sie erreichten den Ortskern von Neuilly, stellten sich in die Hauseingänge und feuerten auf die herandrängenden Versailler. Nun begann der Kampf um jedes Haus. Viele der heranstürmenden Versailler starben. Doch immer neue Wellen drängten heran. Die Nationalgardisten wurden trotz des hartnäckigen Widerstandes langsam aus der Stadt herausgedrängt. Plötzlich wogte Verstärkung heran. Mit der roten Fahne in der Linken und einem Säbel in der Rechten preschte eine Frau auf einem Schimmel an der Spitze ihres Bataillons nach Neuilly herein.

»Vorwärts, ihr Frauen der Kommune!«, schrie sie.

Tatsächlich. Ein Frauenbataillon schritt in den Kampf ein. Mit einer Entschlossenheit, einer Wut, die an urzeitliche Zentauren erinnerte, stürzten sie sich in das Gefecht. Ohne Erbarmen wüteten sie gegen die Versailler. War es die Überraschung oder die natürliche Hemmung, auf Frauen zu schießen? Die Versailler zogen sich zurück.

»Ça ira, ça ira!«, kreischten die Amazonen und die im Pulverdampf gestählten Soldaten gaben Fersengeld.

Die Nationalgardisten sammelten sich, rückten wieder vor, eroberten den Ortskern zurück und weiter ging es, aus der Stadt heraus und zu den Gräben, zurück zu den Barrikaden vor Neuilly.

»Victoria! Victoria!«, schrien die Frauen.

»Jeanne d’Arc! Jeanne d’Arc!«, antworteten die Männer und feierten die Frauen. Das Schießen hörte langsam auf. Die Linientruppen waren außer Schussweite. Die Kommune konnte einen Sieg feiern.

»Die Weiber haben uns gerettet. Genehmigen wir uns darauf einen Schluck«, sagte Courbet und reichte Julien einen silbernen Flakon.

»Wenn die Frauen nicht gekommen wären, hätten die Liniensoldaten heute Nachmittag auf den Champs Elysées feiern können«, stimmte Julien zu, trank und gab den Flakon an Tessier weiter. »Guter Cognac, Marc.« Tessier prostete Courbet zu.

»Wer ist die Frau dort auf dem Schimmel, die das Frauenbataillon angeführt hat?«, fragte Julien.

»Unsere Théroigne de Méricourt, die Prinzessin Dimitrieff«, antwortete Courbet grinsend. »Sie ist mutiger als ein Husarengeneral. Eine leidenschaftliche Jakobinerin. Der Rote Engel der Revolution. Wenn wir gesiegt haben, werde ich sie malen.«

»Du bist wirklich ein Maler?«, staunte Julien.

Pomeron, der den erstaunten Ausruf gehört hatte, kam zu ihnen und schlug Courbet auf die Schulter.

»Du kennst Courbet nicht? Einer der großen Maler Frankreichs. Er hat sich von der Kaiserclique nicht kaufen lassen.«

»Der Courbet, der das Bild ›Das Atelier‹ gemalt hat?«, staunte Julien, der auf der Ecole von dem Maler gehört hatte, dessen Bild einen Skandal bei der Kunstakademie ausgelöst hatte.

»Der Courbet«, bestätigte Antoine Pomeron stolz.

Tessier gab dem Maler den Flakon zurück und schlug ihm kräftig auf die Schulter.

»Ha, deine Bilder kenne ich nicht, aber ein guter Schütze bist du allemal. Ich werde in Erinnerung behalten, dass ich mit dir auf den Sieg getrunken habe. Aber, beim Tripper des Kaisers, was macht eine Prinzessin bei einem Weiberbataillon? Schaut mal, die Verrückte will vorrücken und den Schutz der Barrikaden verlassen.«

»Zum Teufel! Das närrische Weib will tatsächlich zum Angriff übergehen«, schimpfte Pomeron. »Die Frauen werden doch von den Mitrailleusen zusammengeschossen. Korporal Morgon, lauf zur Dimitrieff und sag ihr, dass ich ein weiteres Vorgehen verbiete. Marsch, lauf schnell. Du hast die jüngsten Beine von uns.«

Julien salutierte und lief zu den Barrikaden hinüber, wo die Prinzessin Dimitrieff dabei war, die Frauen für den Angriff zu ordnen.

Ihr Pferd am Zaumzeug festhaltend, rief er: »Prinzessin, ich komme von Hauptmann Antoine Pomeron. Strenger Befehl. Sie sollen die Stellung nicht verlassen. Die drüben haben genug Kanonen und Mitrailleusen, um euch alle zusammenzuschießen.«

»Ihr Männer habt keine Eier mehr«, sagte die Prinzessin abwehrend.

Sie war schlank, hielt sich gut auf dem Pferd und hatte lange schwarze Haare, die ihr bis auf die Schultern reichten. Ein schmales Gesicht mit dunklen Augen und einer langen geraden Nase wie die Athene griechischer Statuen. Die schwarze Männerkleidung verstärkte ihre geheimnisvolle Aura. Sie trug einen Hut mit einer roten Feder. Interessiert musterte sie Julien.

»Du bist ein hübscher Bengel, weißt du? Doch wer ist dieser Hauptmann mit dem bombastischen Namen, der es wagt, mir Befehle zu erteilen?«

»Der Kommandant dieses Frontabschnitts. Seinem Befehl ist unbedingt Folge zu leisten.«

»Der kann mir den Hintern tätscheln.«

Die Dimitrieff musterte Julien immer noch mit amüsiertem Blick. »Aber vielleicht ist es besser, du übernimmst das. Was ist mit dir? Hast du deine Eier noch?«, fragte sie herausfordernd.

Julien schoss die Röte ins Gesicht. »Für eine Frau eine etwas ungewöhnliche Frage«, stotterte er.

»Komm mit! Los. Bringt dem jungen Hahn ein Pferd«, rief sie ihren Frauen zu.

Diese brachten ein Pferd heran und grinsten dabei anzüglich.

»He, Dimitrieff, da hast du dir einen hübschen Bock für die Nacht reserviert«, rief eine der Frauen. Das ganze Bataillon brach in ein übermütiges Gelächter aus.

Sie riefen nun noch anderes, was Juliens Männlichkeit betraf, und dieser wünschte sich, dass Pomeron ihn nicht zu diesen wilden Weibern geschickt hätte.

»Es ist Hauptmann Pomerons strengster Befehl, dass ihr nicht angreift«, widerholte er noch einmal, obwohl er wusste, dass dies nichts nützen würde.

»Es ist mein strengster Befehl, dass wir ausrücken«, entgegnete die Prinzessin. »Los, Frauen der Kommune! Zeigen wir den Männern, dass man auch ohne Schwanz ein gutes Gefecht führen kann.« Zu Julien gewandt sagte sie mit funkelnden Augen: »Und, schöner Junge, wie heißt du?«

»Korporal Julien Morgon«, antwortete er mit scheuem Blick zu den Frauen, die sich immer noch über seine körperlichen Vorzüge unterhielten.

»Dann los, Julien Morgon, sitz auf! Wenn deine Eier noch vollzählig sind, kommst du mit.«

»Ihr solltet wenigstens von den Pferden steigen«, schlug Julien vor. »Ihr gebt ein zu leichtes Ziel ab.«

»Oho, wir haben einen Strategen bekommen.« Sie sah ihn einen Augenblick nachdenklich an und nickte schließlich. »Der Junge hat recht. Alle absitzen!«

Sie sprang vom Pferd und ihre Frauen folgten ihr. Dimitrieff zog ihren Säbel.

»Los, Frauen! Es lebe die Kommune!«

Das Bataillon nahm den Ruf auf, verließ die Barrikade und stürmte in die Glacis hinein. Als sie den Wald fast erreicht hatten, begannen die Mitrailleusen zu feuern. Tack – tack – tack – tack … Ein gleichtönendes tödliches Feuer. Viele Frauen gingen schreiend zu Boden. In die spitzen Schreie mischten sich Klagelaute. Doch die Prinzessin ließ nicht darin nach, ihre Frauen anzufeuern.

»Mädels, jetzt gilt’s! Zeigen wir es den Kerlen.«

Und tatsächlich. Sie erreichten die Linien der Versailler. Julien blieb an der Seite der Prinzessin und als ein großer bärtiger Korporal die Amazone mit dem Säbel bedrängte, stieß er diesem das Bajonett in die Seite.

»Gut gemacht, Goldjunge«, rief die Prinzessin. »Ich bin dir etwas schuldig.«

Und weiter ging es. In den Wald hinein. Nun folgten die Männer der Nationalgarde den voranstürmenden Frauen, beschämt von deren Mut. Doch dann wurden vor ihnen Feueröfen aufgestoßen. Ein Gebrüll wie aus der Tiefe der Erde. Kanonen entluden ihre tödliche Ladung. Die Kugeln schlugen eine Bresche in die anstürmenden Frauen. Die Prinzessin sah ein, dass sie mit dem Fortsetzen des Sturmlaufs alle Frauen in den Tod führen würde und gab den Befehl zum Rückzug. An den Barrikaden wurden sie von General Dombrowski empfangen, der sie wütend anschrie: »Wer zum Teufel gab den Befehl zu so einem wahnsinnigen Vorstoß?«

»Ach, Generälchen, wir wollten euch Männern nur zeigen, dass die dort drüben vielleicht Schwänze, aber keine Eier haben«, rief die Prinzessin höhnisch zurück.

Sie wandte sich ab und kümmerte sich um die Verwundeten. Ein Viertel ihrer Amazonen war vor dem Wald liegengeblieben. Der General rief nach Hauptmann Pomeron. Dieser eilte herbei und stand stramm.

»Haben Sie den Blödsinn befohlen, die Frauen ins Feuer zu schicken?«

»Nein. Ich habe Korporal Morgon zu dem Frauenbataillon geschickt, mit dem Befehl, dass ein Angriff zu unterbleiben hat.«

»Der Goldjunge hat den Befehl auch ausgeführt. Morgon hat tapfer mitgekämpft. Er hat jedenfalls noch Eier«, rief Dimitrieff.

Die Frauen lachten und der General fauchte: »Aus welchem verfluchten Land bist du, Prinzessin?«

»Vom Königreich der Frauen«, erwiderte diese.

Die Frauen stimmten das Lied an, das seit dem Aufstand in den Straßen gesungen wurde:

Lustig, lustig ihr Brüder und Schwestern,

weg mit den Herren und Pfaffen,

alle Herrschaft ist von gestern,

alle Welt gehört uns als Beute,

also ist es gut und gerecht,

dass niemand ist eines anderen Knecht.

Lustig, lustig, ihr Brüder und Schwestern,

wir kämpfen gegen die Mächtigen von gestern,

knüpft auf, knüpft auf die Bösen und Reichen,

wir werden niemals wieder weichen.

Ça ira … Ça ira …

General Dombrowski musste lachen und lenkte ein.

»Hauptmann Pomeron, lassen Sie Schnaps verteilen. Aber passen Sie auf, dass die Wachen sich nicht besaufen.«

»Hat dich die verdammte Hurenprinzessin verhext?«, schimpfte Tessier. »Schwachkopf! Du hättest tot sein können. Nun lass uns zur Kirche zurückmarschieren. Dort bekommen wir vielleicht außer Schnaps noch etwas zu beißen.«

»Denk daran, Goldjunge, du hast etwas bei mir gut«, rief die Prinzessin Julien hinterher.

»Na siehst du«, brummte Tessier. »So schnell geht das. Du wirst schon bald eine Nachfolgerin für deine Mercedes haben.«

»Ach, die Weiber sind mir total verleidet«, wehrte Julien verlegen ab.

»Das ändert sich bald«, erwiderte Tessier grinsend.

Sie hatten Glück, dass sich die meisten auf den Schnapswagen gestürzt hatten. Jeder von ihnen bekam ein ganzes Baguette und mit der Blutwurst und dem Käse der Mutter hatten sie ein anständiges Mahl. Wein wurde ohnehin reichlich ausgeteilt. In den Kellern der Tuilerien und in den Stadtpalästen hatte man die erlesensten Weine requiriert. Sie tranken einen guten Bordeaux des Jahrgangs ’64 und legten sich dann in der Kirche auf die Bänke.

»Was für ein Tag«, sagte Tessier und rülpste. »Mein Kleiner ist heute ein Held geworden.«

»Hat sich was mit Held. Ich hatte Schiss«, wiegelte Julien ab.

»Haben wir doch alle. Wer keinen Schiss hat, ist ein Idiot.«

General Dombrowski stapfte herein und sah um sich. »Ist hier irgendwo der junge Korporal, der mit den verdammten Weibern die Barrikaden verlassen hat?«

»Oh je, jetzt geht’s mir an den Kragen«, flüsterte Julien erschrocken.

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Warum musstest du auch diese Hurenprinzessin begleiten.«

Unsicher stand Julien auf. Der General winkte ihn heran.

»Also, Schneid hast du, das muss man dir lassen. Ich habe gestern meinen Adjutanten verloren. Du nimmst seinen Platz ein und bist jetzt Leutnant. Die Epauletten wird dir Hauptmann Pomeron besorgen. Du reitest morgen früh mit mir zum Wohlfahrtsausschuss, um denen von unserem Sieg zu berichten. Sei um sechs Uhr zur Stelle. Der frühe Vogel fängt den Wurm, verstanden?«

Julien nickte verdattert und versuchte sich im Salutieren. Der General grinste über den Versuch und stapfte davon. Tessier sah seinen jungen Freund mit offenem Mund an.

»Das nennt man eine steile Karriere. Deine Unvernunft wird auch noch belohnt. Aber was für einen Sieg will der melden?«

»Vielleicht ist es schon ein Sieg, dass die Linientruppen uns nicht überrannt haben«, mutmaßte Julien.

Hauptmann Pomeron kam grinsend herein. Nach einer karikierenden Ehrenbezeugung übergab er Julien die Schulterstücke und half ihm, diese anzulegen.

»Junge, du scheinst Glück zu haben. Was sagte noch Napoleon? Meine Generäle sollen Glück haben, mehr verlange ich nicht.«

»Das hat Napoleon gesagt?«, zweifelte Tessier.

»Wie dem auch sei«, brummte Pomeron verlegen. »Der Junge ist ein Esel, aber er hat Dusel.«

»Ha«, stieß Tessier aus. »Beim Tripper des Kaisers, was ist das für eine verschissene Armee, wo Ungehorsam belohnt wird? Kommt, gehen wir zum Schnapswagen. Die Beförderung muss gefeiert werden. Was unsere Armee gut kann, das ist saufen.«

Sie gingen aus der Kirche. Betrunkene Soldaten zogen singend, ihre Schnapsflaschen schwenkend, durch die Straßen von Neuilly.

»Wenn die Versailler jetzt angreifen würden, hätten sie leichtes Spiel«, stellte Hauptmann Pomeron besorgt fest.

»Die sind sicher genauso besoffen«, mutmaßte Tessier.

»Hoffentlich. Ich schau noch einmal nach, ob die Wachen an der Barrikade nicht eingepennt sind«, brummte der Hauptmann, zwinkerte Julien zu und stiefelte zur Frontlinie hin.

»Er ist ein guter Hauptmann, obwohl er vor Kurzem noch ein kleiner Ganove im Faubourg war«, stellte Tessier fest.

Sie holten sich ihre Flasche Branntwein, stellten sich an die Kirchenwand und sahen dem Treiben in den Straßen zu. Überall standen Soldaten um die Feuer, die man mitten in Neuilly gemacht hatte. An manchen wurde gesungen. Die Bürger von Neuilly, darunter viele Frauen, hatten sich unter die Nationalgardisten gemischt und Pärchen verschwanden in dunklen Ecken.

»Das wird eine gute Nacht für Paris. Es werden Kinder gezeugt«, kommentierte Tessier lachend, nahm einen großen Schluck aus der Flasche, wischte sich den Mund ab und rülpste. »Ha, der Schnaps wärmt die Gedärme.«

Eine große Frau kam vorbei, stutzte und winkte Julien zu.

»Da bist du ja, Goldjunge. Dich habe ich gesucht. Ich muss dich doch noch belohnen«, sagte die Prinzessin.

Julien sah erschrocken Tessier an und dieser grinste. »So ist das Leben. Hol dir deine Belohnung ab. Wird Zeit, dass du merkst, dass auch andere Weiber das haben, was dir deine Mercedes jetzt verweigert.«

Er gab Julien einen Stoß und dieser folgte zögerlich der Aufforderung. Als er vor ihr stand, stieß sie einen Pfiff aus. »Dombrowski ist doch nicht so dumm, dass er einen Kerl nicht erkennt. Du bist also Leutnant geworden.«

»Nur sein Adjutant«, stimmte Julien zu. »Er muss wenigstens einen Leutnant herumkommandieren können.«

»Wenn du eine Frau wärst, hätte ich dich in meinem Bataillon sogar zum Hauptmann befördert. Nun komm. Den Schnaps kannst du deinem Freund überlassen. Ich habe einen guten Cognac für uns.«

Julien warf seine Flasche Tessier zu, der sie geschickt auffing.

»Danke, Kleiner. Ich weiß schon. Du wirst bald Besseres trinken.«

»Bist du gesund?«, fragte die Dimitrieff.

»Natürlich.«

»Du kapierst nicht. Ist dein Schwanz sauber?«

Verdattert über die unverblümte Sprache der Schönen stammelte Julien: »Ja doch.«

»Kein Tripper oder Syph?«

»Natürlich nicht.«

»Natürlich? Nichts ist natürlicher, als in Kriegszeiten einen Tripper zu haben.«

Sie hielt vor einem prächtigen Haus mit vielen allegorischen Figuren an Tür und Fenstern. »Dieses Haus habe ich für mich requiriert. Gehört einem bretonischen Armeelieferanten. Ich habe ihm das Dienstbotenzimmer gelassen.«

Sie ging Julien voran ins Haus. Im Flur lagerten einige Frauen. In den Zimmern links und rechts ging es wüst her. Sie hatten sich Kerle geholt und schrien betrunken durcheinander. Eine Megäre röhrte: »Unser Prinzesschen hat den jungen Hengst geholt.«

Die Frauen kreischten anzüglich.

»Reit ihn gut ein und dann schick ihn zu uns herunter«, sagte ein zigeunerhaft aussehendes Mädchen, dessen Mieder offen stand.

»Saug ihm nicht das Mark aus den Knochen«, schrie die Megäre.

»Für euch wird nicht viel übrig bleiben«, erwiderte die Prinzessin, nahm Julien bei der Hand und zog ihn eine Wendeltreppe in den zweiten Stock hoch. In dem großen Salon standen Möbel, wie Julien sie genauso kostbar bisher nur bei Baron Savigny gesehen hatte.

»Die Armeelieferanten werden alle reich. Unser Schloss in Polen war nicht üppiger möbliert. Doch nun komm. Ich habe bei der Hausfrau ein Bad bestellt. Wir werden uns erstmal gründlich vom Pulverdampf befreien. Keine Angst, es wird dir gefallen. Hast du schon ein Mädchen gehabt?«

»Ich war verheiratet.«

»So. Dann weißt du ja wenigstens, wie es geht«, erwiderte sie unbeeindruckt.

Sie öffnete die Tür zu einem Zimmer, in dem eine große Zinkwanne stand. Eine Frau, offensichtlich die Frau des Hausbesitzers, goss gerade mit zitternden Händen dampfendes Wasser hinein.

»Verschwinde!«, blaffte die Dimitrieff die Frau an. »Oder willst du mitmachen?«

»Jesus Christus, ich bin doch nicht so eine«, kreischte die Frau und lief hinaus.

»Nun zieh dich aus!«, forderte die Dimitrieff, legte selbst die Weste ab und zog sich das Hemd über den Kopf.

Verlegen konzentrierte sich Julien darauf, seine Kleider abzulegen und stand schließlich nur in der Unterhose vor ihr.

»Schau mich an«, sagte sie lächelnd. Sie war nackt und schön und hatte wohlgeformte Brüste. Sie hielt ihre Zehen ins Wasser.

»Schön heiß. Nur runter mit der Hose, oder hast du einen zu kleinen Schwanz?«

Julien entledigte sich schnell des letzten Kleidungsstücks und stieg zu ihr in die große Wanne. Ihre Knie berührten sich.

»Ich werde dich erstmal waschen und du erzählst mir, warum ein so junger Kerl verheiratet war und es nicht mehr ist. Eine Kinderehe?«

Während er von seiner Liebe erzählte, von seiner Heirat und seiner Zeit im Gefängnis, wusch sie ihm mit einem Schwamm den Rücken und die Brust und schließlich kümmerte sie sich um seinen Unterleib. Schließlich stand sie auf, führte ihn in ein Schlafzimmer mit einem Himmelbett und warf ihm Handtücher zu.

»Gut abrubbeln. Und dann wollen wir mal sehen, wie gut mein kleiner Leutnant reiten kann.«

Die erfahrene Frau zeigte ihm, wie man in den Palästen von Paris und Warschau liebte. Er war jung und stark und sie lehrte ihn, wie er seine Lust unter Kontrolle halten und ihr Genuss verschaffen konnte. Wenn sie nach jubelnden Rufen ermattet nebeneinander lagen, flüsterte sie in einer ihm unbekannten Sprache und streichelte sein Gesicht.

»Mein schöner kleiner Leutnant. Dein Mädchen ist eine Närrin, auf dich zu verzichten.«

Wie gerädert erwachte er am nächsten Tag. Nervös sah er auf die Standuhr. Es war kurz vor sechs. Hastig sprang er aus dem Bett und suchte seine Kleider zusammen. Die Dimitrieff schlief noch fest, als er das Schlafzimmer verließ. Die Treppe hinunter stolpernd zog er sich den Leibrock über. Er lief, die Uniform zurechtrückend, zur Kirche hinüber. Der General stand mit der Taschenuhr in der Hand vor dem Gotteshaus. Die Turmuhr schlug.

»Ha, Junge, das hat gerade noch so geklappt. Das nächste Mal bist du fünf Minuten vor mir da. So weit kommt es noch, dass ein General auf seinen Adjutanten warten muss. Wer war sie?«

»Was meint Herr General?«

»Mit wem hast du gefickt, verdammter Dummkopf?«

»Mit einer Frau.«

»Mit wem sonst, Schwachkopf! Ein Päderast bist du sicher nicht.«

»Ich habe die Prinzessin nach Hause begleitet.«

Dombrowski lachte. »Eine elegante Beschreibung.«

Julien lief rot an und stand stramm.

»War sie gut?«

»Wir haben uns gut verstanden«, stammelte er.

»Eine gute Formulierung«, amüsierte sich der General. »So lob ich mir meine Soldaten. Sie müssen tüchtige Hähne sein. Nun, dann wollen wir mal.«

Ein Soldat brachte zwei gesattelte Pferde. Der General schwang sich auf den Schimmel. Julien zögerte.

»Was ist? Hast du heute Nacht zu viel geritten?«

»Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen.«

»Keine Angst. Das Tier ist lammfromm.«

Mit bangem Gefühl bestieg Julien das Pferd. Das Tier merkte wohl, dass sich sein Reiter unwohl fühlte und wurde nervös. Der General ritt an den Rotfuchs heran und tätschelte den Hals des Tieres.

»Ist ja gut, meine Lisette. Dein Reiter ist ein Guter. Er wird dich anständig behandeln. Hab Geduld mit ihm.«

Und tatsächlich. Das Tier beruhigte sich.

»Nur wir Polen können richtig mit Pferden umgehen. Nicht umsonst hatte der große Bonaparte am liebsten Polen in seiner Kavallerie.«

Sie ritten nach Paris hinein. Das Tier hielt sich dicht hinter dem Pferd des Generals. Nach einiger Zeit folgte es auch Juliens ungeschickten Weisungen mit dem Zügel. Zwar schnaubte es unwillig, hatte aber Nachsicht mit seinem Reiter. Überall in den Straßen lagen Betrunkene. Der General fluchte, wie nur ein Pole fluchen kann.

»Sieh dir das an! Was soll nur aus der Kommune werden, wenn sie im Alkohol ersäuft. Ich habe nichts dagegen, wenn man Soldaten kurz vor der Schlacht einen ordentlichen Schluck verabreicht. Das lässt sie besser die Angst aushalten. Aber dieses hemmungslose Saufen überall in der Stadt macht mich ganz krank. Das ist konterrevolutionär. Eine Schande!«

»Sie haben gestern doch selbst Schnaps austeilen lassen«, erinnerte ihn Julien und erschrak selbst über seine Kühnheit.

»Oho, mein Adjutant wagt es, seinen Kommandanten zu kritisieren. Das war eine Belohnung. Der Schnaps hat sie von den Toten abgelenkt. Merk dir, Morgon: Ein beschwipster Soldat ist ein guter Soldat. Ein besoffener Soldat ist eine Katastrophe. Er verliert die Übersicht und es kommt leicht zur Panik. Man muss das richtige Maß finden.«

»Bekommen die Versailler Truppen auch Schnaps?«

»Und ob, mein Kleiner. Sonst würden sie kaum unsere Vorwerke genommen haben. Sie haben sich wie die Verrückten ins Feuer gestürzt. Alles was recht ist, die Linientruppen werden von keinen schlechten Kommandeuren geführt.«

»Und warum haben sie dann gegen die Preußen verloren?«

»Weil der Generalstab aus Schwachköpfen bestand – aber die mittlere Befehlsebene besteht aus fähigen Männern, die kämpfen können. Und was die Dimitrieff gestern gemacht hat, war Wahnsinn. Dreißig Weiber hat sie verloren und was hat es gebracht? Nichts. Verdammtes Weibsbild! Und danach lässt sie sich von meinem Adjutanten durchficken!«

Julien hatte das Gefühl, die Frau verteidigen zu müssen, die ihn so viel Zärtlichkeit gelehrt hatte. »Sie ist eine außergewöhnliche Frau.«

»Das ist sie in der Tat.«

In der Avenue St. Germain gegenüber der Rue de l’Ancienne Comédie hielten sie vor dem Haus des Wohlfahrtsausschusses. Sie stiegen ab und banden die Pferde am Geländer neben dem Eingang fest. Der Posten neben der Tür salutierte. Der General stürmte Julien voran.

Durch einen dunklen Flur kamen sie in einen großen Raum mit Stuckverzierungen an der Decke. Von einem Schreibtisch sah ein Mann stirnrunzelnd auf. Hinter ihm hing die rote Fahne mit der Phrygischen Mütze.

Die Überraschung bestand darin, dass Julien den Mann unter dem Namen Leon Flamboyant kannte. Doch er trug keine Soutane mehr, sondern die goldbestickte Uniform des Kriegsbevollmächtigten. Leon grinste über Juliens überraschtes Gesicht.

»Ja, Julien, ich habe dir doch immer gesagt, dass der Club des höchsten Wesens sehr mächtig ist.« Schmunzelnd sah er auf die Leutnantsepauletten. »Wie ich sehe, bist du auch kein einfacher Bürger mehr, sondern kommst voran. Gratuliere, Dombrowski, da hast du dir einen tüchtigen Mann als Adjutanten geholt.«

»Ich verstehe nicht«, brummte Dombrowski.

»Noch nicht, Bürger General. Noch nicht. Diesen jungen Mann habe ich ausgebildet. Er hat außerordentliche Fähigkeiten.«

Ratlos sah der General zu seinem Adjutanten.

»Mutig ist er zweifellos.«

»Er hat noch eine bessere Eigenschaft.«

»Ha?«

»Er ist klug.«

»Willst du ihn gleich zum General ernennen?«, fragte Dombrowski sarkastisch.

»Das kann kommen, wenn du die Versailler durchlässt«, erwiderte Flamboyant kalt.

Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo

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