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Stellingen, 1912

Das Beduinendorf war der Realität naturgetreu nachempfunden worden. Die Gruppe hatte man aufgeteilt. Ein Teil der Männer sollte bei einem Schauspiel mitwirken, die als bewaffnete Reiter das Beduinendorf überfielen. Während der restlichen Zeit, in der dieses Schauspiel nicht aufgeführt wurde, sollte das Leben in einem Beduinendorf in Ägypten dargestellt werden. Verschiedene Berufe wurden den Besuchern anschaulich dargestellt. Die während dieser Arbeit gefertigten Dinge konnten von den Besuchern käuflich erworben werden.

Als sie in Ägypten angeworben wurden, war nachgefragt worden, welches Handwerk sie beherrschten. Masut hatte angegeben, dass Glasbläserhandwerk zu beherrschen. Dies stimmte nicht ganz. Sein Onkel war Glasbläser gewesen und er hatte oft in dessen Werkstatt zugebracht und manchmal auch geholfen, doch wirklich beherrschen tat er die Kunst des Glasblasens nicht. Als Assistent wäre er eine Hilfe. So war schließlich auch entschieden worden. Und wenn er sich nicht zu dumm anstellte, musste er nicht fürchten, als Schlangenbeschwörer zu enden. Er hasste Schlangen und fürchtete sich vor ihnen.

Rasch füllte sich das Beduinendorf mit Leben. Alle waren an die ihnen zugewiesenen Arbeiten gegangen. Backten Brot, stellten Anhänger her oder beschwörten Schlangen.

Johann hatte sich rechtzeitig vor dem Verteilen der Arbeiten geflüchtet. Wie sollte er sich verständigen, wenn Masut nicht in seiner Nähe war? Einige Brocken Arabisch beherrschte er, doch das reichte nicht aus. Die ganze Zeit konnte er sich nicht verstecken, weshalb sein ägyptischer Freund entschieden hatte, ihn zu Handlangerdiensten in der Glasbläserwerkstatt einzuteilen. Er sollte dem Meister zur Hand gehen, ihm Wasser holen und das Feuer schüren. Masut hatte so ein Auge auf ihn und konnte mitunter helfen, wenn es zu Sprachschwierigkeiten kommen würde. Wenn es ihm möglich war, sollte sich Johann draußen vor der Werkstatt aufhalten. Die Hitze, die im Inneren vor den Öfen herrschen würde, wäre für die aufgetragene Gesichtsfarbe des eigentlich hellhäutigen Jungen abträglich. Der Schweiß würde ihm in Flüssen das Gesicht hinunter rinnen und seine wahre Identität preisgeben. Vielleicht war es möglich, dass der blonde Junge irgendwann die fertig gestellten Gläser und die Anhänger aus der Schmiede verkaufen konnte.

Masut wollte es nicht wahrhaben, doch langsam erwies sich Johann als Klotz am Bein. Anfangs hatte es ihn gefreut mit jemandem Reden zu können, der ihm nicht misstraute. Seitdem sie allerdings das Schiff verlassen hatten und Johann sich als Ägypter ausgab, mussten sie immer aufpassen, dass das Versteckspiel nicht aufflog. Kein falsches Wort, keine falsche Geste, keine falsche Bewegung. Alles wurde beobachtet. Nie war man wirklich allein. Masut hatte sich das anders vorgestellt, nicht so kompliziert. Es war noch nicht einmal eine Woche vergangen und Masut ertappte sich oft dabei, wie er sich wünschte, er hätte Johann nicht gebeten, ihn zu begleiten. Doch es ließ sich nicht mehr rückgängig machen und vor den Kopf wollte er seinen blonden Freund auch nicht stoßen. Allerdings konnte es auf Dauer nicht so weitergehen. Er musste sich etwas einfallen lassen, bevor das Versteckspiel aufflog.

Erschwert wurde das Versteckspiel durch einen ständig auftauchenden Tierpfleger, der immer wieder wie zufällig vorbeikam. Masut wurde das Gefühl nicht los, dass dieser junge Mann ihn beobachtete. War er hinter das Geheimnis gekommen? Es konnte unmöglich sein, außer seine Landsleute hatten es bemerkt und weitergegeben. Sie waren Johann gegenüber misstrauisch, mieden ihn und Masut. Dennoch schien es unmöglich, dass sie etwas bemerkt hatten. Er durfte sich den Kopf nicht weiter darüber zerbrechen, sonst würde noch wahr werden, was er fürchtete. Aus demselben Grund dachte er auch nicht an den Inhalt des Krugs, an seine Vorfahren und Verwandten.

Für die gefährlichen Gegenstände hatte er noch keinen Plan entwickelt, was genau mit ihnen geschehen sollte. Er wollte beides an einem sicheren Ort verstecken.

Nach ihrer Ankunft und der medizinischen Untersuchung waren sie im Tierpark herumgeführt worden. Sie hatten die wilden Tiere bestaunt, die nur wenige Meter von ihnen entfernt lebten. Johann hatte ihm erzählt, dass hier die Tiere nicht hinter Gittern leben würden, wie es in anderen Zoos sei. Das hatte Masut Angst gemacht, doch sein Freund beruhigte ihn. Noch nie habe ein Tiger oder Löwe sein Gehege verlassen und sei auf die Besucherseite gesprungen. Auch wenn kein Gitter vorhanden sei, könnten die Tiere nicht ihr Gehege verlassen. Das beruhigte den jungen Ägypter ungemein.

Besondere Aufmerksamkeit erregten die Felsenbauten. Masut konnte sich nicht vorstellen, dass es kein wirklicher Fels sein sollte. Wie war so was möglich? Das musste Zauberei sein, ein Wunderwerk Gottes. Wie sonst war es möglich, so etwas Gewaltiges errichten zu können? In seinem Heimatland standen auch gewaltige Bauten, die vor ewigen Zeiten erbaut worden waren. Vielleicht hatten auch seine Vorfahren an den Bauten mitgewirkt, doch ohne die helfende Hand der Götter hätten die Bauten nie fertiggestellt werden können. Das war einfach unmöglich. Wie sollten Menschen solch eine Leistung vollbringen, wenn nicht mit Hilfe der Götter?

Seit dem Tag war der junge Ägypter nicht mehr aus dem Dorf herausgekommen. Die Arbeit war hart und anstrengend. Abends fiel er müde auf sein Schlaflager, den Krug mit der Kette als unbequemes Kopfkissen, und schlief sofort ein. Jeden Tag kamen Besucher vorbei, warfen kurz einen Blick in die Glasbläserhütte und gingen weiter zur nächsten Station. Das Dorf war für die Besucher als Rundgang angelegt worden und bot einen Blick in das idyllische Alltagsleben eines ägyptischen Beduinendorfes. Wie man sich den Alltag eben in Europa vorstellte.

Die Felsenkonstruktionen gingen Masut nicht mehr aus dem Kopf. Sie übten eine magische Anziehungskraft auf ihn aus, die er sich nicht erklären konnte. Doch er fand nicht die Zeit, das Völkerschau-Gelände zu verlassen, um sich die Felsen anzusehen.

Sie lebten in diesem nachgestellten Dorf am Fuße der Pyramiden und eines großen Tempels, der sich im Lande der Nubier befindet. Ein gewisser Ramses sollte diesen erbaut haben. Angeblich sollten diese Bauten wirklichkeitsgetreu nachgebaut worden sein, nur etwas kleiner und nicht so imposant. Die Besucher jedenfalls schienen sich wie in Ägypten zu fühlen. Masut konnte darüber nur lachen. Bloß weil sie ägyptische Bauten sahen und sie an dem Dorfleben für einen kurzen Augenblick teilnehmen konnten, befanden sie sich in Ägypten? Was wussten diese Menschen schon von ihnen? Von ihrem wahren Leben? Von ihren Problemen? Darüber erfuhren sie nichts, doch es war auch gar nicht gewollt.

Ein kurzer Moment, um in eine fremde exotische Welt einzutauchen. Eine Attraktion, die sich jeder leisten konnte. Man musste nicht erst eine teure und anstrengende Reise in ferne Welten antreten, um so etwas zu sehen, wie man es hier sah. Eine Reise in ferne Welten, direkt vor der Haustür. Alle paar Monate etwas Neues. Es durfte nicht langweilen. Deshalb gab es zweimal am Tag ein Spektakel für die Zuschauer: Überfall auf das Beduinendorf.

Was sollte aber nun mit Johann geschehen? Sollte er weiter den Ägypter spielen oder als er selbst in der Gruppe bleiben?

"Wo ist dieser Wasserträger?", rief der Glasbläser ärgerlich und trat gegen den leeren Wassereimer.

Masut sah sich schnell in der Hütte um und blickte nach draußen. Johann war nicht zu sehen. Wortlos nahm er den Eimer, verließ die Werkstatt und suchte den Brunnen auf. Während er den Eimer voll Wasser füllte, nahm er aus seinem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Als er aufsah, ließ er vor Schreck den Eimer fallen. Das Wasser ergoss sich auf dem Boden und versickerte langsam in der Erde bis es eine nasse Fläche hinterließ.

"Johann, was tust du?"

Vor Masut stand nicht der als Ägypter verkleidete Johann, sondern der blonde Junge, den er auf dem Schiff kennen gelernt hatte.

"Ich will mir die Tiere ansehen. Immer nur Wasser schleppen und sich in Acht nehmen, nicht von den anderen denunziert zu werden, weil sie entdeckt haben, dass ich mich eingeschmuggelt habe, will ich nicht."

"Denunzieren? Was ist das?" Masut verstand nicht, was sein Freund ihm sagen wollte. Nur dass dieser sich vor der Arbeit drückte, war ihm klar.

"Ich meinte, dass deine Leute entdecken, dass ich keiner von ihnen bin, weshalb sie mich verraten."

"So wie du rumläufst, werden sie das tun. Denk nach!"

"Lass mich!", sagte Johann beleidigt und lief los, bevor der junge Ägypter etwas erwidern konnte. Kopfschüttelnd sah Masut ihm nach. Er hatte kein gutes Gefühl bei dem Ausflug, nichtsahnend, dass er und Johann beobachtet worden waren.

Die Rollen des Seth

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