Читать книгу Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo - Heinz-Joachim Simon - Страница 16

9 – Die milde Art der Bourgeoisie

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(Victor Hugo erzählt)

Als er die Augen aufschlug, lag er an der Mauer des Seinekais. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Nach ihrem Stand musste es hoher Mittag sein. Der Kopf tat ihm weh. Er sah alles verschwommen. Vor ihm stand eine Gruppe von Männern. Erst sah er nur die Hosenbeine. Er drehte sich zur Seite. Tatsächlich. Es war Auguste mit seinen Freunden.

»Er ist aufgewacht«, stellte Hubert fest.

»Sie hatten keine echte Chance gegen uns. Wie kann man solche Bürschlein wie Julien zum Hauptmann machen!«, entrüstete sich Armand.

»Unser Revolutionsheld ist aus der Traumwelt zurückgekehrt«, bemerkte Charles wiehernd.

»Wird nur ein kurzes Intermezzo sein«, freute sich Jean.

Julien blinzelte. Langsam wurde das Bild klarer. Wenn ihn nur der Kopf nicht so schmerzen würde. Er fühlte, dass das Blut auf der Stirn bereits zu trocknen begann. Wo sind die anderen? Er blickte nach rechts und links. An der Kaimauer lagen andere Verwundete. Nun stellte er fest, dass seine Hände wie bei den anderen Verletzten vor dem Bauch zusammengebunden waren. Auguste bemerkte seinen Blick und grinste.

»Dir habe ich persönlich die Hände zusammengebunden.«

Julien blickte über die Straße. Vor der Barrikade war nichts mehr zu sehen als Schutt. Überall lagen Leichen. Soldaten waren dabei, sie am Straßenrand abzulegen. Wo war Tessier? Lebte sein Freund noch?

Ein Offizier kam heran. Ein wohlbeleibter Oberst mit einem Froschgesicht, wulstigen Lippen und Hängebacken.

»Gut gemacht, Jungs«, lobte er Auguste und seine Kameraden.

»Ohne euch wären unsere Verluste noch höher ausgefallen. Die verdammten Flintenweiber haben gekämpft wie die Harpyien.«

»Was wird mit diesem Schweinehund passieren, diesem Hauptmann dort?«, fragte Auguste.

Der Oberst grinste sardonisch. »Das ist ja der Kerl, der Hauptmann Beauregard, einen prächtigen Soldaten und Kameraden, feige mit einem Messer ermordet hat. Was wohl? Wir schicken ihn zum Friedhof auf Montmartre, wo die Exekutionen stattfinden werden. Ich bekam gerade die Nachricht. Auch dort ist der letzte Widerstand zusammengebrochen. Man hat bereits mit den Erschießungen begonnen. Alle Soldaten, die nachweislich am Kampf teilgenommen haben, werden erschossen.«

»Und die Weiber?«, fragte der schöne Charles grinsend.

»Jede, die nach Petroleum stinkt, wird ebenfalls erschossen. Für die Kinder gilt das gleiche. Unter den Brandstiftern waren Dutzende von Kindern. Es gibt ein großes Reinemachen. Paris ist unser. Macht’s gut, Jungs! Ihr seid die Saat, die in einem neuen Frankreich aufgehen und bald das Land regieren wird. Noch mehr von euch und mir ist vor den Kommunisten nicht bange.«

Er grüßte militärisch und stolzierte davon. Auguste sah seine Freunde stolz an.

»Ihr habt es gehört. Ich habe euch gesagt, dass wir uns Verdienste erwerben, wenn wir den Linientruppen helfen, den Quai Voltaire zu erobern. Vater wird dafür sorgen, dass dies nicht vergessen wird.« Selbstgefällig sah er auf Julien herab.

»Na, Ladenschwengel, wie fühlst du dich jetzt, wo du weißt, dass man dich zum Montmartre bringen und vor ein Peloton stellen wird?«

»Jedenfalls fühle ich mich nicht als Verräter«, krächzte Julien. Seine Lippen waren trocken und aufgeplatzt. Er schmeckte Blut.

»Wir sind keine Verräter«, schrie Auguste mit hochrotem Kopf. »Wir sind Patrioten, Feinde der Kommune. Alle wohlanständigen Leute von Paris waren eure Geiseln. Es war unser gutes Recht, sogar unsere Pflicht, als Anhänger des gewählten Parlamentes gegen euch zu kämpfen.«

»Ihr habt euch angeboten, gegen die Versailler zu kämpfen und ich habe euch vertraut. Es war meine Dummheit, dass die Barrikade vorzeitig fiel. Nicht die Liniensoldaten haben uns besiegt, sondern euer Verrat.«

»Wie konntest du nur glauben, dass wir uns mit dem Pack der Kommune gemein machen.«

Soldaten schleppten weitere Verwundete heran und legten sie an der Kaimauer ab. Ein freudiger Schreck durchfuhr Julien. Einer der Verletzten war Marc Tessier. Er hatte die Augen geschlossen. Sein Kopf war blutverschmiert. Ihm fehlte ein Ohr.

»Also, wer von den Gefangenen gehen kann, nimmt an der Parade durch Paris teil. Die, die nicht laufen können, werden auf der Stelle erschossen«, rief ein Leutnant der Linientruppen hämisch lachend.

Warum hassen sie uns so?, dachte Julien. Wir sind doch alle Franzosen.

»Na, Morgon, kannst du noch laufen?«, höhnte Auguste. Mühsam richtete sich Julien auf.

»Das nützt dir gar nichts. Dann wirst du eben auf Montmartre erschossen.«

»Los, Jungs. Wenn ihr an den Erschießungen teilnehmen wollt, verzieht euch nach Montmartre«, forderte ein Korporal.

»Und ob wir daran teilnehmen wollen«, bekräftigte Auguste. »Den Spaß lassen wir uns nicht entgehen.«

Julien bemerkte, dass sich Tessier regte. Er taumelte zu ihm und versuchte, ihn hochzuziehen. Tessier öffnete die Augen und blinzelte. Sich an Julien festhaltend, erhob sich der ehemalige Zuchthäusler.

»Na, Julien, da sind wir ganz schön in die Scheiße geraten«, krächzte er.

Unter den Kolbenstößen der Soldaten formierten sich die Gefangenen zu einem langen Zug.

»Wir werden nachher auf Montmartre dabei sein«, rief Auguste mit bösem Lächeln. »Übrigens, damit du es weißt. Mein Vater und Mercedes’ Eltern sind übereingekommen, dass wir demnächst heiraten. Du bist ein Verlierer, Ladenschwengel!«

»Sie ist immer noch meine Frau«, stöhnte Julien, der wie unter Schlägen taumelte.

»Die Ehe ist bereits annulliert. Sie war nie rechtskräftig«, brüllte Auguste heftig erregt.

Tessier winkte ab. »Julien, reg dich nicht auf. Der Kerl bekommt nur das, was du schon gehabt hast.«

»Ihr seid des Todes!«, geiferte Auguste und legte das Gewehr an.

»Halt, Junge! Nimm das Gewehr herunter«, schnauzte der Korporal. »Wir brauchen die Überlebenden für die Parade. Geh zum Montmartre, wenn du blutrünstig bist.«

Zögernd legte Auguste das Gewehr ab. »Morgon, du entkommst mir nicht!«, kreischte er.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie wurden über den Pont de la Concorde an den ausgebrannten Tuilerien vorbei auf die Champs Elysées geführt. Aus den Ruinen stieg immer noch Rauch hoch. Vorweg marschierten die Linientruppen in Paradeuniform, dahinter ritten die Kürassiere mit blitzendem Brustharnisch, in der Mitte taumelten die Gefangenen. Den Abschluss bildeten die Fremdenlegionäre. Es sollte eine Siegesparade sein und war doch nur ein schändliches Beispiel für die Niedertracht der Versailler. An den Seiten des Prachtboulevards standen die guten Bürger von Paris, johlten und pfiffen und bespuckten die Gefangenen. Vor wenigen Wochen hatten sie noch den Nationalgardisten zugejubelt. Doch hin und wieder sah man auch Menschen, die sich verstohlen Tränen aus den Augen wischten. Ein Traum war zu Ende. Der Traum eines anderen Frankreichs, das gerechter und brüderlicher war. Diese Menschen trugen keine Zylinder, keinen Gehrock, sondern Mützen und geflickte Jacken und Hosen. Es war ein Sieg der Bourgeoisie über das eigene Volk.

»Was für ein erbärmliches Schauspiel«, stöhnte Julien.

»Wir können wenigstens sagen, dass wir versucht haben, ein anderes Frankreich zu schaffen«, quetschte Tessier heraus. Je länger der Marsch dauerte, umso sicherer wurde sein Schritt. Schon bald brauchte ihn Julien nicht mehr zu stützen.

»Was macht dein Ohr?«, fragte er mitfühlend.

»Ich war auch mit zwei Ohren keine Schönheit.«

»Was ist mit der Brustwunde?«

»Halb so wild. Ein glatter Durchschuss an der Seite. Ohnmächtig wurde ich durch den Säbelhieb auf meine linke Kopfseite. Das verdammte Rauschen im Kopf wird sicher aufhören, wenn wir vor dem Peloton stehen. Du siehst, alles nicht so schlimm.«

»Hast du gesehen, was mit der Prinzessin passiert ist?«

»Sie wurde von mehreren Bajonetten durchbohrt. Sicher ist sie tot. Vielleicht ist sie mit deinem Bild vor Augen gestorben.«

»Der Typ war sie nicht.«

»Nein. Du hast sie nicht geliebt, oder?«

»Sie war eine außergewöhnliche Frau.«

»Eine feine Frau«, stimmte Tessier zu.

Sie waren nun unterhalb von Montmartre angelangt. Tausende ehemaliger Nationalgardisten hatte man hier zusammengetrieben. In Fünfziger-Gruppen wurden sie hinauf zum Friedhof Père Lachaise geführt. Die Salven waren schon unten zu hören. Sie wurden in einen Kordon der Linientruppen hineingetrieben. Die Soldaten hatten wohl reichlich Branntwein bekommen und wirkten angetrunken. Ihre Haltung, ihre obszönen Rufe verrieten, dass die militärische Disziplin verlorengegangen war. Hinter den Soldaten standen Schaulustige, die unflätige Beschimpfungen herüberriefen. Geschwächt von den Strapazen und bei vielen auch vom Blutverlust setzten sich die Gefangenen auf den Boden und warteten dumpf auf ihr Schicksal.

Plötzlich stieg aus den Reihen der Gefangenen ein Lied auf. Es handelte von einem Feiertag in Paris, an dem alle fröhlich sind. Hier war jedoch niemand fröhlich. Die einen starrten niedergeschlagen und blickten in die Ferne, die anderen warteten in dumpfer Gleichgültigkeit auf das Unvermeidliche. Die Sieger waren betrunken, die Zuschauer blutdurstig. Es ging auf den Abend zu. Aber die Sonne war immer noch da. Immer wieder wurden fünfzig Mann aus den Wartenden herausselektiert und dann zum Friedhof getrieben.

»Noch eine halbe Stunde, dann sind wir dran«, stöhnte Julien.

»Es lässt sich nicht ändern. Ich habe schon überlegt, ob wir türmen können. Aber es sind zu viele Soldaten.«

Sie warteten. Der Blutgeruch hatte viele Fliegen angezogen. Plötzlich sprang vor ihnen ein Nationalgardist auf und lief schreiend auf die Linientruppen zu.

»Es lebe die Kommune! Es lebe die Freiheit!«

Die Soldaten schossen. Er brach mit ausgebreiteten Armen zusammen. Die Soldaten machten Witze darüber. Einige traten dem Leichnam in die Seite.

»So geht es nicht«, kommentierte Tessier. »Das war Selbstmord.«

Bald würden sie die nächsten sein, die man zum Friedhof holte. Er sah bei den Soldaten auch Auguste und seine Freunde stehen. Sie lachten und deuteten zu Julien herüber.

Als ein Offizier Julien und Tessier für die nächste Gruppe einteilen wollte, trat plötzlich hinter den Reihen Baron Savigny hervor und redete auf den Offizier ein. Dieser schüttelte erst den Kopf, doch als Savigny heftiger wurde, zuckte er mit den Achseln und nickte. Savigny kam zu ihnen.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du die Uniform ausziehen sollst, Dummkopf!«, schimpfte er. »Nun bist du nichts anderes als ein Marodeur, Brandstifter und Mörder. Schade, ich hatte mir so viel für dich erhofft.«

»Ich konnte meine Kameraden nicht im Stich lassen.«

»Dummheit! Was verstehst du von Politik? Politik bedeutet für Interessen eintreten. Welche hast du mit dem Eintreten für die Kommunarden verfolgt? Deine eigenen? Was sind diese? Nun wirst du erschossen werden. Ich habe eine Menge Geld in deine Zukunft investiert. Fast einen Sohn habe ich in dir gesehen, weil du gute Anlagen hast.«

»Es tut mir leid«, stotterte Julien, betrübt darüber, dass er den guten Baron enttäuscht hatte. »Aber die Kommune wollte die Befreiung der Menschen von allen Beschwernissen. Das ist doch eine gute Idee.«

»Eine Idee, die nicht funktioniert.«

»Können Sie nicht für mich und meinen Freund ein gutes Wort einlegen?«

»Für dich und für wen noch? Wer ist der Kerl?«

»Hier, Marc Tessier«, erwiderte Julien, wies auf seinen Freund und schöpfte Hoffnung. »Ohne ihn wäre ich längst tot.«

»Ein Gaunergesicht«, brummte Savigny. »Mal sehen, was ich für euch tun kann. Aber macht euch keine großen Hoffnungen. Leicht wird es nicht werden. Die Truppe ist besoffen.«

Er nickte finster, ging zu dem Offizier zurück und redete wieder auf diesen ein. Der Versailler winkte ab und schüttelte erneut den Kopf. Gespannt beobachteten sie den Disput zwischen den beiden. Da kam Auguste höhnisch lächelnd zu ihnen. Seine Kameraden hatte er hinter der Absperrung zurücklassen müssen.

»Bei der nächsten Gruppe gehst du zu deiner Beerdigung.«

»Auch du wirst eines Tages sterben«, erwiderte Julien.

Sein Mund war trocken. Die Zunge fühlte sich pelzig an. Sein Puls raste. Nicht so sehr die Erschießung regte ihn auf, es war die Ohnmacht Auguste gegenüber.

»Aber bei mir wird es noch eine Weile dauern und ich werde viele Jahre den schönen Leib der Mercedes genießen. Ich werde ihr Kinder machen und sie wird glücklich sein und dich vergessen. Wenn du schon vermoderst, werde ich sie in den Armen halten und … du weißt schon.«

»Du bist ein Schwein, Auguste! Du weißt das. Wie fühlt man sich als Schwein?«

Auguste lief rot an und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Julien spürte keinen Schmerz – nur Scham.

»Nachher wirst du zittern!«, brüllte Auguste. »Du wirst in den Lauf der Gewehre blicken und warten. Dann kommt die Kugel und dein letzter Gedanke wird sein, dass ich Mercedes ficke.«

»Du hast eine perverse Fantasie. Ich wusste, dass du schlecht bist, aber dass du innerlich verfault bist, wird mir erst jetzt klar.«

Auguste nahm sein Gewehr von der Schulter. Aber ein Ruf des Offiziers stoppte ihn.

»Keine Privatabrechnungen! Herunter mit dem Gewehr.«

»Noch ehe es dunkel ist, bist du tot«, zischte Auguste, wandte sich um und ging zu seinen Freunden zurück.

»Was für ein verkommener Bengel«, sagte Tessier.

Der Korporal, der die Gruppen zur Exekution einteilte, kam angelaufen.

»Los, ihr Bastarde! Ihr seid gleich dran.«

Julien sah voller Verzweiflung zum Baron Savigny hinüber, der immer noch mit dem Offizier diskutierte.

»Los, Marsch!«, kommandierte der Korporal.

In Fünferreihen gingen sie zum Friedhof hoch. Zwischen den Kreuzen der Gräber wurden sie bis ans Ende des Friedhofs zu einer Wand aus Ziegelsteinen geführt, vor der ein langer Graben ausgehoben worden war, in dem bereits viele Tote lagen. Soldaten standen mit geschultertem Gewehr davor.

»Los, an den Graben! Los, schnell, schnell!«, geiferte ein Oberst mit einem Froschmaul und schwenkte seinen Degen.

Ein scharfes Kommando. Julien sah in die Läufe der Gewehre. Gleich würde es aus sein. Gleich ist mein Leben vorbei, dachte er und drückte die Augen zu. Das war’s, das Leben.

Er sah sich mit Vater und Mutter im Jardin du Luxembourg, sah sich mit Abbé Flamboyant lernen, sah Mercedes in seinen Armen und dann ihr verzweifeltes unglückliches Gesicht, als sie sagte, dass es eine Kinderei gewesen sei. Nur einen Nachmittag war sie seine Frau gewesen.

Aber warum kam nicht das Kommando »Feuer!«?

Er öffnete die Augen. Neben dem Oberst mit dem Froschmaul stand Savigny. Der Offizier zuckte schließlich mit den Achseln.

»Julien Morgon und Marc Tessier vortreten!«

Sie folgten dem Befehl. Was passierte hier?

»Los, kommt her!«, befahl nun der Oberst.

Sie stolperten vorwärts und ein Soldat nahm sie in Empfang.

»Ab mit den beiden zu den Bagnoverbrechern«, kommandierte der Oberst, verbeugte sich vor Savigny und wandte sich wieder dem Erschießungskommando zu.

»Ich weiß nicht, ob ich dir damit einen Gefallen getan habe«, sagte Savigny. »Du wirst zwar nicht erschossen, aber ins Bagno nach Guayana geschickt. Es soll dem Tod durch Erschießen kaum nachstehen. Schade. Reine Sentimentalität, dass ich dich vor dem Peloton rette. Also, viel ist es nicht, was ich dir noch geben konnte. Du wirst ein paar Monate, vielleicht Jahre weiterleben. Die meisten Bagnohäftlinge sterben in den ersten drei Jahren. Aber wenigstens kann ich deinen Eltern sagen, dass du lebst und ich dich vor dem Erschießungskommando bewahrt habe. Nun geh, mein Junge, und trag dein Kreuz. Verfluchter Abbé, der dich zu den verbrecherischen Gedanken verführt hat, für die Kommune einzutreten.«

Er drehte sich um. Zwei Soldaten führten sie von Montmartre zum Bastilleplatz, wo die gesammelt wurden, die als minder Belastete für das Bagno vorgesehen waren. Hinter sich hörten sie die Salven, die auch sie niedergestreckt hätten. Rund um die Säule, die man dort errichtet hatte, wo einst der tönerne Elefant und noch früher die Bastille gestanden hatte, sammelte man tausende ehemaliger Nationalgardisten, die nun zum Tod in der Ferne vorgesehen waren.

»Wir leben«, stammelte Julien. »Ein Wunder. Wir leben.«

»Ich weiß nicht, ob wir uns darüber freuen sollten«, krächzte Tessier.

Man stieß sie brutal zu den anderen Gefangenen.

»Was weißt du vom Bagno?«, fragte Julien, der es immer noch nicht fassen konnte, dass sie dem Peloton entkommen waren. Er war dem Baron Edmond de Savigny unendlich dankbar.

»Es ist nur das andere Ende von der Wurst. Es soll die Hölle sein. Kaum einer kommt aus Guayana zurück. Einmal wegen des Klimas und der schlechten Verpflegung, zum anderen wegen der tödlichen Krankheiten und der todbringenden Arbeit. Wie ich gehört habe, kann man nur hoffen, nicht auf dem Festland zur Arbeit eingeteilt zu werden, sondern auf den vorgelagerten Inseln Royal und Saint Joseph oder der Teufelsinsel. Dort soll das Klima erträglicher sein und deswegen die Krankheiten seltener.«

»Woher weißt du so gut Bescheid?«

»Ich kannte mal einen Sträfling, der seine Strafe dort lebend überstand. Eine seltene Ausnahme. Er erzählte mir, dass man mehr als fünf Jahre kaum übersteht. Acht Jahre überleben die wenigsten. Die Wärter sind die reinsten Bestien. Man schickt die brutalsten Kerle als Aufpasser nach Guayana und diese wählen wiederum unter den Häftlingen die brutalsten Hilfswärter. Dein Savigny hat uns das Leben gerettet, aber großzügig war er dabei nicht.«

»Wichtig ist nur, dass wir noch leben. So lange man lebt, hat man auch eine Chance. Ich bin dem Baron sehr dankbar«, widersprach Julien energisch. »Vielleicht wird es ja doch nicht so schlimm.«

»Es wird schlimmer, als du dir vorstellen kannst.«

»Mach mir keine Angst.«

»Ich will dich nur darauf vorbereiten, was auf uns zukommt. Frankreich sehen wir nicht wieder. Das ist schon mal klar.«

Als die Dunkelheit herabsank, wurde es kalt und sie froren. Ohne Essen bekommen zu haben und ohne Decken durchlitten sie eine nicht enden wollende Nacht. Der Himmel war klar und es waren dieselben Sterne wie am Vortag und doch war alles anders.

Am Morgen stellten sich um den abgesperrten Platz viele Verwandte und Freunde ein. Die Soldaten ließen die Angehörigen durch, damit diese die Gefangenen verpflegen konnten. Juliens Eltern brachten den großen Schinken, den er einst requiriert hatte. Die Mutter weinte bitterlich und strich ihm immer wieder über die Hände.

»Ach, Junge, wie konnte alles so schlimm enden?«

»Er hat tapfer für die Kommune gekämpft«, sagte der Vater dumpf, schluckte heftig und wischte sich die Augen. »Leider hat sie verloren und im Grunde ist er noch gut dran. Sieh dich nur um. Er ist der einzige Offizier, der nicht vor dem Erschießungskommando gelandet ist.«

Die Mutter schluchzte und nickte.

»Ja. Der gute Baron war bei uns. Das wenigstens konnte er für dich tun.«

»Habt ihr schon gehört, für wie lange man uns verurteilt hat?«, fragte Julien, der nach einem Hoffnungsschimmer suchte.

»Nein, Julien«, erwiderte der Vater. »Thiers ist ja gerade wieder nach Paris zurückgekehrt. Niemand weiß Genaues. Sie können doch nicht Tausende ewig gefangen halten. Bestimmt wirst du bald zurückkommen.«

»Und ob die uns dort lange gefangen halten können«, mischte sich Tessier ein. »Guayana ist das Land ohne Wiederkehr und verschlingt viele Menschen. Ich sage dies nur, um keine falsche Hoffnung aufkommen zu lassen.«

»Hört nicht auf ihn«, wehrte Julien ab. »Er ist seit unserer Gefangennahme ein fürchterlicher Pessimist. Dabei ist ein Wunder geschehen. Wir leben noch.«

»Ach, Junge, warum musstest du auch Offizier werden? Du bist doch eigentlich zu jung dafür«, jammerte die Mutter.

»Mach es ihm nicht noch schwerer«, mahnte der Vater. »Es ist, wie es ist. Er hat seine Pflicht als Citoyen getan und wir sollten Gott danken, dass Baron Savigny ihm helfen konnte.«

Tessier lachte dazu höhnisch.

»Danke für den Schinken«, flüsterte Julien mit schlechtem Gewissen. »Aber wovon werdet ihr leben?«

»Es wird schon gehen, Junge. Ich werde nach Melun fahren, wo Onkel Richard, wie du weißt, einen Bauernhof hat. Jetzt wird man bald aus der Stadt herauskönnen. Richard wird uns helfen. Wir werden schon durchkommen.«

»Der Schinken wird dafür sorgen, dass wir die nächsten Wochen überstehen«, sagte Julien dankbar. »Von wo wird das Schiff ablegen?«

»Keine Ahnung, Julien. Die Zeitungen berichten nichts über die Gefangenen.«

»Wahrscheinlich von St. Malo oder von Bordeaux«, mutmaßte Tessier. »Das wird eine lange Überfahrt werden.«

Der Abschied von den Eltern war schmerzlich und Julien fragte sich, ob er sie je wiedersehen würde. Wenn es stimmte, was Tessier erzählt hatte, war dies sehr unwahrscheinlich.

Als sie am nächsten Tag in langen Kolonnen zum Gare du Nord geführt wurden, glaubte er in den Reihen der Zuschauer, die vor dem Bahnhof standen, auch Mercedes mit ihrem Vater und Auguste zu sehen. Unter Kolbenstößen wurden sie in den Bahnhof getrieben, wo man sie in Viehwagons verfrachtete, die viel zu viele von ihnen aufnehmen mussten. Tessier schaffte es, für sich und Julien den Platz unter einer kleinen Luke zu ergattern, wo sie frische Luft bekamen. Dann mussten sie stundenlang warten. Schon bald war es so stickig, dass einige ohnmächtig wurden. Für die Notdurft war nur ein Eimer da und manche schrien vor Verzweiflung, vor Scham oder weil sie keine Luft bekamen. Aber sie standen so dicht, dass niemand umfallen konnte. Tessier ertrug den Gestank und die schlechte Luft mit Gleichmut. Er war dies von früheren Gefängnisaufenthalten gewohnt.

Um Mitternacht setzte sich der Zug endlich in Bewegung. Draußen, so sah es Julien durch die Luke, schien ein heller Mond, so dass er gut erkennen konnte, wo die Stellungen der Preußen begannen, die die Stadt immer noch weiträumig in der Zange hielten.

Rattatat – rattatat – rattatat – ging es stundenlang einer ungewissen Zukunft entgegen. Viele von den Gefangenen wussten nicht einmal, wohin es ging.

Rattatat – rattatat – rattatat – hämmerte es in Juliens Kopf. Immer wieder tauchten Bilder aus den Tagen auf, in denen er glücklich gewesen war. Er sah sich als Kind auf dem Bauernhof des Onkels den Kühen hinterherlaufen, durchlebte wieder die Tage, als Auguste ihn einen Ladenschwengel nannte, und schließlich das Glück seiner Hochzeitsnacht, die ein Nachmittag war.

Rattatat – rattatat – rattatat. Was würde nun aus ihm werden? Wenn er Tessiers Geschichten ernst nahm, würde er nie mehr glücklich sein und war bereits am Ende seines Lebens angelangt.

Rattatat – rattatat – rattatat …

Der Palast der unsterblichen Dichter. Das größte Abenteuer seit Dumas' Monte Christo

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