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ОглавлениеHamburg-Altona, Mai 2009
Gähnend stieg Isis aus der S-Bahn. Vergangene Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Die Ungewissheit, ob sie das höchste Gebot abgegeben hatte, hatte sich negativ auf ihren Schlaf ausgewirkt. Die ganze Nacht hatte sie sich hin- und hergewälzt, versucht zu schlafen, doch immer nur gingen ihr die Gegenstände durch den Kopf. Würde sie den Zuschlag erhalten? Hatte niemand mehr geboten?
Gestern war ein Feiertag gewesen: 1. Mai - Tag der Arbeit -, und sie hatte nicht den Ort aufsuchen können, wo sie ihr Gebot abgegeben hatte und in der anonymen Masse unterging. Heute nun hatten die Geschäfte wieder geöffnet. Sie würde endlich erfahren, ob sie den Zuschlag erhalten hatte.
Isis hatte den Bahnhof verlassen, war die Treppe hochgegangen, hatte die Straße überquert und ging wackelig langsam über das Kopfsteinpflaster. Obwohl sie flache Schuhe trug, fürchtete sie bei jedem Schritt mit dem Fuß umzuknicken.
Als sie das Einkaufszentrum betrat, schob sie automatisch ihre Mütze tiefer ins Gesicht. Sie hatte sich wieder eine der alten Brillen von Karla geliehen, die diese nie getragen hatte und die allesamt einen schiefen Bügel besaßen, weil sich irgendjemand einmal auf sie gesetzt hatte. Isis hatte die Schraube festgezogen und den Bügel, so gut es ging, begradigt. Nun saß das Gestell nicht mehr so schief vor ihren Augen, dennoch hatte Isis das Gefühl, die Brille würde ihr im nächsten Augenblick von der Nase rutschen.
Der Internetzugang war besetzt, weshalb sie langsam daran vorbeiging, an den Läden vorbeischlenderte und mitten durch den Markt den Rückweg antrat. Der Internetzugang war gerade frei geworden. Schnellen Schrittes ging Isis auf den Computer zu, öffnete ein neues Fenster und gab die Adresse des Forums ein.
Sie hatte gerade auf Enter gedrückt, als sich eine Armlänge entfernt eine genervt wirkende Frau stellte. Blonde Haare, Pferdeschwanz, etwas älter als Isis. Bedrängt und misstrauisch betrachtete Isis die Frau aus ihren Augenwinkeln, ließ sich ansonsten nichts anmerken. Zu der Frau gesellte sich eine weitere. Dunkle kurze Haare, dickes Gesicht, Brille, etwa 50 oder älter. Die beiden Frauen unterhielten sich. Waren es Freundinnen, Bekannte? Nein, dem war nicht so. Sie schienen Isis zu missgönnen, dass sie an dem Computer war und im Internet surfte. Sie war gerade erst hingegangen, bevor die erste Frau aufgetaucht war und sich darüber aufgeregt hatte, dass Isis sich im Internet befand.
Der jungen Archäologin gefiel es nicht, dass sie beobachtet wurde, weshalb sie sich nicht in das Forum einloggte, sondern den Emailanbieter eingab und sich unter dem Benutzernamen einloggte, für den sie ein Konto erstellt hatte. Sie hatte eine Nachricht bekommen, die direkt an ihre Emailadresse gegangen war. War dies nun die Nachricht, dass sie den Zuschlag bekommen hatte?
„Betreff: Angebot“, las sie leise und klickte auf die Nachricht. Diese öffnete sich in einem neuen Fenster. Isis wagte im ersten Moment nicht hinzusehen und hielt die Augen für wenige Sekunden geschlossen. Dann erst wagte sie die Nachricht zu lesen.
Glückwunsch! Die Summe stimmt. Treffpunkt zur Übergabe?
Isis presste die Lippen aufeinander, damit ihr nicht ein Freudenschrei entwich, mit dem sie nur unnötig Aufmerksamkeit erregt hätte. So verzog sie nur kurz den Mund und setzte anschließend wieder die unbewegte Miene auf.
Die Vase und die Kette sollten ihr gehören - ihr allein. Professor Winter würde toben, wenn er erfahren würde, dass sie seine Gegenstände ersteigert hätte. Doch er würde auch so toben, weil er leer ausgegangen war, dessen war sie sich sicher. Sollte er ruhig zürnen, sie hatte alle nötigen Vorrichtungen getroffen, das die Spur sich nicht zu ihr zurückverfolgen ließ.
Die Stimmen der beiden Frauen schallten zu ihr herüber. Diese unverschämten Nervensägen hatte sie ganz vergessen. Wahrscheinlich lungerten sie immer noch auf dem gleichen Platz dicht neben ihr und beobachteten sie argwöhnisch. Sie hatte noch mindestens zehn Minuten, aber selbst die wurden ihr nicht gegönnt.
Wo sollte sie sich mit dem Anbieter der Gegenstände treffen? Ein geeigneter Ort musste gefunden werden. Doch wo sollte der sein? Übersichtlich musste er sein, dennoch anonym und gut erreichbar. Isis überlegte nicht lange hin und her, sondern wählte den Weg um die Alster als Treffpunkt. Gut überschaubar, eine Flucht wäre unmöglich, die Verfolgung gegeben, falls sie hereingelegt werden sollte und der mysteriöse Anbieter mit ihrem Geld abhauen würde.
Mona und Karla sollten ihr bei der Übergabe helfen. Die beiden würde es nicht erfreuen, doch sie schuldeten Isis noch einen Gefallen, schließlich ertrug sie die beiden seit fünf Jahren in ihrem Haus. Zudem hatte sie sich in den Kopf gesetzt, sich das Geld irgendwie zurückzuholen. 3000 Euro waren eine Menge Geld, für die sie zwar nicht hatte hart arbeiten müssen, doch sie konnte das Geld nicht entbehren. Neue Fenster mussten gekauft und das halbe Haus neu gestrichen werden. Das würde einiges kosten, weshalb sie das Geld, welches sie ausgeben sollte, brauchte. Sie hob so ungern Geld vom Konto ab, sah lieber zu, wie es sich regelmäßig vermehrte. Wer weiß, was ihr da einfallen würde. Aber das Geld würde sie sich zurückholen. Kosten es, was da wolle. Vielleicht würde Karla etwas einfallen. Mit ihren Genen würde sie die nötige kriminelle Energie aufbringen können. Ihre Freundin selbst war zwar alles andere als kriminell, doch ihre Vorfahren stammten aus einem Land, wo angeblich die Hälfte der Landesbewohner Autos klauen oder aufbrechen würde. Das Klischee würde noch ewig bestehen. Mona und Isis zogen Karla deswegen gerne auf, was die nur mit trockenen Sprüchen kommentierte, oft aber auch selbst zum Besten gab.
Treffpunkt Dienstag, 11.11 Uhr, Alte Rabenstraße/Alsterufer, schrieb Isis in die E-Mail. Doch wie sollte das Erkennungszeichen aussehen? In ihre Überlegungen mischten sich die Stimmen von nun inzwischen drei Frauen, die ihr immer noch den Platz an der Internetstation missgönnten. Isis warf ihnen einen bösen Seitenblick zu und schrieb dann das Erkennungszeichen in die Mail. Eine knallblaue Tragetasche, ähnlich der eines bekannten schwedischen Möbelhauses, würde sie dabeihaben und dort die Gegenstände verstauen bis sie diese sicher in ihr Auto gebracht hatte.
Isis schickte die Nachricht ab, loggte sich aus und schloss die Seite. Kurz überlegte sie, ob sie noch irgendetwas anderes überprüfen sollte, doch sie hatte keine Lust sich mit den missgünstigen Schnepfen anzulegen. Nicht dass die sich später noch an ihr Gesicht erinnern könnten. Das wollte sie nicht riskieren. Deshalb öffnete sie keine neue Seite, sondern entfernte sich schnell Richtung Edeka. Um aber nicht von irgendwelchen Überwachungskameras erfasst zu werden, bog sie nach der Rolltreppe scharf nach links ab und ging wieder durch den Markt. Dann entschwand sie durch den zweiten Eingang, entledigte sich ihrer Mütze und Brille und strebte dem Bahnhof zu.
Heute war ein schöner Tag, befand Isis und pfiff fröhlich ein Lied. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit fuhr sie nicht sofort nach Hause, sondern steuerte das nächste Elektronikfachgeschäft an.