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3.2 Tiermodelle – die experimentelle autoimmune (allergische) Enzephalomyelitis
ОглавлениеViele Hypothesen zur Pathogenese und Therapie der MS entstammen Tiermodellen (Wekerle et al. 1994). Von besonderer Relevanz für die MS sind die Befunde bei der experimentellen autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE) (Gold et al. 2006). Dabei existieren unterschiedliche Modelle. Durch die Immunisierung mit verschiedenen Myelin-Antigenen (z. B. basisches Myelinprotein, MBP; Proteolipid-Protein, PLP; Myelin Oligodendrozyten-Glykoprotein, MOG) zusammen mit Adjuvans (in der Regel abgetötetes mykobakterielles Extrakt vermischt mit Mineralöl [komplettes Freund’s Adjuvans] oder CpG DNS) kann in unterschiedlichen Tierspezies (Mäuse, Ratten, Meerschweinchen, Rhesusaffen, Marmosets) eine akut oder chronisch verlaufende (Enzephalo-)Myelitis induziert werden. Neben diesen Verfahren gibt es auch Verfahren mit passivem Transfer von T-Zellen, Mischformen und Versuche mit transgenen Tieren. Durch das Adjuvans kommt es zu einer starken phagozytischen Aktivität und Antigenpräsentation, die wiederum zu einer Aktivierung von CD4+-T-Zellen führt. Die histopathologischen Veränderungen im ZNS der erkrankten Tiere ähneln in vielen Aspekten der MS. Das gilt vor allem für die mit dem Myelin-Bestandteil MOG in Makaken und Ratten aktiv induzierte EAE (Genain et al. 1995; Weissert et al. 1998). Neben einer Entzündung und Entmarkung weisen die Tiere auch einen Axonverlust auf (Kornek et al. 2000). Es findet sich eine kombinierte T-Zell- und antikörpervermittelte Pathogenese mit MS-typischen Läsionen, die sehr mit bestimmten pathologischen Charakteristika der MS übereinstimmt (Lucchinetti et al. 2000). Neben bestimmten mit MOG immunisierten Rattenstämmen (Storch et al. 1998) entwickeln auch Mäuse, die einen transgenen T-Zellrezeptor für MOG haben, eine Neuritis des Nervus opticus (Bettelli et al. 2006). Weiterhin wurde aus einer Kombination aus antigenspezifischen B- und T-Zellen eine Maus generiert, die viele Aspekte der Neuromyelitis optica reproduziert (Krishnamoorthy et al. 2006; Bettelli et al. 2006). Ein »spontanes« Modell spiegelt sogar den schubförmigen Verlauf der MS in SJL-Mäusen wider (Pöllinger et al. 2009).
Bestimmte Formen der EAE können auch allein durch den Transfer autoreaktiver myelinspezifischer T-Zellen von einem erkrankten auf ein gesundes Tier passiv übertragen werden. Diese Zellen sind vom CD4+-TH-Zelltyp (TH = T-Helferzelle) und haben in aller Regel einen TH1-Phänotyp, der durch das Vorhandensein proinflammatorischer Zytokine wie Interferon (IFN)-γ oder Tumor-Nekrose-Faktor (TNF)-α/β gekennzeichnet ist. Es gibt auch demyelinisierende Erkrankungen im Tier, die durch Viren hervorgerufen werden (»canine-distemper«-Virus oder Theiler-Virus). Obwohl alle Tiermodelle sich als äußerst wertvoll zur Untersuchung einzelner Mechanismen der ZNS-Entzündung oder gar der Neurodegeneration erwiesen haben und auch zweifelsfrei einen wichtigen Bestandteil der Entwicklung neuer Therapiestrategien der MS darstellen, ist auch klar, dass keines der genannten Modelle die MS-Erkrankung in all ihren Facetten widerspiegeln kann. Dies wird insbesondere klar, wenn man sich die zum Teil äußerst diskrepanten Ergebnisse von Therapiestudien im Tiermodell und bei MS-Patienten vor Augen hält. Zunehmend rücken die B-Zellen und die CD8+-T-Zellen in den Fokus der Untersuchungen; sie wurden bislang in den EAE-Modellen nicht ausreichend berücksichtigt (Lassmann und Brandl 2017). Weiterhin müssen mögliche toxische und degenerative Aspekte der MS besser im Tiermodell abgebildet werden. Ergebnisse im Tiermodell sind häufig ermutigend, eine Übertragbarkeit auf den Menschen ist jedoch leider nicht einfach möglich (Hohlfeld und Wiendl 2001; Lassmann und Brandl 2017).